Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020
Periphere NervenläsionenStandards für Diagnosestellung und Therapie
Die Neurapraxie ist die mildeste Form der Schädigung, charakterisiert durch eine lokale, segmentale Demyelinisierung bzw. Myelinschädigung bei erhaltener Axonkontinuität. Dadurch kommt es zu einer temporären Unterbrechung der Reizleitung. Es kommt jedoch nicht zu einer Waller‘schen Degeneration und damit nicht zum Untergang der distalen Axone. In der Regel kommt es wenige Wochen bis Monate nach Trauma bzw. Dekompression eines eingeengten Nervs zu einer Restitutio ad integrum durch Remyelinisierung der betroffenen Nervensegmente [26]. Problematisch und interventionsbedürftig sind hierbei jedoch prolongierte Neurapraxien, bei denen es z.B. durch narbige Kompression und daraus resultierender Ischämie des Nervs zur irreversiblen Schädigung kommen kann.
Grad 2 – Axonotmesis
Die Axonotmesis ist definiert als ein kompletter Kontinuitätsverlust der Axone bei intakt erhaltenen Hüllstrukturen (Endo-, Peri- und Epineurium), wie es z.B. bei Traktionsschäden vorkommt. Distal der Läsion kommt es dann zur sogenannten Waller‘schen Degeneration, also zum Abbau der distalen Axone. Ein Großteil der durchtrennten Axone ist jedoch in der Lage, ausgehend vom proximalen Axonsegment nachzuwachsen. Durch die noch vorhandenen endoneuralen Hüllstrukturen findet in der Regel eine gerichtete Regeneration spontan statt. Eine komplette, funktionelle Regeneration ist prognostisch wahrscheinlich, hängt aber signifikant von der Höhe der Läsion und der dadurch entstandenen Regenerationsdauer ab (Geschwindigkeit der Nervenregeneration vs. Denervierungszeit des Muskels) [26]. Distale Verletzungen zeigen hierbei bei einer durchschnittlichen Regenerationsgeschwindigkeit von 1 mm/d eine schnellere Funktionswiederkehr als proximale Verletzungen.
Parallel zu Veränderungen im distalen Anteil des verletzten Nervs kommt es im Endorgan des Nervs, dem Muskel, zunächst zur Atrophie und schließlich zur Fibrose [28, 1]. Die motorischen Endplatten zeigen morphologische Veränderungen und verlieren ihre Fähigkeit, eine funktionelle Verbindung zwischen dem reinnervierenden Axon und der Muskelfaser zu etablieren [9, 17]. Obwohl klinisch immer wieder kontrovers diskutiert, gilt der Grundsatz „time is muscle“ und somit ist eine relevante Funktionswiederkehr der Muskulatur nach einer Denervationszeit von mehr als 12–18 Monaten unwahrscheinlich [2].
Grad 3 – Neurotmesis
Seddons Neurotmesis entspricht einer Grad 5-Läsion nach Sunderland [24] und beschreibt die vollständige Durchtrennung sowohl der Axone als auch der Hüllstrukturen und somit einen Kontinuitätsverlust des Nervs (z.B. bei einer Schnittverletzung). Durch die Destruktion der für die Regeneration wichtigen Leitstruktur kann der Nerv nicht nach distal regenerieren und endet häufig „blind“ in einem Neurom. Eine mikrochirurgische Rekonstruktion des Nervs zur Wiederherstellung der Kontinuität ist daher essenziell und sollte nach Diagnose möglichst zeitnahe angestrebt werden.
Diagnostik
Beim Verdacht auf eine potenzielle Nervenläsion sollte innerhalb von 24 Stunden nach Trauma ein vollständiger klinischer Status erhoben werden. Hierbei ist es wichtig, sensible und motorische Ausfälle jedes Zielgebiets und -muskels genau zu dokumentieren, um potenzielle Regeneration auch erkennen und deuten zu können. So kann z.B. bei einer proximalen Läsion Grad 2 nach Seddon die Regenerationshöhe und das Voranschreiten durch funktionelle Reinnervation distal der Läsion gelegener Muskelgruppen verfolgt werden. Hierzu ist die Einteilung in Kraftgrade und Sensibilitätsgrade hilfreich (Tab. 2).
Vor allem geschlossene Verletzungen sind in ihrem Ausmaß und der Aussicht auf spontane Funktionswiederkehr schwierig einzuschätzen. Auch sollte berücksichtigt werden, dass derselbe Nerv in seltenen Fällen auf 2 verschiedenen Höhen geschädigt sein kann. Die chirurgische Intervention kann hier oft erst im Verlauf bei ausbleibender Regeneration indiziert werden. Hierbei spielt die klinische Untersuchung des Patienten sowie regelmäßige Reevaluationen von gleichbleibenden und erfahrenen Untersuchern eine sehr wichtige Rolle, um, falls erforderlich, mit einer möglichst raschen Intervention das Outcome zu verbessern.
Neben der klinischen Untersuchung des Patienten sollten weitere diagnostische Schritte erfolgen. Die neurophysiologische Untersuchung (NLG, EMG), ist hierbei eine wichtige Untersuchung, da dadurch oftmals eine Differenzierung zwischen den Schweregraden der Nervenläsionen unterschieden werden kann. Diese Untersuchung ist jedoch erst ab 7 Tagen nach Verletzung sinnvoll, da nach diesem Zeitraum die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) abfällt und man so zwischen partiellen und kompletten Leitungsblöcken unterscheiden kann. Durch Parameter wie Nervenleitgeschwindigkeit, motorische Latenz und Amplitude erfolgt eine primäre Einschätzung der Schädigung. Verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeiten deuten auf eine segmentale Demyelinisierung hin, wie sie bei einer Neurapraxie zu finden ist. Eine normale bzw. geringgradig erniedrigte NLG in Kombination mit einer reduzierten Amplitude ist wegweisend für eine axonale Schädigung (Axonotmesis). Fehlende NLG und Amplituden sind klassischerweise bei der Neurotmesis zu finden. Zusätzlich zu Untersuchungen am Nerven kann auch eine Elektromyographie (EMG) diagnostisch hilfreich sein. Hier zeigen sich pathologische Spontanaktivitäten (Fibrillationen) bei axonaler Schädigung, nicht jedoch bei Neurapraxie. Die Neurotmesis führt, wie in der NLG, zu keiner Reizantwort im EMG. Anzumerken ist jedoch, dass die EMG-Untersuchung frühestens 14 Tage nach Schädigung sinnvoll ist, da die Waller‘sche Degeneration entsprechend weit fortgeschritten sein muss, um Denervierungszeichen zu zeigen. Zusätzlich bietet das EMG eine gute Möglichkeit, Reinnervationstendenzen zu zeigen und den Patienten mittels Bio-Feedback auch frühzeitig physiotherapeutisch beüben zu können [23, 11].
Ergänzend sollten bildgebende Verfahren wie Neurosonografie und Neuro-MRT erfolgen. Durch die in den letzten Jahren deutlich optimierte Bildgebung können viele Verletzungen sicher eingeordnet und somit ohne offene Exploration zur Diagnosefindung direkt konservativ behandelt werden. Die Neurosonografie ist ein schnelles und leicht verfügbares Verfahren, das dank der Verwendung hochauflösender Schallköpfe von 12–24 Mhz eine Darstellung der Nervenläsion mit hoher Auflösung ermöglicht. Durch besondere Algorithmen lassen sich sogar einzelne Faszikel oberflächlich gelegener Nerven darstellen, ohne zu viel Hintergrundrauschen zu produzieren. Hierzu bedarf es aber eines entsprechend erfahrenen Untersuchers.