Originalarbeiten - OUP 01/2016

Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse Schulterendoprothetik mittels TESS-System: Ein sinnvolles Konzept?

Lars V. von Engelhardt1,2 Michael Manzke2,3, Timm J. Filler3, Jörg Jerosch2

Zusammenfassung: Die Schulterendoprothetik kann mittlerweile auf mehrere Generationen verschiedener Designs zurückblicken. Neuere Designs wie das TESS Schultersystem bedienen sich einer peripher metaphysären, also kortikalisnahen Verankerung im proximalen Humerus. Hiermit wird Knochensubstanz für weitere Eingriffe geschont. Zudem sollen typische Probleme der Schaftprothesen vermieden werden. Auch soll das TESS-System eine gute Revisionsfähigkeit und eine hohe Modularität zur schonenden Konvertierung von einer anatomischen in eine inverse Variante ermöglichen. Aufgrund der intraoperativen Orientierung am anatomischen Hals erhofft man sich bei der anatomischen TESS eine zuverlässige Wiederherstellung der individuellen Gelenkgeometrie. Hingegen sollte die inverse Versorgung eine adäquate Distalisierung und Medialisierung von Humerus und Rotationszentrum ermöglichen. Dies soll die für die inverse Prothetik typischen und funktionell günstigen Änderungen von Hebelarm und Vorspannung des Deltamuskels ermöglichen.

In diesem Artikel sollen anhand eigener Untersuchungen und der aktuellen Studienlage die Veränderungen der Gelenkgeometrie, das klinisches Outcome und die Sicherheit der humeralen Fixierung der TESS-Prothese beschrieben werden.

Schlüsselwörter: Anatomischer Schultergelenkersatz, inverse Schulterprothese, schaftfreier Schultergelenkersatz, Defektarthropathie, Omarthrose, Revisionsendoprothetik der Schulter

Zitierweise
von Engelhardt LV, Manzke M, Filler TJ, Jerosch J. Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse
Schulterendoprothetik mittels TESS System: Ein sinnvolles Konzept?
OUP 2016; 1: 046–053 DOI 10.3238/oup.2015.0046–0053

Summary: The design of humeral implants for shoulder arthroplasty has evolved over several generations. Modern designs, such as the TESS shoulder system, use a peripheral metaphyseal anchoring close to the cortical bone of the proximal humerus. This design preserves bone stock for future prosthetic intervention. Additionally, typical problems of stemmed implants may be avoided. The TESS system also provides a high modularity with improved capabilities in salvaging failed arthroplasties. This allows a preserving conversion from an anatomical to an inversed implant. As the implantation of the anatomical TESS is oriented on the anatomical neck, a reliable reconstruction of the individual joint geometry might be easily achievable. In contrast, reversed arthroplasty is characterized by an adequate distalization and medialization of the humerus and the center of rotation. This should provide the typical and desired functional changes with an elevated lever arm and tension of the deltoid muscle.

On the basis of own observations and current study data, changes of the joint geometry, the clinical outcome, and the reliability of the humeral fixation of the TESS implant system are described in this article.

Keywords: anatomical shoulder replacement, reversed shoulder replacement, stemless shoulder arthroplasty, cuff tear arthropathy, omarthrosis, shoulder revision arthroplasty

Citation
von Engelhardt LV, Manzke M, Filler TJ, Jerosch J. Modular, stemless, metaphyseal press-fit fixated anatomical and reversed shoulder
arthroplasty using the TESS system: a reasonable concept?
OUP 2016; 1: 046–053 DOI 10.3238/oup.2015.0046–0053

Einleitung

Neben der vielerorts bereits etablierten schaftfreien, anatomischen Schulterprothetik findet auch die schaftfreie inverse Schulterendoprothetik eine zunehmende Verbreitung. Obwohl dieses Konzept aufgrund der eher geringen Studienlage für uns noch Neuland ist, sind im Bereich der inversen Schulterendoprothetik bereits 3 verschiedene schaftfreie Modelle auf dem Markt verfügbar. Unter den schaftfreien, inversen schulterendoprothetischen Anbietern ist das Total Evolutive Shoulder System (TESS) der Fa. Zimmer Biomet (Abb. 1), ein vergleichsweise gut untersuchtes System [1–5], das wir sowohl in der inversen (Abb. 2) und auch in der anatomischen endoprothetischen Versorgung (Abb. 3) recht häufig verwenden und mit entsprechenden Nachuntersuchungen begleitet haben. Mit diesem Artikel sollen die Vorteile, das klinische Outcome und die Sicherheit des Konzepts einer schaftfreien, metaphysären humeralen Verankerung mittels Corolla bzw. Inverscorolla beschrieben werden. Zudem soll die Frage geklärt werden, ob mittels der anatomischen TESS-Prothese eine Wiederherstellung der individuellen Gelenkgeometrie zuverlässig möglich ist, bzw. ob mit der schaftfreien inversen TESS auch eine suffiziente inverse Gelenkgeometrie erreicht werden kann.

Schaftfreie anatomische
Prothesen

Auch wenn moderne anatomische Stielendoprothesen in Grenzen eine individuelle Anpassung der Einstellung Kopfposition und Größe erlauben, so lässt sich das Problem der komplexen Geometrie zwischen Schaftachse und Humeruskopf am ehesten mit einem Oberflächenersatz umgehen. Das anfängliche Problem der von Levy und Copeland vorgestellten Modelle einer zementfreien Kappenprothese [6] war v.a. eine Offseterhöhung des Humeruskopfs. Hier zeigte sich häufig eine erhöhte Weichteilspannung mit einem entsprechend mäßigen klinischen Outcome und der Gefahr einer sekundären Glenoiderosion. Moderne Oberflächenersatzprothesen berücksichtigen dieses Problem und erlauben eine anatomiegerechte Implantation mit exakter Rekonstruktion von Drehzentrum und Offset. Entsprechend biomechanischer Untersuchungen können solche Oberflächenersatzprothesen die Gelenkgeometrie schließlich besser rekonstruieren als entsprechend junge Generationen modularer gestielter Endoprothesen [7]. Nachteil dieser kappenförmigen Oberflächenersatzprothesen ist der beschränkte Zugang zur Pfanne, der einen Glenoidersatz erheblich erschwert und die Komplikationsraten entsprechend deutlich erhöht. So wurden für Kappenprothesen in Kombination mit einem Glenoidersatz in über 15 % neurologische Ausfälle berichtet [8]. Aus diesem Grund sind Prothesen, die genauso wie die Kappen auf einen konventionellen Schaft verzichten, aber eine Resektion der Kalotte erlauben, eine logische Weiterentwicklung. Gerade in Anbetracht aktueller Daten, wonach der Glenoidersatz gegenüber der Hemiprothese im klinischen Outcome sowohl bei der Funktion als auch bei der Schmerzreduktion bessere Ergebnisse liefert [9–12], sind solche Kalotten-resizierenden, schaftfreien Prothesendesigns sinnvollerweise von großem Interesse. Aktuell erfolgte daher die Entwicklung einiger neuartiger Prothesen, die sich alle einer metaphysären Verankerung im proximalen Humerus bedienen. Nachdem sich all diese Prothesen bei der Implantation am anatomischen Hals orientieren, bieten gerade diese Systeme gute Möglichkeiten, die anatomische Gelenkgeometrie wiederherzustellen. Auch bieten diese schaftfreien, Kalotten-resizierenden Prothesen gegenüber den Schaftprothesen einige weitere nennenswerte Vorteile. So ist beispielsweise an den Revisionsfall einer Schaftprothese zu denken, bei dem ein ausgeprägter Knochenverlust am proximalen Humerus und die häufig notwendige Schaftfensterung durchaus zu erheblichen Problemen wie Frakturen, erforderlichen Langschaftendoprothesen etc. führen kann [13]. Demnach ist die Revisionsfreundlichkeit der schaftfreien Prothesen, die einfach und mit einem geringeren Knochenverlust entfernt werden können, ein wesentlicher Vorteil. Zudem ist hinzuzufügen, dass auch bei den Schaftsystemen die Rate von humeralen Lockerungen leider nicht vollständig zu vernachlässigen ist. So zeigte eine Multicenteranalyse eine Rate von aseptischen Prothesenschaftlockerungen von immerhin 6 % [14]. Zuletzt sind auch andere Schaft-assoziierte Komplikationen wie z.B. Frakturen, die insbesondere während, aber auch nach der Primärimplantation einer Schulterprothese gar nicht so selten auftreten [15, 16], durchaus auch Aspekte, die für eine schaftfreie Versorgung sprechen.

Schaftfreie inverse
Schulterendoprothetik

Bei der typischen Defektarthropathie mit dezentriertem Humerus und pseudoparalytischer Schulterfunktion ermöglicht die inverse Schulterendoprothese eine deutliche Funktionsverbesserung mit einer nahezu vollständigen Schmerzfreiheit [17]. Hierbei führt die Implantation einer inversen Prothese zu einer Umkehrung der Gelenkflächen, die eine weitere Dezentrierung des Humeruskopfs entlang des Glenoids nach oben verhindert. Dies bewirkt typische Änderungen der Gelenkgeometrie mit einer Absenkung des Humerus sowie einer Medialisierung des Rotationszentrums. Diese Medialisierung ermöglicht bei der aktiven Bewegung des Schultergelenks die Rekrutierung zusätzlicher Segmente des Deltamuskels. Die Absenkung des Humerus erhöht die Vorspannung des Deltamuskels. Diese veränderte Biomechanik kann bei der Defektarthropathie das Fehlen der Rotatorenmanschette effektiv kompensieren [18, 19]. Somit ist die irreparable Rotatorenmanschettenruptur mit bestehender Defektarthropathie sicherlich die Hauptindikation zur Implantation einer inversen Schulterendoprothese [17, 18]. Nachdem eine Vielzahl an Erkrankungen der Schulter mit Pathologien der Rotatorenmanschette einhergehen, werden heute neben der klassischen Defektarthropathie [18, 19] inverse Schulterprothesen auch bei massiven, irreparablen Rotatorenmanschettenrupturen ohne relevante Arthrosen mit guten Ergebnissen eingesetzt [20], bei rheumatoider Arthritis in Kombination mit Manschettendefekten [21], bei schlechten klinischen Ergebnissen nach Hemi- und Totalendoprothesenimplantation [22–24], bei Tumorleiden [25], bei posttraumatischen Folgezuständen mit schlechtem klinischen Outcome [23] sowie bei frischen proximalen Humerusfrakturen des eher älteren Menschen [26]. Entsprechend werden in einigen Zentren, wie auch in unserer Klinik, anteilmäßig doch mehr inverse Prothesen als anatomische Schulterarthroplastiken implantiert.

Betrachtet man sowohl bei den Primärversorgungen als auch bei den Revisionen die enorm zunehmende Zahl an inversen Schulterprothesen [27], so sind sicherlich auch hier knochensparende Konzepte von Interesse. Im Bereich der inversen Schulterendoprothetik ist das TESS-System das erste und somit am besten untersuchte schaftfreie System [1–5], das wir sowohl in der inversen und auch in der anatomischen Versorgung recht häufig zur endoprothetischen Versorgung verwenden.

Das TESS-System

Charakteristisch für das TESS-System ist die Corolla, die sich innerhalb der präparierten Spongiosa, aber auch peripher, nahe dem kortikalen Knochen verankert (Abb. 1). Somit wird die Corolla in der Regel press-fit in die Metaphyse eingeschlagen. Dabei besteht die inverse Corolla gegenüber der anatomischen Variante aus einem schalenähnlichen Metallblock, in dem das inverse Polyethlyen in verschiedenen Höhen aufgenommen werden kann. Diese Art der metaphysären Verankerung unterscheidet sich deutlich von zentralen Verankerungskonzepten, wie z.B. der zentralen Hohlschraube bei der Eclipse Prothese (Arthrex) oder der Simpliciti Prothese (Tornier) mit dem sich wiederum eher zentral verankernden 3-schenkligen Kreuz [28]. Je nach Knochensituation kann die Corolla bzw. die inverse Corolla mit einem Stil verlängert und distal auch einzementiert werden. Ähnlich wie bei anderen Systemen kann der zentrale Zapfen am Glenoid verlängert werden. Eine weitere Besonderheit des TESS-Systems ist, dass es sich um ein hochmodulares System handelt. So kann der Operateur sich je nach Bedarf für eine anatomische Hemi- oder Totalprothese oder für eine inverse Prothese entscheiden. Je nach Knochensituation ist es möglich, die Prothesen mit oder ohne Schaft zu implantieren. Alternativ zu den zementierten Polyethylenglenoiden kann innerhalb der Versorgung mit einer anatomischen TESS-Endoprothese auch ein Metal-back Glenoid gewählt werden (Abb. 1, Abb. 3). Hierbei zeichnet sich die Basisplatte neben dem zentralen Zapfen zur Knochenverankerung sowie winkelstabilen Schrauben oder optionalen Spikes zur optimierten Befestigung aus. Zudem besitzt das TESS-System eine Doppelbeschichtung, die neben einer porösen Titanlegierung (Ti6AL4V) aus einer Hydroxylapatitbeschichtung besteht. Somit hat das Metal-back Glenoid der TESS-Prothese die Eigenschaften, die sich trotz der in älteren Studien bekanntermaßen kritischen Datenlage [29, 30], in aktuelleren Studien doch durch vergleichsweise lange Überlebenszeiten auszeichnen [31, 32]. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Basisplatte auch für die inverse Prothese verwendet werden kann. Dies macht im Revisionsfall einen Wechsel von einer anatomischen auf eine inverse Prothese ohne Wechsel der Basisplatte realisierbar.

Wird die anatomische
oder inverse
Gelenkgeometrie erreicht?

Ziel der anatomischen Prothese ist ein möglichst genauer Erhalt der Gelenkgeometrie. Hingegen sollte eine optimale inverse Versorgung mittels Distalisierung und Medialisierung von Humerus und Rotationszentrum die funktionell günstigen Änderungen von Hebelarm sowie Vorspannung des Deltamuskels ermöglichen. In einigen unserer Fälle haben wir für die Auswertung der Gelenkgeometrie die prä- und postoperativen Röntgenbilder der betroffenen Schultern mit dem Programm MediCAD vermessen. Bei den präoperativen Röntgenbildern wurden Maßstabkugeln und bei den postoperativen Röntgenbildern die Prothesengrößen zur Skalierung verwendet (Abb. 2). Gemessen wurde die akromiohumerale Distanz, als kürzeste Verbindung von Akromion und Humeruskopf; das humerale Offset, als der Abstand von der lateralen Grenze des Tuberculum majus zum Rotationszentrum; das laterale glenohumerale Offset als der Abstand von der Basis des Korakoids zur lateralen Grenze des Tuberculum majus und die Höhe des Rotationszentrums in Beziehung zur unteren Kante des Glenoids. Zudem wurde der Hals-Schaft-Winkel prä- und postoperativ gemessen, der als der mediale Winkel zwischen der Schaftachse und einer Senkrechten zum anatomischen Hals bzw. der humeralen Osteotomie definiert ist (Abb. 4).

In einer Fallserie mit 75 mit einer inversen TESS versorgten Patienten, sahen wir für alle Parameter signifikante Veränderungen der Gelenkgeometrie. In der Literatur findet sich zur Medialisierung des Rotationszentrums nach inverser Prothese eine Streuweite zwischen 8 und 20 mm [18, 33–35]. Bei unseren mittels inverser TESS versorgten Patienten betrug die Medialisierung, die sich aus der Summe der humeralen Offsetzunahme (im Mittel 13,8 mm) und der Abnahme des lateralen glenohumeralen Offset (im Mittel 5,9 mm) errechnet, im Mittel knapp 20 mm. Daher kann in unseren Fallserien von einer ausreichenden Erweiterung des Hebelarms des Deltamuskels ausgegangen werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang einige Studien, die zeigen konnten, dass eine Erweiterung des Hebelarms mit einer signifikanten Besserung der aktiven Beweglichkeit der Schulter assoziiert ist [18, 32]. Eine Medialisierung des Humerus führt auch zu einer Reduktion der Vorspannung und damit zu einer geringeren Effektivität des Deltamuskels. Um dieses Problem und auch mögliche Instabilitäten zu vermeiden, benötigt jede inverse Versorgung auch eine ausreichende Distalisierung des Humerus. Diese Distalisierung lässt sich durch eine Erhöhung der akromiohumeralen Distanz beschreiben. Die Erhöhung der akromiohumeralen Distanz betrug in unserer Serie im Mittel 16,1 mm. Dies liegt wiederum im oberen Range der Literatur [4, 18, 34, 36–38], sodass eine erfolgreiche Erhöhung der Deltavorspannung mit einer entsprechenden Funktionsverbesserung der Schulter und eine gute Stabilität der medialisierten Schulter zu erwarten ist. Ein Teil dieser Distalisierung sollte hierbei durch eine möglichst distale Positionierung der Basisplatte erreicht werden. Dies entspricht der Höhe des Rotationzentrums über der Unterkante des Glenoids. In unserer Fallserie verringerte sich dieser Wert nach Prothesenimplantation signifikant um im Mittel 4,3 mm. Dies entspricht in etwa den Messungen von Boileau et al. [18], die im Mittel eine ähnliche Distalisierung von ca. 4 mm beschrieben haben. All diese signifikanten Messergebnisse zur Medialisierung und Distalisierung zeigen, dass das mit dem TESS-Schultersystem die für die inversen Prothesen typischen und funktionell günstigen Änderungen des Hebelarms und auch der Vorspannung des Deltamuskels erreicht werden können.

Bei der anatomischen Versorgung wird, wie es der Name schon sagt, eine möglichst genaue Rekonstruktion mit einem Erhalt der physiologischen Gelenkkinematik angestrebt. Büchler und Farron beschrieben in ihrer Studie die Bedeutung der anatomischen Rekonstruktion des Humeruskopfs für eine physiologische Beweglichkeit des Schultergelenks [39]. Hammond et al. zeigten, dass bei regelrechter Wiederherstellung der Gelenkgeometrie nicht nur eine bessere Schulterfunktion erreicht werden kann, sondern auch der Glenoidabrieb durch verringerte Druckspitzen reduziert werden kann [7]. Schließlich erscheint es auch logisch, dass ein Funktionserhalt der Rotatorenmanschette bei gleichzeitiger Vermeidung eines Overstuffing einen möglichst genauen Erhalt der Gelenkgeometrie voraussetzt. In einer Serie von 19 Patienten, die durch uns mit einer anatomischen TESS versorgt wurden, zeigten die geometrischen Parameter im Vergleich zur präoperativen Situation keine signifikanten Veränderungen der akromiohumeralen Distanz sowie des humeralen und lateralen glenohumeralen Offset. Auch die Höhe des Rotationszentrums und der Hals-Schaft-Winkel, der bei Werten um im Mittel 135° lag, zeigten keine signifikanten Veränderungen. Diese Daten zeigen, dass mit der anatomischen TESS-Prothese die präoperative Geometrie in einem adäquaten Ausmaß wiederhergestellt werden kann.

Klinisches Outcome
mit dem TESS-System

Ähnlich zu anderen Studien zeigte sich bei unseren Patienten nach Implantation der anatomischen TESS-Prothese ein signifikanter Anstieg des postoperativen alters- und geschlechtsadaptierten Constant-Scores. So stieg der relative Constant-Score nach einem mittleren Follow-up von ca. 18 Monaten auf 74 %, wobei sich auch alle einzelnen Subitems signifikant verbesserten (Wilcoxon: p < 0,01). Dies liegt in einem ähnlichen Range zu anderen Untersuchungen zur anatomischen TESS-Prothese, in denen nach einem mittleren Follow-up von 24 [2] und 36 Monaten [3] ein relativer Constant-Score von 73 % bzw. 75 % berichtet wurde. Zudem liegen diese Ergebnisse in einem ähnlichen Range anderer etablierter Systeme wie z.B. der Eclipse Prothese der Fa. Arthrex, für die nach einem mittleren Follow-up von 72 Monaten ein relativer Constant-Score von 75 % berichtet wurde [40].

In vorangegangenen Studien mit unterschiedlichen gestielten inversen Schulterprothesen zeigte der postoperative absolute Constant-Score einen vergleichsweise weiten Range mit Punktwerten zwischen 40 und 60 Punkten [18, 41–44]. Bei unseren mit einer inversen TESS-Prothese versorgten Patienten mit unterschiedlichen Ätiologiegruppen lag der absolute Constant-Score nach einem mittleren Follow-up von ca. 17 Monaten mit 55 Punkten im oberen Range dieser Studien. Interessant waren hierbei die Unterschiede in den einzelnen Ätiologiegruppen: So zeigten die Patienten mit einer Defektarthropathie einen relativen Constant-Score von 79,7 %. Revisionsfälle mit einer vorangegangenen prothetischen Versorgung zeigten einen relativen Constant-Score von 73,5 %. Patienten, die aufgrund von Frakturen mit oder ohne vorheriger Osteosynthese mit dem inversen TESS-System versorgt wurden, zeigten einen relativen Constant-Score von nur 67,3 % (Abb. 5). Diese Ergebnisse sind allerdings nicht ungewöhnlich. So zeigte bereits eine Reihe an Studien bei einer Defektarthropathie bessere Ergebnisse als bei Frakturfolgen [18, 20] bzw. Revisionsendoprothesen [20, 24].

Inverse TESS und
inferiores Notching

Ein Anschlagen des inversen Inlayeinsatzes am Skapulahals wird als inferiores Notching bezeichnet. In der Literatur wird ein solches Notching mit Häufigkeiten von 0 % bis hin zu 88 % der Fälle beschrieben [18, 24, 43–48]. Im Zumstein-Review, der bislang größten Metaanalyse zu unterschiedlichen inversen Schaftprothesen mit insgesamt 782 ausgewerteten Fällen, lag die Gesamthäufigkeit eines Notching bei immerhin 35,4 % [49].

Bedenkt man die Probleme dieses Notching, wie z.B. Schäden am Polyethylen oder gar eine Glenoidlockerung, so erscheint es logisch dass in der Literatur verschiedene Möglichkeiten zur Vermeidung eines solchen Notching diskutiert werden. Neben einer Offseterweiterung [50] und der Verwendung exzentrischer Glenosphären [45, 51] kann auch der Inklinationswinkel der humeralen Komponente ein Notching signifikant verringern [52]. Die meistverwendeten inversen Schultersysteme wie die Delta X-tend (De Puy Synthes), die Aequalis Reversed (Tornier) und die Affinis Inverse (Mathys) haben einen Schaft-Hals-Winkel von 155°. Kempton et al. beschrieben bei der Verwendung eines inversen Schaftdesigns mit einem Hals-Schaft-Winkel von 145° anstelle der üblichen 155° eine signifikant niedrigere Notching-Rate. Demnach senkt die steilere Einstellung der inversen Pfanne das Risiko eines Notching und verbessert die Rotationsamplitude bei adduziertem Arm [52]. Das Besondere an dem metaphysär verankerten TESS-System ist, dass wir im Gegensatz zu einem Schaftsystem während der Operation sehr gute Möglichkeiten haben, den Winkel individuell zu gestalten und an die jeweilige Situation anzupassen (Abb. 7). In unseren Fallserien haben wir diese chirurgische Möglichkeit auch genutzt und so in unseren Nachuntersuchungen einen mittleren Schaft-Hals-Winkel von 147° nachgewiesen [5]. Vor allem dieser Inklinationswinkel kann sehr gut die deutlich erniedrigten Notching-Raten von 12 % in unseren Fallserien mit der inversen TESS, aber auch in den TESS-Studien von Kadum (12 %) [4] und Ballas (9,5 %) [1] erklären.

Humerale Lockerungen

Auch mit Schaftsystemen ist die Rate von humeralen Lockerungen leider nicht ganz zu vernachlässigen. So zeigte eine Multicenteranalyse eine Rate von aseptischen Schaftlockerungen von immerhin 6 % [14]. Weitere Arbeiten zu inversen, gestielten Schultersystemen zeigen humerale Lockerungsraten von 1,3 % [49], 2 % sowie 3 % [53].

Bei unserer Serie von 58 inversen TESS-Endoprothesen in der Patientengruppe mit einer Defektarthropathie und 19 anatomisch implantieren TESS-Endoprothesen (15 primäre Omarthrosen, eine Humeruskopfnekrose, eine Kappenversorgung mit schmerzhafter Glenoidersosion, 2 postraumatische Omarthrosen) hatten wir in keinem Fall eine humerale Lockerung. Dies entspricht vorangegangenen Studien. So wurde in einer Fallserie von 72 anatomisch implantierten TESS-Endoprothesen in keinem Fall eine humerale Lockerung festgestellt [3]. Zudem wurden in einer Fallserie von 56 inversen TESS-Implantationen, in der Patienten mit Frakturfolgen sowie Revisionsfälle für eine schaftfreie Versorgung ausgeschlossen wurden, wiederum keine humeralen Lockerungen festgestellt [1]. In Anbetracht unserer kurzen bis mittelfristigen Ergebnisse und der Studienlage, können wir hinsichtlich humeraler Lockerungen die Verwendung der schaftfreien Version der TESS Prothese sowohl in der anantomischen Situation als auch bei der inversen Versorgung bei Patienten mit einer Defektarthropathie durchaus als knochensparende Alternative zur Schaftversorgung empfehlen. Bei den beiden anderen, mit einer inversen TESS versorgten Ätiologiegruppen, mussten wir allerdings in 3 Fällen eine humerale Lockerung verzeichnen. Von 8 Patienten aus der Gruppe mit Frakturfolgezuständen (4 schaftfreie inverse TESS und 4 TESS mit zementierten Stiel) hatte ein Patient eine humerale Lockerung. Unter 9 Revisionsfällen nach vorangegangener Prothesenimplantation (4 schaftfreie inverse TESS und 5 TESS mit zementierten Stiel) kam es in 2 Fällen zu einer humeralen Lockerung. Zwei Patienten entschieden sich für eine Revision mit einem Wechsel auf eine TESS mit zementierten Stiel (Abb. 7). Im weiteren Verlauf waren beide Patienten schließlich zufrieden mit dem Ergebnis. Die dritte Patientin litt an einer zunehmenden Sturzneigung, die auch zu wiederholten Stürzen auf die operierte Schulter führte. Diese Patientin lehnte weitere operative Maßnahmen ab. Richard Ballas und Laurent Béguin haben in ihrer Studie zur TESS-Prothese entsprechend ihrem Studienprotokoll alle Fälle mit Revisionen oder Frakturen ausschließlich mit gestielten TESS-Prothesen versorgt. Retrospektiv betrachtet, waren sie wahrscheinlich schlauer als wir, da sie mit dieser Entscheidung in ihrer Studie eine humerale Lockerungsrate von 0 % nachweisen konnten [1].

Fazit

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Wunsch nach einer knochensparenden, schaftfreien Schulterendoprothetik mit dem Wunsch nach mehr Einstellbarkeit und Modularität der Prothesenkomponenten durchaus Hand in Hand gehen kann. So ist das TESS-System bei der anatomischen Versorgung in der Lage, die individuelle Gelenkgeometrie adäquat wiederherzustellen. Dies entspricht der Studienlage und eigenen Nachuntersuchungen mit einem vergleichsweise guten klinischen Outcome. Bei der inversen Variante ermöglicht das TESS-System eine suffiziente Distalisierung und Medialisierung. Somit finden sich die für die inversen Prothesen funktionell günstigen Änderungen von Hebelarm und Vorspannung. Auch dies passt zu dem guten klinischen Outcome. Die geringen Notching-Raten lassen sich anhand der individuellen Einstellbarkeit der Invers-Corolla mit vergleichsweise niedrigen Schaft-Hals-Winkeln erklären. So hatten wir intraoperativ – im Gegensatz zu den inversen Schaftsystemen – gute Möglichkeiten, den Winkel individuell zu gestalten und hierbei tendenziell auch auf niedrige Werte zu kommen. Hinsichtlich der humeralen Lockerungen zeigen unsere ersten, noch kurzfristigen Ergebnisse, dass die schaftfreie Press-fit-Fixierung bei der anatomischen Versorgung und auch die inverse schaftfreie Variante bei der Ätiologiegruppe Defektarthropathie zuverlässig funktioniert. Warnen muss man allerdings vor der schaftfreien inversen Versorgung bei Frakturfolgezuständen sowie anstehenden Revisionen bei einliegenden schaftfreien Prothesen. Je nach Knochenqualität sollte die Möglichkeit der bei dem TESS-System einfach durchführbaren Montage eines distal zementierten Stiels großzügig genutzt werden. Mit dieser erweiterten humeralen Fixierung lassen sich auch in diesen Fällen humerale Lockerungen zuverlässig vermeiden.

Interessenkonflikt: Keine angegeben.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Lars Victor von Engelhardt

Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke

Abteilung für Orthopädie,
Unfallchirurgie und Sportmedizin

Johanna-Etienne-Krankenhaus

Am Hasenberg 46, 41462 Neuss

larsvictor@hotmail.de

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Fussnoten

1 Fakultät für Gesundheit, Private Universität Witten/Herdecke

2 Abteilung für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin, Johanna-Etienne-Krankenhaus Neuss

3 Institut für Anatomie,Heinrich Heine Universität Düsseldorf

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