Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016
Botulinumtoxin – mögliche Indikationen in O & U
Axel Schulz1, Stephan Grüner2, Marcela Lippert-Grüner3
Zusammenfassung: Die Behandlung von akuten und chronischen Schmerzzuständen am Bewegungsapparat ist wesentlicher Bestandteil der täglichen orthopädisch-unfallchirurgischen Praxis. Bei therapierefraktären Schmerzen, die auf die bereits etablierten Therapieverfahren nicht ausreichend ansprechen, wird nach neuen Optionen gesucht, die als weitere Therapieformen Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung bieten. Botulinumtoxin ist eine mögliche weitere Option zur konservativen Behandlung bestimmter therapierefraktärer Schmerzzustände, die in den vergangenen Jahren in den Fokus gerückt ist. Im Folgenden wird ein aktueller kritischer Überblick über mögliche Indikationen der Substanz in Orthopädie und Unfallchirurgie gegeben sowie die Möglichkeiten, aber auch gegebene Grenzen im Einsatz von Botulinumtoxin bei therapierefraktären Schmerzen in Orthopädie und Unfallchirurgie skizziert.
Schlüsselwörter: Botulinumtoxin, therapierefraktäre Schmerzzustände, On-label-Indikationen, Off-label-Indikationen, zervikale Dystonie, chronische Migräne, fokale Spastizität, Epikondylitis humeroradialis, Plantarfasciitis, myofasziale Schmerzen
Zitierweise
Schulz A, Grüner S, Lippert-Grüner M: Botulinumtoxin – mögliche Indikationen in O & U.
OUP 2016; 4: 218–221 DOI 10.3238/oup.2016.0218–0221
Summary: Treatment of acute and chronical pain condition in musculoskeletal system is an important part of daily orthopaedic practice. In therapy-refractory pain with insufficient respond on established therapies new options are evaluated to achieve new tools for a successful treatment. Botulinumtoxin is a possible further option in conservative treatment of certain therapy-refractory pain conditions, getting closer in the focus in the last years. In following there is an actual critical overview on possible indications for this substance in orthopaedic and trauma surgery, showing the opportunities and limitations for using of Botulinumtoxin in therapy-refractory pain.
Keywords: Botulinumtoxin, therapy-refractory pain conditions, on-label indications, off-label indications, cervical dystonia, chronical migraine, focal spasticity, epikondylitis humeroradialis, plantar fasciitis, myofascial pain
Zitierweise
Schulz A, Grüner S, Lippert-Grüner M: Botulinumtoxin – possible indications in orthopaedic & trauma surgery.
OUP 2016; 4: 218–221 DOI 10.3238/oup.2016.0218–0221
Einleitung
Um 1700 als tödliches Gift („Wurstgift“) erkannt und 1815 vom schwäbischen Arzt und Dichter Julius Kerner erstmals wissenschaftlich beschrieben, hat Botulinumtoxin mit der Indikation zur Behandlung des Strabismus in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts Einzug in therapeutischen Maßnahmen gehalten, deren erste klinische Ergebnisse im Jahre 1981 veröffentlicht worden sind [1]. Bisher wurden 8 verschiedene Subtypen (A, B, C1, C2, D, E, F, G und H) des Botulinumtoxins isoliert, von denen bisher 2 (A, B) therapeutisch genutzt werden.
Botulinumtoxin verhindert die präsynaptische Freisetzung von Acetylcholin an der motorischen Endplatte. Diese irreversible Hemmung führt zur Störung der neuromuskulären Übertragung und somit zu einer Schwächung der Muskulatur, die nach wenigen Tagen eintritt und über eine Zeit von im Regelfall 3–6 Monaten anhält. Binnen weniger Wochen nach der Behandlung mit Botulinumtoxin kommt es an der motorischen Endplatte zur kollateralen Aussprossung von Axonen und schließlich zur Restitution der neuromuskulären Synapse und zur Kraftzunahme des behandelten Muskels.
Im Zusammenhang mit der peripheren Sensibilisierung wurde für Botulinumtoxin gezeigt, dass es die Freisetzung von CGRP (Calcitonin-Gen-Related-Protein) hemmt. Diese Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung könnte die afferente Signaltransduktion zum Rückenmark vermindern und einer peripheren Sensibilisierung positiv entgegenwirken [6].
Die Behandlung mit Botulinumtoxin kann wiederholt werden, jedoch sollte ein Intervall von ca. 12 Wochen zwischen den Behandlungen eingehalten werden, um der Gefahr der Ausbildung von Antikörpern gegen das Toxin entgegenzuwirken. Die Antikörperrate ist je nach Präparat sehr gering und bei einem Präparat sogar bisher nicht nachgewiesen. Die Behandlung mit Botulinumtoxin setzt die Kenntnis von der Pharmakologie der Toxindarreichungsformen voraus, über die individuellen Dosierungen der Substanz bei den verschiedenen Indikationen und eine Ausbildung der Injektionstechniken.
Botulinumtoxinpräparate (Tab. 1) sind von verschiedenen pharmazeutischen Herstellern verfügbar, die jedoch nicht – wie z.B. bei den Generika – aufgrund des gleichen Wirkstoffs 1:1 austauschbar sind, dies weder im Hinblick auf die Dosierungen noch auf die zugelassenen Indikationen.
Neben diesen On-label-Indikationen existieren in der Orthopädie und Unfallchirurgie zahlreiche Indikationen wie z.B. therapierefraktäre Formen der Epikondylitis humeroradialis, der Plantarfasciitis und der myofascialen Schmerzsyndrome. Hier existieren erste gute klinische Ergebnisse, es handelt sich aber (noch) um Off-label-Indikationen, die dementsprechend nur bei Versagen anderer Therapieverfahren nach entsprechender Patienteninformation und Aufklärung zu diskutieren sind.
Vor jeder Injektion ist nicht nur grundsätzlich zu prüfen, ob es sich um eine In-label- oder Off-label-Indikation handelt, sondern auch zu prüfen, ob das spezifische Medikament für die Indikation eine Zulassung im entsprechenden Land besitzt. So kann ein Präparat Typ BoNT-A für eine Indikation zugelassen sein, ein anderes Präparat Typ BoNT-A dagegen nicht, ferner bestehen teilweise je nach Land für das gleiche Präparat unterschiedliche Zulassungen.
Im Folgenden werden die wesentlichen Indikationen der Substanz Botulinumtoxin in der orthopädisch-unfallchirurgischen Schmerztherapie dargestellt.
Zervikale Dystonie
Die zervikalen Dystonien stellen die häufigste Art fokaler Dystonien dar. Im Rahmen der Therapie zervikaler Dystonien kommt es auf eine genaue phänomenologische Einteilung an, die eine gezielte Adressierung mit Botulinumtoxin erlaubt [2]. Die Mehrheit der Patienten mit einer zervikalen Dystonie präsentiert eine Kombination aus einem Rotations-Tortikollis mit einem Laterokollis [3].
Eine Behandlung mit Botulinum Toxin A (BoNT-A) oder Botulinum Toxin B (BoNT-B), natürlich in Kombination mit einer entsprechenden physiotherapeutischen Behandlung, hat sich als Methode der ersten Wahl bei der zervikalen Dystonie etabliert und wird dementsprechend in der deutschen AWMF-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie empfohlen [4]. Die selektive periphere Denervierung der betroffenen Muskelgruppen durch lokale Injektion von Botulinumtoxin führt bei 60 % der Patienten mit zervikaler Dystonie zu einer deutlichen Verbesserung und bei über 90 % der Patienten zu einer mindestens geringen Verbesserung der Beschwerden, wie aktuelle Daten aus dem CD PROBE Register zeigen. 26,2 % der Patienten des Registers zeigten unerwünschte Begleitreaktionen, von denen insbesondere Muskelschwäche (7 %) und Dysphagie (6,4 %) zu erwähnen sind [7].