Originalarbeiten - OUP 01/2016
Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse Schulterendoprothetik mittels TESS-System: Ein sinnvolles Konzept?
Bei der anatomischen Versorgung wird, wie es der Name schon sagt, eine möglichst genaue Rekonstruktion mit einem Erhalt der physiologischen Gelenkkinematik angestrebt. Büchler und Farron beschrieben in ihrer Studie die Bedeutung der anatomischen Rekonstruktion des Humeruskopfs für eine physiologische Beweglichkeit des Schultergelenks [39]. Hammond et al. zeigten, dass bei regelrechter Wiederherstellung der Gelenkgeometrie nicht nur eine bessere Schulterfunktion erreicht werden kann, sondern auch der Glenoidabrieb durch verringerte Druckspitzen reduziert werden kann [7]. Schließlich erscheint es auch logisch, dass ein Funktionserhalt der Rotatorenmanschette bei gleichzeitiger Vermeidung eines Overstuffing einen möglichst genauen Erhalt der Gelenkgeometrie voraussetzt. In einer Serie von 19 Patienten, die durch uns mit einer anatomischen TESS versorgt wurden, zeigten die geometrischen Parameter im Vergleich zur präoperativen Situation keine signifikanten Veränderungen der akromiohumeralen Distanz sowie des humeralen und lateralen glenohumeralen Offset. Auch die Höhe des Rotationszentrums und der Hals-Schaft-Winkel, der bei Werten um im Mittel 135° lag, zeigten keine signifikanten Veränderungen. Diese Daten zeigen, dass mit der anatomischen TESS-Prothese die präoperative Geometrie in einem adäquaten Ausmaß wiederhergestellt werden kann.
Klinisches Outcome
mit dem TESS-System
Ähnlich zu anderen Studien zeigte sich bei unseren Patienten nach Implantation der anatomischen TESS-Prothese ein signifikanter Anstieg des postoperativen alters- und geschlechtsadaptierten Constant-Scores. So stieg der relative Constant-Score nach einem mittleren Follow-up von ca. 18 Monaten auf 74 %, wobei sich auch alle einzelnen Subitems signifikant verbesserten (Wilcoxon: p < 0,01). Dies liegt in einem ähnlichen Range zu anderen Untersuchungen zur anatomischen TESS-Prothese, in denen nach einem mittleren Follow-up von 24 [2] und 36 Monaten [3] ein relativer Constant-Score von 73 % bzw. 75 % berichtet wurde. Zudem liegen diese Ergebnisse in einem ähnlichen Range anderer etablierter Systeme wie z.B. der Eclipse Prothese der Fa. Arthrex, für die nach einem mittleren Follow-up von 72 Monaten ein relativer Constant-Score von 75 % berichtet wurde [40].
In vorangegangenen Studien mit unterschiedlichen gestielten inversen Schulterprothesen zeigte der postoperative absolute Constant-Score einen vergleichsweise weiten Range mit Punktwerten zwischen 40 und 60 Punkten [18, 41–44]. Bei unseren mit einer inversen TESS-Prothese versorgten Patienten mit unterschiedlichen Ätiologiegruppen lag der absolute Constant-Score nach einem mittleren Follow-up von ca. 17 Monaten mit 55 Punkten im oberen Range dieser Studien. Interessant waren hierbei die Unterschiede in den einzelnen Ätiologiegruppen: So zeigten die Patienten mit einer Defektarthropathie einen relativen Constant-Score von 79,7 %. Revisionsfälle mit einer vorangegangenen prothetischen Versorgung zeigten einen relativen Constant-Score von 73,5 %. Patienten, die aufgrund von Frakturen mit oder ohne vorheriger Osteosynthese mit dem inversen TESS-System versorgt wurden, zeigten einen relativen Constant-Score von nur 67,3 % (Abb. 5). Diese Ergebnisse sind allerdings nicht ungewöhnlich. So zeigte bereits eine Reihe an Studien bei einer Defektarthropathie bessere Ergebnisse als bei Frakturfolgen [18, 20] bzw. Revisionsendoprothesen [20, 24].
Inverse TESS und
inferiores Notching
Ein Anschlagen des inversen Inlayeinsatzes am Skapulahals wird als inferiores Notching bezeichnet. In der Literatur wird ein solches Notching mit Häufigkeiten von 0 % bis hin zu 88 % der Fälle beschrieben [18, 24, 43–48]. Im Zumstein-Review, der bislang größten Metaanalyse zu unterschiedlichen inversen Schaftprothesen mit insgesamt 782 ausgewerteten Fällen, lag die Gesamthäufigkeit eines Notching bei immerhin 35,4 % [49].
Bedenkt man die Probleme dieses Notching, wie z.B. Schäden am Polyethylen oder gar eine Glenoidlockerung, so erscheint es logisch dass in der Literatur verschiedene Möglichkeiten zur Vermeidung eines solchen Notching diskutiert werden. Neben einer Offseterweiterung [50] und der Verwendung exzentrischer Glenosphären [45, 51] kann auch der Inklinationswinkel der humeralen Komponente ein Notching signifikant verringern [52]. Die meistverwendeten inversen Schultersysteme wie die Delta X-tend (De Puy Synthes), die Aequalis Reversed (Tornier) und die Affinis Inverse (Mathys) haben einen Schaft-Hals-Winkel von 155°. Kempton et al. beschrieben bei der Verwendung eines inversen Schaftdesigns mit einem Hals-Schaft-Winkel von 145° anstelle der üblichen 155° eine signifikant niedrigere Notching-Rate. Demnach senkt die steilere Einstellung der inversen Pfanne das Risiko eines Notching und verbessert die Rotationsamplitude bei adduziertem Arm [52]. Das Besondere an dem metaphysär verankerten TESS-System ist, dass wir im Gegensatz zu einem Schaftsystem während der Operation sehr gute Möglichkeiten haben, den Winkel individuell zu gestalten und an die jeweilige Situation anzupassen (Abb. 7). In unseren Fallserien haben wir diese chirurgische Möglichkeit auch genutzt und so in unseren Nachuntersuchungen einen mittleren Schaft-Hals-Winkel von 147° nachgewiesen [5]. Vor allem dieser Inklinationswinkel kann sehr gut die deutlich erniedrigten Notching-Raten von 12 % in unseren Fallserien mit der inversen TESS, aber auch in den TESS-Studien von Kadum (12 %) [4] und Ballas (9,5 %) [1] erklären.
Humerale Lockerungen
Auch mit Schaftsystemen ist die Rate von humeralen Lockerungen leider nicht ganz zu vernachlässigen. So zeigte eine Multicenteranalyse eine Rate von aseptischen Schaftlockerungen von immerhin 6 % [14]. Weitere Arbeiten zu inversen, gestielten Schultersystemen zeigen humerale Lockerungsraten von 1,3 % [49], 2 % sowie 3 % [53].