Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Management neuropathischer Schmerzen
Ein erfahrungs- und evidenzbasierter Behandlungsalgorithmus

Neurophysiologische Untersuchungstechniken wie die Bestimmung von sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG), Elektromyografie (EMG) und die Ableitung sensibler und motorischer evozierter Potenziale (sSEP, MEP) dienen dem Nachweis und der Lokalisation einer Erkrankung des somatosensorischen Systems. Dünn oder nicht myelinisierte, schmerzleitende Leitungsbahnen werden von diesen Verfahren jedoch nicht erfasst. Ein unauffälliger Befund schließt ein neuropathisches Schmerzsyndrom auf Grundlage einer somatosensorischen Läsion nicht aus. Die Ableitung evozierter Potentiale nach Stimulation dünn myelinisierter A?-Fasern wie z.B. Laser-evozierte Potenziale (LEP) bietet die Möglichkeit, diese Lücke zu verengen.

Bildgebende Verfahren wie die Kernspintomografie und nicht zuletzt die Nervensonografie dienen der Identifikation pathologischer, morphologischer Veränderungen. Entscheidend ist die gezielte Indikationsstellung, Fragestellung und Befundinterpretation.

Zusammenfassend ruht die Diagnostik neuropathischer Schmerzen im klinischen Alltag maßgeblich auf ärztlicher Kenntnis sowie einer sorgfältigen Anamnese und körperlichen Untersuchung. Validierte Fragebögen zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit neuropathischer Schmerzen sind hierbei einfache und effiziente Hilfsmittel. Apperative Diagnostik kann die Diagnosefindung stützen.

Therapie neuropathischer Schmerzen

Die Therapieoptionen neuropathischer Schmerzen sind zunächst grob in kausale kurative und symptomatische Therapien zu unterteilen. Liegt eine kausale Pathologie mit kurativer Therapierbarkeit vor, besteht die Option mit der Ursache auch die neuropathischen Schmerzen entsprechend zu behandeln. Als klassisches Beispiel hierfür sind operative Behandlungsmöglichkeiten der Nervenengpasssyndrome und Nervenwurzelkompressionssyndrome zu nennen.

Besteht keine kausale Therapieoption wie bei der Post-Zoster-Neuralgie oder war der kurative Therapieansatz erfolglos, bleibt die symptomatische Behandlung.

Aufgrund der Heterogenität neuropathischer Schmerzsyndrome und Limitierungen der Pharmakotherapie hinsichtlich Verträglichkeit und Effektivität gilt die individuell erfolgreiche Behandlung als schwierig. Die Vereinbarung realistischer Therapieziele setzt die Aufklärung über das Wesen des Schmerztyps, Therapieeffektivität und -nebenwirkungen voraus. Die Edukation der Patientin/des Patienten sollte ein essentieller Bestandteil des therapeutischen Prozesses sein. Gerade im chronischen Verlauf verhindert die Erkenntnis und Einsicht der Betroffenen, dass die Hoffnung auf eine kurative Behandlung nicht erfüllbar ist, das Risiko für Übertherapie und Überdiagnostik durch Ärztehopping und fördert Therapiemotivation und -adhärenz. Als realistische Therapieziele der konservativen, nicht interventionellen Behandlung werden Schmerzreduktion um 30–50 %, Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität, Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und des sozialen Gefüges formuliert [22]. Regelmäßige, zeitweise auch engmaschige Kontrollen des klinischen Verlaufes mit Anpassung der Therapie sind notwendig und begründen einen aufwendigen therapeutischen Prozess, der in der aktuellen vor allem ambulanten Versorgungssituation in Deutschland leider ungenügend abgebildet ist. Insbesondere bei Änderungen des Schmerzbildes ist eine diagnostische Reevaluation unumgänglich, um neue Erkrankungen nicht zu übersehen und ggf. doch eine Schmerzursache mit kurativem Therapiepotenzial zu finden.

Vorhandene Leitlinien u.a. der DGN und der EFNS nennen als Therapieprinzip eine zentrale Pharmakotherapie, um die sich in Abhängigkeit vom Behandlungsverlauf weitere Therapiemaßnahmen im Sinne einer multimodalen, interdisziplinären Behandlung gruppieren [22]. Dem biopsychosozialen Krankheitsmodell des chronischen Schmerzes folgend, ruht die Therapie neuropathischer Schmerzen diesen Leitlinien gemäß auf 3 Säulen: Pharmakotherapie, Psychotherapie, physikalische und Ergotherapie.

Die symptomatische Therapie neuropathischer Schmerzen sollte jedoch auf 3 Säulen ruhen. Die 4. Säule beinhaltet die interventionelle Schmerztherapie, zu der maßgeblich neuromodulative Verfahren wie z.B. die epidurale Rückenmarksstimulation gehören. Sie sollte integraler Bestandteil eines effizienten Therapiealgorithmus des neuropathischen Schmerzes sein, der es nicht dem Zufall überlässt, ob der therapierefraktär Betroffene Zugang zu einer wirksamen und evidenzbasierten Therapie erhält.

Pharmakotherapie
neuropathischer Schmerzen

Die aktuellen Empfehlungen zur Pharmakotherapie sehen als Mittel der 1. Wahl die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin, trizyklische Antidepressiva wie z.B. Amitryptilin und selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Duloxetin als Mono- und Kombinationstherapie vor. Capsaicin- und Lidocainpflaster sowie Botox-A-Injektionen können bei peripher neuropathischen Schmerzen sinnvolle Ergänzung sein. Tabelle 2 gibt einen Überblick über Medikation, Dosierungen, häufige Nebenwirkungen und Therapieeffektivität (Tab. 2).

Während der Einsatz von Opiaten der WHO-Stufen 2 und 3 in den o.g. Leitlinien noch ubiquitär als möglich und z.T. sinnvoll angesehen wurde, zeichnet sich hier in jüngsten Publikationen ein Paradigmenwechsel ab. 2016 und 2017 erschienen Cochrane-Reviews zum Einsatz von verschiedensten Opiaten zur Behandlung neuropathischer Schmerzen mit der eindeutigen Aussage, dass für die Wirksamkeit dieser Substanzen bei neuropathischen Schmerzen keine oder wie ausschließlich im Fall des Tramadols nur sehr schwache Evidenz vorliegt [23–25]. Aktuelle Leitlinien empfehlen lediglich die kurzzeitige Behandlung. Dies steht tatsächlich in deutlichem Gegensatz zur aktuellen Verordnungspraxis in Deutschland.

Psychotherapie in der
Behandlung neuropathischer Schmerzen

Neuropathische Schmerzen mit hoher Schmerzintensität, quälendem Charakter, rascher Chronifizierung und häufiger Therapieresistenz erzeugen mit hoher Wahrscheinlichkeit psychische Komorbidität wie Depression und Angststörungen. Bei Betroffenen mit vorbestehenden Psychopathologien kommt es zur wechselseitigen Aggravation. Im stationären Setting ist die Psychotherapie essentieller Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie, auch ambulant ist sie je nach Erkrankungsschwere und -dauer sinnvoll und indiziert, um Somatisierungsstörungen vorzubeugen oder sie zu behandeln. Insbesondere Schmerzpatientinnen/-patienten mit nicht konklusivem Befund sollten diesbezüglich exploriert werden, nicht zuletzt, da interventionelle schmerztherapeutische Maßnahmen leitliniengemäß kontraindiziert sind. Kontrollierte Studien und Metaanalysen zur Effektivität der Psychotherapie in der Behandlung neuropathischer Schmerzen fehlen. Untersuchungen zum Einsatz psychotherapeutischer Maßnahmen bei anderen chronischen schmerzhaften Erkrankungen wie Fibromyalgie und rheumatoider Arthritis zeigen langfristig eine moderate Verbesserung in Bezug auf Krankheitsbewältigung, körperliche Aktivität und Verhalten [26].

Physio- und Ergotherapie in der Therapie neuropathischer Schmerzen

Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit physiotherapeutischer und vor allem ergotherapeutischer Maßnahmen sind auf Leitlinienebene allgemein akzeptiert. Da insbesondere neuropathische Schmerzen mit einem raschen Funktionsverlust, verschärft durch Negativsymptome wie Hypästhesie und Paresen, assoziiert sind, dient dieser Therapiebereich nicht nur der Schmerzlinderung sondern auch dem Funktionserhalt bzw. der Funktionswiederherstellung. Fehlregulation und Schonhaltung sind bei neuropathischen Schmerzen Quelle für Folgeprobleme und Schmerzausbreitung. Zudem haben physiotherapeutische Interventionen wie z.B. Lymphdrainagetechniken, in bestimmten Krankheitsbildern die Potenz über die Verbesserung der Mikrozirkulation, eine Progression oder Aggravation neuropathischer Schmerzzustände zu verzögern oder aufzuhalten. Anzunehmen ist in Analogie zur Psychotherapie, dass erst eine langfristige und regelmäßige physiotherapeutische Betreuung relevante Effekte hat. Im Versorgungsalltag des deutschen Gesundheitswesens ist dieser besondere Versorgungsbedarf nicht abgebildet. Kontrollierte Studien mit Aussagen über Effektstärke und Kosteneffektivität physiotherapeutischer Maßnahmen fehlen auch hier.

Interventionelle und
neuromodulative Therapien

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5