Originalarbeiten - OUP 04/2025

Warum reißt das vordere Kreuzband im Profifußball?
Quadrizepskontraktion – ein neuer Unfallmechanismus

Jens Richter, Sven Behrendt, Thomas Henke, K. Donald Shelbourne, Jens-Peter Stahl

Zusammenfassung:
Vordere Kreuzbandrupturen (VKB) zählen zu den schwerwiegendsten Verletzungen im Profifußball. Während frühere Studien den Valguskollaps als Hauptursache betrachteten, soll untersucht werden, ob eine explosive Quadrizepskontraktion ebenfalls eine eigenständige Verletzungsursache darstellt.
Material und Methoden: In einer retrospektiven Analyse durch 3 unabhängige Untersucher wurde Videoaufnahmen aus den 1. europäischen und mittelamerikanischen Ligen mit männlichen Profifußballern, die einer VKB-Ruptur erlitten, untersucht. Rupturen zwischen 2012 und 2021 wurden eingeschlossen, die Unfallsituationen und die Verletzungsmechanismen kategorisiert und die zum Knie angrenzenden Gelenke bewegungsanalytisch untersucht.
Ergebnisse: 33 Unfallvideos wurden identifiziert. 67 % der Rupturen traten ohne direkten Kontakt auf, wobei in 48,5 % eine übermäßige Quadrizepskontraktion eine vordere Tibiatranslation/Schublade auslöste. Diese war an dem snap-back-Phänomen indirekt zu erkennen. Besonders betroffen waren offensive Spieler (42,4 % der Verletzungen), gefolgt von Abwehrspielern (27,3 %). Das Unfallmechanismus-Analysemuster ergab, dass dynamische Valgusstellungen (33,3 %) und isolierte Quadrizepskontraktionen (15,2 %) signifikante Risikofaktoren sind. Besonders gefährdet sind Spieler in instabilen Körperpositionen, die reflexartig ihre Quadrizepsmuskulatur aktivieren, um ihre Körperposition zu stabilisieren.
Schlussfolgerungen: Die explosive Quadrizepsaktivierung kann eine ventrale Schublade provozieren und die Reißfestigkeit des VKB übertreffen. Präventionsprogramme sollten damit nicht nur statische Valguskollaps-Situationen, sondern auch die neuromuskuläre Kontrolle der Quadrizeps-Hamstrings-Interaktion verbessern.

Schlüsselwörter:
Vorderes Kreuzband, Rupturmechanismus, Quadrizeps, Prävention, Videoanalyse, Fußball

Zitierweise:
Richter J, Behrendt S, Henke T, Shelbourne KD, Stahl J-P: Warum reißt das vordere Kreuzband im Profifußball? Quadrizepskontraktion – ein neuer Unfallmechanismus
OUP 2025; 14: 174?178
DOI 10.3238/oup.2025.0174-0178

Summary: Anterior cruciate ligament (ACL) ruptures are among the most serious injuries in professional soccer. While previous studies considered valgus collapse as the main cause, the aim of this study was to investigate whether explosive quadriceps contraction is also an independent cause of injury.
Material and Methods: In a retrospective analysis, video recordings from the 1st European and Central American leagues with male professional soccer players who suffered an ACL rupture were examined by three independent investigators. Ruptures between 2012 and 2021 were included, the accident situations and injury mechanisms were categorized and the joints adjacent to the knee were motion analyzed.
Results: 33 accident videos were identified. 67 % of the ruptures occurred without direct contact, with an tibial anterior translation/drawer triggered by excessive quadriceps contraction in 48.5 %. This was indirectly recognizable by the snap-back phenomenon. Offensive players were particularly affected (42.4 % of injuries), followed by defensive players (27.3 %). The analysis of the accident mechanism pattern revealed that dynamic valgus positions (33.3 %) and isolated quadriceps contractions (15.2 %) were significant risk factors. Players in unstable body positions who reflexively activate their quadriceps muscles to stabilize their body position are particularly at risk.
Conclusions: Explosive quadriceps activation can provoke a ventral drawer and exceed the tensile strength of the ACL. Prevention programs should thus improve not only static valgus collapse situations but also neuromuscular control of quadriceps-hamstrings interaction.

Keywords: acl, injury mechanism, quadriceps force, prevention, video analysis, soccer

Citation: Richter J, Behrendt S, Henke T, Shelbourne KD, Stahl J-P: Why does the ACL tear in pro-soccer?
Quadriceps contraction – a new injury mechanism
OUP 2025; 14: 174?178. DOI 10.3238/oup.2025.0174-0178

J. Richter, J.-P. Stahl: 1. Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum Dortmund, Universität Witten/Herdecke

S. Behrendt: Praxis für Knie- und Schulterchirurgie, Dortmund

T. Henke †: Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung, Fakultät für Sportwissenschaft Ruhr-Universität Bochum

D. Shelbourne: Shelbourne Knee Center Indianapolis, USA

Einleitung

Rupturen des vorderen Kreuzbandes (VKB) zählen zu den life-changing und karrieregefährdendsten Verletzungen im professionellen Fußball. Die durchschnittliche Inzidenz in europäischen Profiligen zeigt, dass mindestens ein Spieler pro Mannschaft alle 2 Jahre eine VKB-Verletzung erleidet [19]. Intrinsische Risikofaktoren, wie anatomische Variationen, neuromuskuläre Defizite und hormonelle Einflüsse [3, 14] interagieren mit extrinsischen Faktoren wie Spielfeldbeschaffenheit, Schuhwerk und Spielintensität [1, 3, 10]. Aus deutschen Sport-Ligen fehlen reliable Daten zur Inzidenz von VKB-Rupturen [12]. Amerikanische Arbeiten und die deutsche VBG-Analyse [12] machen deutlich, dass Angriffsspieler in der gegnerischen Hälfte (Sturm), bzw. Abwehrspieler in der eigenen Hälfte unter Wettkampfsituationen, im Gegensatz zu Trainingsspielen, das höchste Risiko haben [5]. Es handelt sich hierbei um dynamische Spielsituationen mit intuitiven und schnellen Richtungswechseln [12]. Kontrollierte Spielaktionen, wie z.B. der Strafstoß, haben demgegenüber kaum ein Risiko.

Bis zu 70 % der VKB-Rupturen entstehen in Non-Kontakt-Situationen [2]. Als Ursache wird traditionell der Valguskollaps mit einer Innenrotation des Oberschenkels und geringen Kniebeugung betrachtet [9, 15, 17]. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass eine explosive Quadrizeps-Muskelkontraktion eine vordere Tibiaschublade erzeugt, die das VKB überlastet [9].

Ziel dieser Studie war es, diesen neuartigen Mechanismus in professionellen Fußballspielen zu analysieren und seine Bedeutung für die Prävention von VKB-Verletzungen zu evaluieren.

Material und Methode

Für diese retrospektive Studie wurde eine Studienpopulation aus männlichen Profifußballspielern der Jahre 2012 bis 2021 herangezogen, deren Verletzungsvideos frei auf YouTube zugänglich waren (1. europäische Ligen sowie Mittelamerika: Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, Vereinigtes Königreich, Mexiko). Zur Auswahl der YouTube-Videos wurden die Suchbegriffe „ACL injury“, „severe knee injury“ und „soccer injury“ verwendet. Die Verletzung wurde dann in einer internationalen Fußballdatenbank („Transfermarkt“) sowie durch Einträge in sozialen Medien und Google überprüft. Es wurden nur Videos berücksichtigt, die sich auf die Profi-Fußballligen bezogen und durch Nahaufnahmen eine Analyse der Bein- und Kniebewegungen während des Unfallzeitpunktes ermöglichten. Exkludiert wurden unscharfe Bildaufnahmen und diejenigen, die keine Beurteilung der Kniebewegungen zuließen.

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