Originalarbeiten - OUP 03/2012
Videorasterstereographische Funktionsdiagnostik zur Ermittlung der lumbalen Wirbelsäulenbeweglichkeit – eine PilotstudieFunctional diagnosis of lumbar flexibility by means
of video rasterstereography – a pilot study
of video rasterstereography – a pilot study
Die Oberflächenvermessung des Rückens wurde mit Hilfe der Videoraster-stereographie (Formetric®-System) durchgeführt (Abb. 1A). Hierbei wurde ein Raster parallel verlaufender Linien auf die Rückenoberfläche projiziert (Abb. 1B). Das genormte Raster wurde durch die Oberflächenform deformiert und von einer Videokamera aufgenommen. Jeder Punkt auf der Rückenoberfläche konnte mit einer Auflösung von 10 Pkt./cm² – ca. 7.500 Pkt. bei durchschnittlicher Körpergröße – und mit einem Fehler von weniger als 0,2 mm stereometrisch durch bekannte geometrische Verhältnisse zwischen Kamera und Diaprojektion errechnet werden [18]. Krümmungen der Oberfläche wurden ausgehend von jedem Punkt auf der Oberfläche errechnet, indem ihre relative Lage zu den benachbarten Punkten jeweils in x- und y-Richtung beurteilt wurde, sodass ein virtuelles Abbild der Rückenoberfläche rekonstruiert wurde, das konkave, konvexe oder sattelförmige Krümmungen haben konnte [18] (Abb. 1C).
Die Rekonstruktion der Rückenoberfläche war unabhängig von der Stellung der Person im Raum, weil jeder Punkt auf ein Koordinatensystem relativiert wurde, dass anhand automatisch detektierter prominenter Strukturen auf der Rückenoberfläche errechnet wurde: der konvexe Vertebra prominens und der konkave Sakrumpunkt (Beginn der rima ani) bildeten die y-Achse und die konkaven Lumbalgrübchen (Dimple) die x-Achse [18]. Zusätzlich wurden Hilfspunkte auf der Dornfortsatzlinie automatisch detektiert (Abb. 4C).
Mit Hilfe des Formetric®-Systems konnte die Wirbelsäulenform dreidimensional – in der Sagittal-, der Frontal- und der Coronalebene – rekonstruiert werden, im vorliegenden Zusammenhang interessierte jedoch lediglich die Lateralprojektion mit den Kennziffern zur Beschreibung der sagittalen Wirbelsäulenform (Abb. 1D). Der Lordosewinkel (Lw-max) wurde als eingeschlossener Winkel der Tangenten am geometrischen Wendepunkt (inflectional point) des thorakolumbalen (ITL) Übergangs und der Tangente am geometrischen Wendepunkt (inflectional point) des lumbosakralen (ILS) Übergangs definiert. Der Lordosewinkel konnte videorasterstereographisch hochreliabel bestimmt werden: ICC = 0,99 [17].
Testung der lumbalen Beweglichkeit in der Hyperextension
Damit die automatische Erkennung prominenter Strukturen auf der Rückenoberfläche – bei einem Kamerablickwinkel von schräg oben (Abb. 1A) – auch in der maximalen Hyperextension fehlerfrei funktionieren konnte, wurde der Vertebra prominens für die Funktionsaufnahme besonders präsentiert. Hierfür nahmen die Probanden – unabhängig von einer initialen ‚nativen’ Normalaufnahme im freien bipedalen Stand – in einer weiteren Aufnahme aufrecht stehend ihren Kopf zwischen beide Hände, schlossen die Ellenbogen vor dem Kopf und brachten ihre Hals- und Brustwirbelsäule in eine artifizielle Kyphosierung: ‚Basalaufnahme’. Die nachfolgende Funktionsaufnahme in maximaler Hyperextension wurde bei gleichartiger Kyphosierung erstellt und der kyphosierten ‚Basal’-Aufnahme gegenübergestellt, um beweglichkeitsassoziierte Veränderungen des Lordosewinkels zu ermitteln. Ausweichbewegungen der Wirbelsäule in der Frontalebene konnten kontrolliert werden und waren in gültigen Messungen nur geringfügig (Abb. 2).
In der maximalen Hyperextension mussten die Probanden einerseits das Gleichgewicht halten, andererseits mussten Ausweichbewegungen – Kniebeugung und Vorschieben der Hüfte – vermieden, bzw. standardisiert werden. Durch die Verwendung einer taktilen Hilfestellung, einer Querlatte an der Oberschenkelrückseite, sollten Ausweichbewegungen kontrolliert werden: die Probanden mussten sowohl während der Basal- als auch während der Funktionsaufnahme ständig Kontakt zur Querlatte halten (Abb. 2).
Testung der Beweglichkeit im Rumpfbeugetest
Für die Testung der Rumpfbeweglichkeit in der Sagittalebene nach ventral, wurde ein standardisierter ‚Rumpfbeugetest im Stehen’ durchgeführt. Der Testaufbau war standardisiert und beinhaltete nur wenige Testanweisungen:
– Der Proband stand – ohne Schuhe – auf einer Bank, an der eine Schiebe-Schalter-Vorrichtung angebracht war.
– Die Fingerspitzen des Mittelfingers sollten am ‚Schieber’ so positioniert sein, dass sie nach bündig mit der ‚Schieberunterkante’ endeten.
– Die Beine mussten während der maximalen Rumpfbeuge im Kniegelenk gestreckt bleiben.
Die Skala der Testvorrichtung wies jeden Zentimeter eine Markierung auf und war so eingestellt, dass auf Fußsohlenniveau der Wert ‚Null’ vorlag. Die Flexionsbeweglichkeit konnte mit einer Auflösung von – gepeilt – einem halben Zentimeter an der Unterkante des ‚Schiebers’ abgelesen werden (Abb. 3).
Die Testung wurde drei mal wiederholt, der beste Wert wurde als gültiger Versuch gewertet und stand der statistischen Verarbeitung zur Verfügung. Testaufbau und Testanweisungen orientierten sich an standardisierten Vorgaben, die eine hohe Testzuverlässigkeit erwarten ließen: rtt = 0,92 [20].
Untersuchungsablauf
Die Probanden führten zunächst unaufgewärmt den Rumpfbeugetest durch, wobei der beste von drei Versuchen gewertet wurde. Im Anschluss wurde eine herkömmliche videorasterstereographische Aufnahme im freien bipedalen Stand (nativ), eine artifiziell kyphosierte Aufnahme aufrecht stehend (basal) und schließlich die Funktionsaufnahme in maximaler Hyperextension durchgeführt, wobei die Differenz von der Basalaufnahme zur Funktionsaufnahme als abhängige Variable zur Operationalisierung der lumbalen Beweglichkeit der statistischen Auswertung zugeführt wurde. Zur Bestimmung der Reliabilität wurde der gesamte Ablauf im Anschluss an eine kurze Rückmeldung an die Probanden wiederholt (Abb. 4).
Statistische Methoden
Die Stichproben wurden parametrisch durch Mittelwert und Standardabweichung beschrieben (MW ± SD). Stichprobenunterschiede wurden non-parametrisch geprüft (U-Test nach Mann/Whitney); Signifikanz wurde bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p ≤ 0,05 akzeptiert. Für Zusammenhangsanalysen wurde der Pearson-Korrelationskoeffizient (rxy) und das Bestimmtheitsmaß (r²) auf Intervallskalenniveau und vor dem Hintergrund der kleinen Stichprobe ergänzend Spearman’s Rho (rs) auf Ordinalskalenniveau berechnet. Für einen Einzelfall wurde die Merkmalsstabilität mit Hilfe des Variationskoeffizienten (VK%) operationalisiert.
Ergebnisse
Frauen und Männer wiesen in den ermittelten Kennziffern weder in der nativen Aufnahme, noch in der Veränderung zwischen Nativ- und artifiziell kyphosierter Basalaufnahme, noch in der ermittelten lumbalen Hyperextension signifikante Unterschiede auf (p > 0,05), auch wenn die geschlechtsbedingten Unterschiede deskriptiv zunächst bedeutsam wirkten (Tab. 2).