Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020

Periphere Nervenläsionen
Standards für Diagnosestellung und Therapie

Martin Aman, Simeon C. Daeschler, Arne H. Boecker, Ulrich Kneser, Leila Harhaus

Zusammenfassung:

Nervenverletzungen sind schwerwiegende und komplexe Verletzungen, die häufig junge, im Arbeitsleben stehende Patienten betreffen. Nicht nur für den Betroffenen und sein Umfeld, sondern auch für das Gesundheits- und Sozialsystem haben sie oft weitreichende sozioökonomische Folgen. Da bei der Rekonstruktion nur ein begrenztes Zeitfenster zur Wiederherstellung der Funktion zur Verfügung steht, sollte rasch eine entsprechende Diagnostik und Therapieplanung erfolgen. Diese Arbeit zeigt die aktuell empfohlene Herangehensweise an periphere Nervenläsionen, von der Diagnostik bis zur Rekonstruktion. Ziel ist es, schon frühzeitig ein Gesamt-Therapiekonzept für die Patienten zu erstellen, um eine rasche und möglichst vollständige Funktionswiederkehr und damit Reintegration in das Sozial- und Erwerbsleben zu ermöglichen.

Schlüsselwörter:
peripherer Nerv, Nervenläsion, Diagnostik, Nervenrekonstruktion, Nerventransfer

Zitierweise:

Aman M, Daeschler SC, Boecker AH, Kneser U, Harhaus L: Periphere Nervenläsionen.
Standards für Diagnosestellung und Therapie. OUP 2020; 9: 023–029

DOI 10.3238/oup.2020.0023–0029

Summary: Peripheral nerve lesions are often complex and severe injuries affecting mainly young patients.
This reveals not only burden for individual patients, but also major socioeconomic consequences. As “time is muscle”, early diagnosis and a sophisticated surgical and therapeutical plan is of upmost importance. Therefore, we present an overview on current diagnostical and surgical options, to optimize treatment of patients to finally improve outcome of the patients and reintegration into social and work life.

Keywords: peripheral nerve, nerve damage, nerve reconstruction, nerve transfer

Citation: Aman M, Daeschler SC, Boecker AH, Kneser U, Harhaus L: Reconstruction of peripheral nerve defects. current standards for diagnosis and treatment. OUP 2020; 9: 023–029. DOI 10.3238/oup.2020.0023–0029

Klinik für Hand-, Plastische- und Rekonstruktive Chirurgie – Schwerbrandverletzenzentrum, Ludwigshafen

Einleitung

Periphere Nervenläsionen sind komplexe Verletzungen mit sehr unterschiedlich ausgeprägten Erscheinungsbildern. Hierbei sind nicht nur die mikrochirurgische Versorgung, sondern vielmehr auch vorangehende Diagnostik und sorgfältige Therapieplanung relevant und aufgrund einer Vielzahl von biologischen Faktoren häufig anspruchsvoll. Pathophysiologische Grundkenntnisse sind entscheidend für die Therapieplanung sowohl hinsichtlich des optimalen Zeitpunkts als auch der Wahl der Rekonstruktionsmethode. Auch postoperativ ist, im Vergleich zu vielen anderen Operationen, ein direkter Behandlungserfolg nicht sofort sichtbar, was die Abschätzung des Therapieerfolgs erschwert. Ziel dieser Arbeit ist es, auch für den nicht-spezialisierten Chirurgen eine Übersicht an die Herangehensweise an eine Nervenverletzung zu schaffen – von der klinischen Untersuchung über die Diagnostik bis hin zur Rekonstruktion – wie sie nach derzeitigem Stand der Wissenschaft erfolgen sollte.

In Europa zeigt sich durch eine jährliche Inzidenzrate von 13,9 auf 100.000 Personen die Relevanz dieser oft komplexen Verletzungsbilder [3, 8]. Nervenverletzungen betreffen hierbei hauptsächlich die obere Extremität junger Männer mit einem Durchschnittsalter von 32–35 Jahren [15, 7].

Die häufigsten Verletzungen sind hierbei Schnittverletzungen, gefolgt von Avulsionsverletzungen – vor allem nach Verkehrsunfällen mit Hochrasanzkomponente, welche oft mit großem und langfristigem Funktionsverlust einhergehen [25, 6]. Natürlich sind auch andere Mechanismen wie Schuss- und Quetschverletzungen sowie Penetrationstraumata möglich. Des Weiteren darf nicht unbeachtet bleiben, dass 17–25,7 % aller Nervenläsionen iatrogenen Ursprungs sind [21]. Hierbei gibt es vielfältige Mechanismen, von der Kompression durch chirurgische Instrumente oder Implantate über thermische Schäden (Elektrokoagulation, Zementieren z.B. bei Hüft-TEP) bis hin zur scharfen Durchtrennung. Orthopädisch-unfallchirurgische Zugangswege zeigen aufgrund ihrer teilweise unmittelbaren Lagebeziehung zu peripheren Nerven eine besondere Prädisposition für Verletzungen (Tab. 1).

Aber auch sekundär (z.B. bei Frakturen) und durch akute oder chronische Einengung von peripheren Nerven an anatomischen Engstellen oder aufgrund postoperativer Vernarbungen können Nervenschäden verursacht werden.

Aufgrund der Tatsache, dass vor allem junge, im Arbeitsleben stehende Patienten plötzliche und oft schwerwiegende Verletzungen mit andauernden Funktionsausfällen an der oberen Extremität erleiden, kann dies zu einer großen sozioökonomischen Belastung des Gesundheits- und Sozialsystems führen [16]. Auch der Leidensdruck für den Patienten ist durch Verlust der Unabhängigkeit und vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit groß. Trotz intensiver Forschung der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiet der peripheren Nervenchirurgie, zeigen klinische und experimentelle Erfahrungen, dass vor allem bei schweren Nervenverletzungen das Outcome in vielen Fällen nach wie vor nicht vorhersagbar und nicht zufriedenstellend ist. Hierbei sind vor allem andauernde Einschränkungen im Alltag und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit für die Patienten belastend [18].

Daher sind Grundkenntnisse der Versorgung von Nervenverletzungen, insbesondere auch für nicht auf die Chirurgie der peripheren Nerven spezialisierte Chirurgen, essenziell, um eine rasche Zuweisung der Patienten in ein spezialisiertes Zentrum zu ermöglichen. So können die notwendige Diagnostik und eine etwaige chirurgische Rekonstruktion frühzeitig geplant und zeitgerecht durchgeführt werden.

Einteilung der
Nervenverletzungen

Der Erfolg von Nervenrekonstruktionen hängt maßgeblich vom Grad der Nervenläsion ab. Zur Einteilung der Verletzungen definierte Sir Herbert Seddon 1943 erstmals 3 Typen der Nervenläsionen. Er beschrieb sie als Neurapraxie, Axonotmesis und Neurotmesis [20]. 1951 erweiterte Sunderland diese Klassifikation auf insgesamt 5 Grade [24] und Mackinnon fügte dann noch einen 6. Grad hinzu [10]. Sunderlands Klassifikation beschreibt präzise die anatomischen Veränderungen einzelner Läsionstypen. Allerdings präsentieren sich diese klinisch oftmals kombiniert. Mackinnon beschreibt deshalb einen 6. Grad der Nervenläsionen als Kombination mehrerer Läsionen [10].

Für den nicht-spezialisierten Chirurgen ist im klinischen Alltag jedoch grundsätzlich die Einteilung nach Seddon ausreichend und sie gibt einen Anhaltspunkt für die weitere Therapieplanung.

Grad 1 – Neurapraxie

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5