Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020
Periphere NervenläsionenStandards für Diagnosestellung und Therapie
Eine vielversprechende Technik zur Visualisierung peripherer Nervenläsionen ist die MR-Neurografie. Dank der Verwendung neuester Magnetspulentechnik in 3-Tesla-MRTs kann die Signal-Noise-Ratio verbessert und so eine hohe räumliche Auflösung gewährleistet werden [5]. Das birgt den Vorteil, auch tiefergelegene Strukturen multidimensional darstellen zu können. Größter Nachteil dieser Untersuchung ist die limitierte Verfügbarkeit, da derzeit nur wenige Zentren diese besondere Bildgebung anbieten können. Der Untersuchungsablauf, die Dauer (in der Regel 45–60 min) sowie Kontraindikationen sind identisch mit denen eines normalen MRTs. Bestimmte Verletzungsmuster erschweren die Durchführung dieser Diagnostik, da der Patient meist mit maximal eleviertem Arm gelagert werden muss. Einliegendes Titan-Osteosynthesematerial stellt in der Regel keine absolute Kontraindikation für das MRT dar. Die Nervenpathologie kann jedoch teilweise durch Metallartefakte überlagert sein, sodass die Indikation hier gemeinsam mit einem erfahrenen Neuroradiologen gestellt werden sollte.
In Summe sollte unter Zusammenschau aller Befunde zeitgerecht ein Behandlungskonzept erstellt werden, um zwischen konservativer und operativer Versorgung abzuwägen. Bei nicht eindeutiger oder unklarer Befundkonstellation bzw. Prognose ist die chirurgische Exploration unumgänglich (Abb. 1).
Rekonstruktion
Die Rekonstruktion peripherer Nervenläsionen erfordert neben erfahrenen Operateuren mit entsprechenden mikrochirurgischen Fähigkeiten, eine entsprechende Infrastruktur mit Operationsmikroskop, Nervenstimulator, mikrochirurgischen Instrumenten und mit der Nachsorge vertrauten Therapeuten.
Direkte Koaptation
Oberstes Ziel der chirurgischen Rekonstruktion ist eine spannungsfreie Koaptation der Nervenenden. Dies erfolgt im Idealfall primär und direkt durch eine epineurale Naht. Bei Verletzungen in größeren, polyfaszikulären Stammnerven ist die Zuordnung der Faszikel nicht immer möglich. Direkt nach dem Trauma kann gegebenenfalls noch eine faszikuläre Rekonstruktion erfolgen, wenn durch elektrische Stimulation motorische und sensorische Faszikel noch unterscheidbar sind. Bei der faszikulären Naht ist aber die Stabilität der Naht gegenüber dem Risiko der Fremdkörperreaktion sowie intraneuraler Vernarbung gegenüberzustellen [2]. Die Primärnaht hat den Vorteil, dass regenerierende Axone nur eine Koaptationsstelle „durchwachsen“ müssen. Zur Optimierung von Primärnähten kann zusätzlich um die Koaptationsstelle eine Leitschiene (Nerveguide), eingebracht werden. Nerveguides aus Chitosan z.B. zeigten in einer aktuellen Studie bei End-zu-End koaptierten Digitalnerven eine signifikant bessere sensible Funktion [14]. Gerade im Bereich der Finger muss hier aber auf eine ausreichende Weichteildeckung geachtet werden, um die Tubes nicht als von außen störend wahrzunehmen.
Nerveninterponat
Ist wegen eines ausgedehnten Nervenschadens eine spannungsfreie Koaptation der Nervenenden nicht möglich, muss der Defekt durch ein Interponat überbrückt werden [2]. Die Wahl des richtigen Interponats ergibt sich hierbei meist aus der Länge der Defektstrecke und dem Durchmesser, sowie der Verfügbarkeit autologer Nerventransplantate.
Goldstandard in der Rekonstruktion ausgedehnter und funktionell relevanter Defekte, wo eine direkte End-zu-End-Koaptation nicht spannungsfrei möglich ist, ist immer noch das autologe Nerventransplantat [2]. Obwohl erste Studien mit dezellularisierten Allotransplantaten aus Körperspendern akzeptable Ergebnisse bei der Rekonstruktion sensibler Nerven andeuten, bleibt deren Verwendung umstritten und ist in Deutschland derzeit noch nicht zugelassen[4, 12, 13].
Nachteil des autologen Nerventransplantats ist der Hebedefekt und der damit verbundene (meist sensible) Funktionsverlust an der Hebestelle. Die Indikationsstellung muss unter Abwägung des funktionellen Benefits und der Hebemorbidität erfolgen [2]. Hier stehen u.a. der Nervus cutaneus antebrachii lateralis und medialis an der oberen Extremität sowie der Nervus suralis oder Nervus saphenus an der unteren Extremität zur Verfügung. Hierbei kann die Hebung der Transplantate offen, über mehretagige Schnittführung, endoskopisch oder mittels Nervenstripper (z.B N. suralis) über eine Einzelinzision am Knöchel erfolgen [22].
Zur Rekonstruktion von Nerven mit größerem Kaliber als der Spendernerv können auch mehrere Spendernerven parallel geschaltet werden (sog. Cable-grafts). Bei der Längenwahl sollten die Spendertransplantate 10–30 % länger sein als der Defekt, um spannungsfreie Nähte auch bei Extremitätenbewegungen und damit verbundenen Elongationen des Nerven zu gewährleisten [2].
Nerventransfers und
Sehnentransfers
Wenn aufgrund ausgedehnter Defekte oder sehr weit proximalen Verletzungen keine Rekonstruktion möglich ist bzw. kein zufriedenstellendes Ergebnis zu erwarten ist, kommen sogenannte Ersatzoperationen zum Einsatz.
Hierbei kann man zwischen motorischer Ersatzplastik und den sogenannten Nerventransfers unterscheiden. Der Nerventransfer beschreibt die Technik, targetnah einen entbehrlichen motorischen Spendernerv auf den Nervenast der gewünschten Zielmuskulatur zu transferieren [27]. Dabei ergeben sich mehrere Vorteile: Der Eingriff findet meist in gesunden, nicht durch das Trauma geschädigten Bereichen statt, durch distale Nerventransfers wird die proximale in eine distale Läsion konvertiert und damit die Regenerationsstrecke und -zeit kurz gehalten. Außerdem bleibt hier die physiologische Biomechanik der Muskulatur erhalten, was bei der Alternative, der motorischen Ersatzplastik nicht der Fall ist.
Sollte es zu keiner erfolgreichen Reinnervation kommen oder kein geeigneter Spendernerv für Nerventransfers zur Verfügung stehen, kommen motorische Ersatzplastiken zum Einsatz. Hierbei werden Sehnen und Muskeln dauerhaft transpositioniert, um einzelne motorische Funktionen wiederherzustellen (z.B Handgelenkextension nach N.-radialis-Läsion). Vorteil der motorischen Ersatzplastik ist, dass sie auch lange Zeit nach Nervenverletzung und Degeneration der Zielmuskulatur kräftige und rasche Funktionswiederkehr bringen kann. Der Nachteil ist, dass das physiologische Bewegungsmuster der Originalmuskulatur nicht erreicht werden kann und es sich sozusagen um „Ersatzbewegungen“ handelt. Voraussetzung für eine motorische Ersatzoperation ist eine freie Beweglichkeit der betroffenen Gelenke, eine gute Weichteilbedeckung sowie eine freie Gleitfähigkeit der zu behandelnden Sehnen. Selbstverständlich müssen auch Motoren mit solider Innervation und gutem Kraftgrad (mindestens M4) verfügbar sein.
Wichtig ist vor Einleitung einer spezifischen Therapie eine ausgiebige Aufklärung des Patienten über die Langwierigkeit einer Nervenverletzung sowie das zu erwartende funktionelle Ergebnis. Im klinischen Alltag zeigen sich hier teilweise unrealistische Erwartungshaltungen der betroffenen Patienten.