Übersichtsarbeiten - OUP 02/2020

Periprothetische Acetabulumfrakturen

Intraoperative Hinweise für periprothetische Acetabulumfrakturen sind z.B. plötzliche Widerstandsänderungen beim Einbringen der Pfanne, eine fehlende Implantatstabilität oder kein suffizientes Press-fit. Dies sollte immer eine intraoperative Röntgendiagnostik sowie einen vorsichtigen klinischen Stresstest des Beckens zur Folge haben. Frühe postoperative periacetabuläre Frakturen sind meistens intraoperativ okkult geblieben [9].
Postoperativ ist neben einer regulären klinischen Hüftuntersuchung, die im Frakturfall in der Regel mit Schmerzen, verminderter Belastbarkeit wie auch Beweglichkeit einhergeht, eine ausführliche Anamnese erforderlich, um zwischen einer akuten Fraktur oder schleichenden Genese differenzieren zu können und den funktionellen Anspruch der Patienten, Komorbiditäten, Implantatdaten und ggf. Infektzeichen zu eruieren. Die röntgenologische Diagnostik sollte immer eine tiefe Beckenaufnahme sowie mind. eine Hüftaufnahme in 2 Ebenen umfassen. Neben einer Beurteilung von Pfanne und Schaft hinsichtlich Lockerungszeichen sollte auch auf Abriebzeichen geachtet werden und das Acetabulum anhand der bekannten Leitlinien auf Frakturen hin untersucht werden [28]. Die eigentliche Frakturanatomie ist schließlich mittels Computertomographie (CT) inkl. Metallartefaktesupprimierung zu beurteilen. Mittels CT-Angiographie, die schon Peterson und Lewallen bei traumatischer Genese empfohlen haben und die Simon et al. generell in ihren Therapiealgorithmus inkludiert haben, können außerdem Zusatzinformationen hinsichtlich regionaler Nähe von Fraktur, Pfanne und intrapelvinen Gefäßen ermittelt werden [21, 30]. Liegt eine fragliche Lockerung vor, kann des Weiteren noch eine SPECT-CT (single photon emission computed tomographie-CT) erwogen werden [31].
Auch wenn die Datenlage hinsichtlich möglicher Infekt assoziierter periprothetischer Frakturen noch keine Empfehlungen ausspricht, empfehlen wir bei einer Anamnese, die einen chronischen Prozess nahelegt, eine entsprechende periprothetische Infektabklärung inklusive Punktion des Hüftgelenkes und soweit logistisch möglich, ein konsekutives ein- oder mehrzeitiges Therapieverfahren [28].

Klassifikationen

Die verschiedenen Klassifikationsoptionen periprothetischer Acetabulumfrakturen unterscheiden sich hinsichtlich Komplexität und Aussagekraft bzw. Anwendung auf intra- oder postoperative Frakturen. Prinzipiell können alle ossären Anteile des Acetabulums (quadrilaterale Fläche, supraacetabulärer Dom) und des angrenzenden Beckenrings (Os ischium, ilium und pubis) von einer periprothetischen Acetabulumfraktur betroffen sein, am häufigsten ist jedoch die mediale Begrenzung involviert [21].
Periprothetische Acetabulumfrakturen können klassisch nach Judet und Letournel eingeteilt werden mit der Unterscheidung in die bekannten Grundtypen sowie Kombinationsverletzungen. Die reine Frakturdarstellung nimmt jedoch keinen Bezug auf die ebenso relevante Pfanne. Die erste spezifische Klassifikation nahmen Peterson und Lewallen 1996 vor und unterteilten in den Frakturtyp 1 mit stabiler Pfanne sowie den Frakturtyp 2 mit instabiler Pfanne [21]. Callaghan beschreibt wiederum vier verschiedene Möglichkeiten intraoperativer periprothetischer Acetabulumfrakturen (Typ A = Vorderwandfraktur, Typ B = Querfraktur, Typ C = inferiore Acetabulumfraktur, Typ D = hintere Wand-/Pfeilerfraktur) [4, 5]. Paprosky und Della Valle unterscheiden 5 Typen periprothetischer Acetabulumfrakturen [8, 18]:

Typ 1: Intraoperativ (während Komponenteneinbringung)

a: erkannt, stabile Komponente, undislozierte Fraktur

b: erkannt, dislozierte Fraktur, Pfanne locker

c: intraoperativ nicht erkannt

Typ 2: Intraoperativ (während Implantatentfernung)

a: Knochenstockverlust <50 %

b: Knochenstockverlust >50 %

Typ 3: Traumatisch

a: stabile Pfanne

b: instabile Pfanne

Typ 4: Spontan

a: Knochenstockverlust <50 %

b: Knochenstockverlust >50 %

Typ 5: Beckendiskontinuität

a: Knochenstockverlust <50 %

b: Knochenstockverlust >50 %

c: assoziiert mit Beckenradiatio

Davidson et al. reduzierten dies in ihrer Klassifikation 2008 in Anlehnung an die Vancouver-Klassifikation auf 3 Typen periprothetischer Acetabulumfrakturen (I = undislozierte Fraktur, II = I mit gefährdeter Rekonstruktionsstabilität, III = dislozierte Fraktur) [7]. Seit 2014 gibt es auch die umfassende Klassifikationsmöglichkeit gemäß dem Unified Classification System (UCS), das in Anlehnung an die bekannte AO-Klassifikation von Duncan und Haddad zur universellen Anwendung auf alle periprothetischen Frakturen publiziert wurde [10]. Für periprothetische Acetabulumfrakturen gilt der Code IV,1 (Acetabulum, Becken) mit Subklassifizierung gemäß der Frakturtypen A-F. Eine therapeutische Indikation ist jedoch nicht inkludiert. Simon et al. wiederum basieren ihren Behandlungsalgorithmus auf einer ätiologischen Einteilung in perioperative, traumatische und osteolytisch bedingte periprothetische Acetabulumfrakturen inklusive der Faktoren Stabilität der Pfanne, Dislokationsgrad der Fraktur und Knochenqualität [30]. Eine einfach anzuwendende, weitere neue Klassifikationsmöglichkeit stellten 2018 Pascarella et al. inkl. Behandlungsalgorithmus vor [19] (Tab. 1). Eine umfassende OP-Planung sollte beim Vorliegen ossärer acetabulärer Defekte noch eine entsprechende Klassifizierung derselben z.B. nach Paprosky et al. beinhalten, da Lage und Umfang der Knochendefekte einen Einfluss auf die Art der Stabilisierung und der acetabulären Rekonstruktion hat [18, 22].

Therapie und Algorithmus

Die Hauptziele in der Versorgung periprothetischer Acetabulumfrakturen sind, wenn möglich, ein Erhalt der Prothese und im Revisionsfall die Wiederherstellung des anatomischen Rotationszentrums, physiologischen Offsets sowie ggf. die Rekonstruktion ossärer Defekte und des Beckenringes mit Erzielung einer Langzeitstabilität durch Osteointegration sowie eines adäquaten funktionellen Ergebnisses [27]. In stabilen Situationen wie einer Schambeinastbeteiligung oder einer nicht dislozierten Acetabulumfraktur kann bei einem stabilen Implantat die konservative Therapie mit mehrwöchiger Teilbelastung sowie ggf. limitierter Hüftflexion erfolgen. Dies ist jedoch frühestens ein Jahr nach Prothesenimplantation anzuraten [20]. Auch wenn gemäß Peterson und Lewallen 80 % solcher Frakturen konservativ ausheilen, hat sich eine hohe Rate an sekundären Lockerungen gezeigt [21]. Die chirurgische Versorgung ist daher insgesamt viel häufiger indiziert und muss hierbei v.a. der Stabilität des hinteren Pfeilers in der Regel mittels Osteosynthese Rechnung tragen [14, 15]. Werden instabile Frakturen und gelockerte Implantate nicht operativ adressiert, resultieren neben Schmerzen und Funktionsdefizit Komplikationen wie Blutung, Instabilität, Pseudarthrose und zunehmende Pfannenlockerung [29, 30]. Nichtsdestotrotz ist die 1-Jahres-Mortalität nach operativer Versorgung periprothetischer Frakturen insgesamt mit 11?15 % hoch und spiegelt damit auch das meist anspruchsvolle, multimorbide Patientenkollektiv mit oft schlechter Knochenqualität und hohem Alter wider, sodass entsprechend eine geringe Patientenbelastung und eine möglichst belastungsstabile Mobilisierung erreicht werden sollte durch ein Behandlungsteam an einem Zentrum mit ausreichend Erfahrung in der Acetabulumchirurgie als auch in der Revisionsendoprothetik sowie Verfügbarkeit eines entsprechenden Implantatportfolios [1, 28]. Im operativen Kasus steht initial die Wahl des geeigneten Zugangs oder auch einer Zugangskombination. Wenn möglich, sollte der vorbestehende Zugang verwendet oder erweitert werden. Vom Typ bzw. Ausmaß der periprothetischen Fraktur abhängig ist des Weiteren zu entscheiden, ob eine alleinige Osteosynthese und/oder ein Pfannenwechsel erfolgen muss. Außerdem muss im Fall einer Hemiprothese ggf. ein Wechsel auf eine Totalendoprothese erwogen werden. Im intraoperativen Fall einer erkannten Acetabulumfraktur bei Hüftprothesenimplantation oder Wechsel ist eine Anpassung der Pfannenverankerung vorzunehmen [30]. Bei frühzeitig postoperativ erkannten intraoperativen Frakturen sollten bei gegebener Stabilität engmaschige Röntgenkontrollen durchgeführt werden (sog. Subgruppe 1 nach Benazzo), wohingegen übersehene Frakturen mit entsprechender Pfannenmigration oder Diskontinuität (sog. Subgruppe 2 nach Benazzo) der frühen Revision zuzuführen sind [2]. Tabelle 2 und 3 zeigen eine Übersicht der möglichen Zugangswege und des empfohlenen Implantatportfolios.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4