Originalarbeiten - OUP 01/2016

Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse Schulterendoprothetik mittels TESS-System: Ein sinnvolles Konzept?

Lars V. von Engelhardt1,2 Michael Manzke2,3, Timm J. Filler3, Jörg Jerosch2

Zusammenfassung: Die Schulterendoprothetik kann mittlerweile auf mehrere Generationen verschiedener Designs zurückblicken. Neuere Designs wie das TESS Schultersystem bedienen sich einer peripher metaphysären, also kortikalisnahen Verankerung im proximalen Humerus. Hiermit wird Knochensubstanz für weitere Eingriffe geschont. Zudem sollen typische Probleme der Schaftprothesen vermieden werden. Auch soll das TESS-System eine gute Revisionsfähigkeit und eine hohe Modularität zur schonenden Konvertierung von einer anatomischen in eine inverse Variante ermöglichen. Aufgrund der intraoperativen Orientierung am anatomischen Hals erhofft man sich bei der anatomischen TESS eine zuverlässige Wiederherstellung der individuellen Gelenkgeometrie. Hingegen sollte die inverse Versorgung eine adäquate Distalisierung und Medialisierung von Humerus und Rotationszentrum ermöglichen. Dies soll die für die inverse Prothetik typischen und funktionell günstigen Änderungen von Hebelarm und Vorspannung des Deltamuskels ermöglichen.

In diesem Artikel sollen anhand eigener Untersuchungen und der aktuellen Studienlage die Veränderungen der Gelenkgeometrie, das klinisches Outcome und die Sicherheit der humeralen Fixierung der TESS-Prothese beschrieben werden.

Schlüsselwörter: Anatomischer Schultergelenkersatz, inverse Schulterprothese, schaftfreier Schultergelenkersatz, Defektarthropathie, Omarthrose, Revisionsendoprothetik der Schulter

Zitierweise
von Engelhardt LV, Manzke M, Filler TJ, Jerosch J. Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse
Schulterendoprothetik mittels TESS System: Ein sinnvolles Konzept?
OUP 2016; 1: 046–053 DOI 10.3238/oup.2015.0046–0053

Summary: The design of humeral implants for shoulder arthroplasty has evolved over several generations. Modern designs, such as the TESS shoulder system, use a peripheral metaphyseal anchoring close to the cortical bone of the proximal humerus. This design preserves bone stock for future prosthetic intervention. Additionally, typical problems of stemmed implants may be avoided. The TESS system also provides a high modularity with improved capabilities in salvaging failed arthroplasties. This allows a preserving conversion from an anatomical to an inversed implant. As the implantation of the anatomical TESS is oriented on the anatomical neck, a reliable reconstruction of the individual joint geometry might be easily achievable. In contrast, reversed arthroplasty is characterized by an adequate distalization and medialization of the humerus and the center of rotation. This should provide the typical and desired functional changes with an elevated lever arm and tension of the deltoid muscle.

On the basis of own observations and current study data, changes of the joint geometry, the clinical outcome, and the reliability of the humeral fixation of the TESS implant system are described in this article.

Keywords: anatomical shoulder replacement, reversed shoulder replacement, stemless shoulder arthroplasty, cuff tear arthropathy, omarthrosis, shoulder revision arthroplasty

Citation
von Engelhardt LV, Manzke M, Filler TJ, Jerosch J. Modular, stemless, metaphyseal press-fit fixated anatomical and reversed shoulder
arthroplasty using the TESS system: a reasonable concept?
OUP 2016; 1: 046–053 DOI 10.3238/oup.2015.0046–0053

Einleitung

Neben der vielerorts bereits etablierten schaftfreien, anatomischen Schulterprothetik findet auch die schaftfreie inverse Schulterendoprothetik eine zunehmende Verbreitung. Obwohl dieses Konzept aufgrund der eher geringen Studienlage für uns noch Neuland ist, sind im Bereich der inversen Schulterendoprothetik bereits 3 verschiedene schaftfreie Modelle auf dem Markt verfügbar. Unter den schaftfreien, inversen schulterendoprothetischen Anbietern ist das Total Evolutive Shoulder System (TESS) der Fa. Zimmer Biomet (Abb. 1), ein vergleichsweise gut untersuchtes System [1–5], das wir sowohl in der inversen (Abb. 2) und auch in der anatomischen endoprothetischen Versorgung (Abb. 3) recht häufig verwenden und mit entsprechenden Nachuntersuchungen begleitet haben. Mit diesem Artikel sollen die Vorteile, das klinische Outcome und die Sicherheit des Konzepts einer schaftfreien, metaphysären humeralen Verankerung mittels Corolla bzw. Inverscorolla beschrieben werden. Zudem soll die Frage geklärt werden, ob mittels der anatomischen TESS-Prothese eine Wiederherstellung der individuellen Gelenkgeometrie zuverlässig möglich ist, bzw. ob mit der schaftfreien inversen TESS auch eine suffiziente inverse Gelenkgeometrie erreicht werden kann.

Schaftfreie anatomische
Prothesen

Auch wenn moderne anatomische Stielendoprothesen in Grenzen eine individuelle Anpassung der Einstellung Kopfposition und Größe erlauben, so lässt sich das Problem der komplexen Geometrie zwischen Schaftachse und Humeruskopf am ehesten mit einem Oberflächenersatz umgehen. Das anfängliche Problem der von Levy und Copeland vorgestellten Modelle einer zementfreien Kappenprothese [6] war v.a. eine Offseterhöhung des Humeruskopfs. Hier zeigte sich häufig eine erhöhte Weichteilspannung mit einem entsprechend mäßigen klinischen Outcome und der Gefahr einer sekundären Glenoiderosion. Moderne Oberflächenersatzprothesen berücksichtigen dieses Problem und erlauben eine anatomiegerechte Implantation mit exakter Rekonstruktion von Drehzentrum und Offset. Entsprechend biomechanischer Untersuchungen können solche Oberflächenersatzprothesen die Gelenkgeometrie schließlich besser rekonstruieren als entsprechend junge Generationen modularer gestielter Endoprothesen [7]. Nachteil dieser kappenförmigen Oberflächenersatzprothesen ist der beschränkte Zugang zur Pfanne, der einen Glenoidersatz erheblich erschwert und die Komplikationsraten entsprechend deutlich erhöht. So wurden für Kappenprothesen in Kombination mit einem Glenoidersatz in über 15 % neurologische Ausfälle berichtet [8]. Aus diesem Grund sind Prothesen, die genauso wie die Kappen auf einen konventionellen Schaft verzichten, aber eine Resektion der Kalotte erlauben, eine logische Weiterentwicklung. Gerade in Anbetracht aktueller Daten, wonach der Glenoidersatz gegenüber der Hemiprothese im klinischen Outcome sowohl bei der Funktion als auch bei der Schmerzreduktion bessere Ergebnisse liefert [9–12], sind solche Kalotten-resizierenden, schaftfreien Prothesendesigns sinnvollerweise von großem Interesse. Aktuell erfolgte daher die Entwicklung einiger neuartiger Prothesen, die sich alle einer metaphysären Verankerung im proximalen Humerus bedienen. Nachdem sich all diese Prothesen bei der Implantation am anatomischen Hals orientieren, bieten gerade diese Systeme gute Möglichkeiten, die anatomische Gelenkgeometrie wiederherzustellen. Auch bieten diese schaftfreien, Kalotten-resizierenden Prothesen gegenüber den Schaftprothesen einige weitere nennenswerte Vorteile. So ist beispielsweise an den Revisionsfall einer Schaftprothese zu denken, bei dem ein ausgeprägter Knochenverlust am proximalen Humerus und die häufig notwendige Schaftfensterung durchaus zu erheblichen Problemen wie Frakturen, erforderlichen Langschaftendoprothesen etc. führen kann [13]. Demnach ist die Revisionsfreundlichkeit der schaftfreien Prothesen, die einfach und mit einem geringeren Knochenverlust entfernt werden können, ein wesentlicher Vorteil. Zudem ist hinzuzufügen, dass auch bei den Schaftsystemen die Rate von humeralen Lockerungen leider nicht vollständig zu vernachlässigen ist. So zeigte eine Multicenteranalyse eine Rate von aseptischen Prothesenschaftlockerungen von immerhin 6 % [14]. Zuletzt sind auch andere Schaft-assoziierte Komplikationen wie z.B. Frakturen, die insbesondere während, aber auch nach der Primärimplantation einer Schulterprothese gar nicht so selten auftreten [15, 16], durchaus auch Aspekte, die für eine schaftfreie Versorgung sprechen.

Schaftfreie inverse
Schulterendoprothetik

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