Übersichtsarbeiten - OUP 04/2021
Antikörpertherapie bei Arthrose?
Auch nach Abschluss der Entwicklung bleibt NGF für die Aufrechterhaltung des Phänotyps (die Antworteigenschaften) von trkA-positiven Nozizeptoren von Bedeutung. Das Abfangen und damit die Neutralisierung von endogenem NGF durch ein synthetisches trkA-IgG-Fusionsmolekül über Wochen erzeugte eine anhaltende thermale und chemische Hypoalgesie, also eine veminderte Schmerzempfindlichkeit für thermische und chemische Reize [17]. Um diese Effekte zu verstehen, muss man die Signalwege von NGF kurz betrachten.
In den Nozizeptoren befindet sich der trkA-Rezeptor in der Zellmembran der sensorischen Endigung im Gewebe und ist damit für NGF erreichbar (Abb. 1). Nach Bindung von NGF an die extrazelluläre Bindungsstelle des trkA-Rezeptor wird eine intrazelluläre Domäne aktiviert, die eine Tyrosinkinasefunktion ausübt. Durch die Tyrosinkinaseaktivität werden Tyrosinreste von Proteinen und Ionenkanälen phosphoryliert. Das Anhängen eines Phosphatrestes an einen Ionenkanal erhöht dessen Öffnungswahrscheinlichkeit, wodurch die Empfindlichkeit von sensorischen Nervenendigungen für Reize gesteigert wird. Außerdem wird der gesamte NGF/trkA-Komplex in die Zelle aufgenommen (internalisiert) und wandert retrograd von den sensorischen Endigungen zum Zellkörper, wo der Zellkern liegt. Dort beeinflusst er langfristig die Synthese von Ionenkanälen, Neuropeptiden und Rezeptoren, die dann in die Endigungen transportiert werden. Dieses Muster erklärt, weshalb NGF sowohl kurz- als auch langfristige profunde Effekte auf die Empfindlichkeit der Neurone hat.
Neuronale Effekte der
Applikation von NGF
Da die Neutralisation von endogenem NGF zu Hypoalgesie führt (s.o.), wurde untersucht, welche Effekte die Applikation von NGF an den Nozizeptoren auslösen kann. NGF führt zu einer thermischen und mechanischen Hyperalgesie, also zu einer gesteigerten Empfindlichkeit für thermische und mechanische Reize.
Induktion thermischer
Hyperalgesie
Innerhalb von 10–15 Minuten erhöht NGF in den Nozizeptoren die Ströme durch den TRPV1-Rezeptor, einen Ionenkanal, der durch Hitzereize geöffnet wird. Der TRPV1-Ionenkanal ist eine wichtige Grundlage für die thermische Hyperalgesie. Wird der TRPV1-Ionenkanal durch Phosphorylierung empfindlicher, öffnet er bereits bei warmen Temperaturen und nicht erst bei Hitzereizen. Daher entsteht eine Schmerzempfindung im Warmbereich. Zusätzlich bewirkt NGF einen vermehrten Einbau von TRPV1 in die Zellmembran.
Langfristig kommen auch die NGF-Wirkungen am Zellkern zum Tragen. Dort erhöht NGF die Synthese von spannungsgesteuerten Natriumkanälen (NaDas "v" muss tiefgestellt werden.v1.8 und Naditov1.9), Acid sensing ion channels (ASICs, Ionenkanäle, die durch Protonen geöffnet werden), und der Neuropeptide Substanz P und Calcitonin gene-related peptide (CGRP). Die Natriumkanäle sind für die Auslösung des Aktionspotentials verantwortlich, ASIC-Kanäle werden durch ein saures Milieu geöffnet, und Substanz P und CGRP lösen bei ihrer Freisetzung aus der sensorischen Endigung eine neurogene Entzündung aus. Diese Kanäle und die Neuropeptide werden in die sensorischen Endigungen transportiert. Zusätzliche Ionenkanäle, die in die Endigungen eingebaut werden, steigern die Empfindlichkeit der Neurone. Die bei noxischer Reizung vermehrt aus dem Neuron freigesetzten Neuropeptide erzeugen eine verstärkte neurogene Entzündung im Gewebe [19].
Zusätzlich aktiviert NGF Mastzellen und Neutrophile, sodass sie Entzündungsmediatoren freisetzen, die ihrerseits auf die Neurone wirken [6, 19]. Da die Sensibilisierung für thermische Reize durch NGF durch Sympathektomie reduziert wird, wird angenommen, dass NGF auch über den Sympathikus auf sensorische Neurone wirkt [6, 19].
Induktion mechanischer
Hyperalgesie
Dieser Effekt wurde besonders im tiefen somatischen Gewebe, z.B. im Skelettmuskel und in den Faszien nachgewiesen. Die Hyperalgesie tritt 10–90 Minuten nach NGF-Injektion auf und kann mehrere Tage anhalten. Nach wiederholter NGF-Applikation kann sich die Hyperalgesie räumlich ausdehnen, was für eine Beteiligung zentralnervöser Mechanismen spricht. Der molekulare Mechanismus der mechanischen Hyperalgesie ist noch unklar. Wahrscheinlich modifiziert NGF Ionenkanäle, die (auch) durch mechanische Reize geöffnet werden, z.B. Piezo2, TRPV4, TRPA1, ASICs [19]. So sensibilisiert NGF auch „stumme Nozizeptoren“ für mechanische Reize [21]. „Stumme Nozizeptoren“ haben eine sehr hohe Erregungsschwelle und antworten erst dann auf mechanische Reize, nachdem sie durch eine Entzündung sensibilisiert wurden [10]. Der zusätzliche Einbau von Natriumkanälen unter der Kontrolle von NGF kann die Effekte verstärken [19].
Pathologische Bedeutung von NGF
Da exogenes NGF eine Hyperalgesie verursacht, stellt sich sofort die Frage, ob schmerzhafte Krankheitszustände mit einer Erhöhung von endogenem NGF verbunden sind und ob endogenes NGF relevant für die Schmerzentstehung ist. Im Jahr 1992 wurde NGF in Synovialflüssigkeit und Synovialgewebe von Patienten mit chronischer Arthritis gefunden [1]. Experimentelle Pionierstudien zeigten eine NGF-Beteiligung bei entzündungsbedingter Hyperalgesie. Neutralisierung von NGF durch das trkA-IgG-Fusionsmolekül reduzierte die Entstehung thermaler Hyperalgesie [17] und die Antwort von Nozizeptoren auf Hitzereize [14]. In einem chronischen Entzündungsmodell schwächte ein Antikörper gegen NGF die mechanische und thermische Hyperalgesie ab, wobei die Entzündung selbst durch den Antikörper nicht reduziert wurde [27]. Inzwischen belegen zahlreiche experimentelle und klinische Studien eine Hochregulation von NGF in schmerzhaften Krankheitszuständen.
Muskuloskelettale
Erkrankungen
Erhöhte NGF-Spiegel wurden in der Synovialflüssigkeit und im Synovialgewebe von Patienten mit chronischer rheumatoider Arthritis und Arthrose gefunden [1]. NGF kann von zahlreichen Zellen des Knorpels, des Meniskus und des Synoviums sezerniert werden [2, 3]. Dazu gehören Eosinophile, Lymphozyten, Makrophagen, Mastzellen, Fibroblasten. Zwischen der Schmerzhaftigkeit von Gelenken und der NGF-Konzentration besteht ein Zusammenhang [19]. Im Tierexperiment verstärkte die intraartikuläre NGF-Injektion das Schmerzverhalten bei experimenteller Arthrose [3].
NGF kann auch bei chronischen Rückenschmerzen (chronic low back pain) eine Rolle spielen. So bilden geschädigte Bandscheiben NGF besonders dann, wenn Schmerzen bestehen [19]. Auch das Schmerzbild “Delayed Onset Muscle Soreness” (DOMS, eine verzögert eintretende Schmerzhaftigkeit), das durch Muskelkontraktionen entsteht, ist mit einer Erhöhung von NGF verbunden, ohne dass dabei Entzündungszeichen auftreten [19].