Übersichtsarbeiten - OUP 07/2019
Craniomandibuläre Dysfunktion – eine oft nicht beachtete Komorbidität des nicht-spezifischen RückenschmerzesRetrospektive Praxisstudie mit 652 CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten
Für Rückenschmerzen belaufen sich die indirekten Kosten für das Jahr 2006 in Deutschland auf knapp 49 Milliarden Euro, was etwa 2,2 % des deutschen Bruttoinlandprodukts ausmacht. Die jährlichen direkten Kosten für Rückenschmerzen werden mit 4,2 Milliarden Euro veranschlagt [31].
Seit vielen Jahren wird auf die Wechselwirkung der Kieferfehlstellung zur Fehlstellung im Haltungsapparat hingewiesen. Kieferbewegungen sind über ein neuronales Koordinationsnetzwerk immer auch mit Bewegungen des Kopfs und des Nackens verbunden. Dies erklärt, dass eine funktionelle Störung im Kiefergelenk immer zu einer Verstellung im Arthron der Kopfgelenke und somit zu einer craniocervikalen Dysfunktion führen muss – vice versa. Wenn also eine CMD nachgewiesen ist, ist immer auch eine Blockierung, eine funktionelle Störung im Bereich der Kopfgelenke nachweisbar – ebenso wie bei jeder Kopfgelenkblockierung eine Störung im craniomandibulären Bereich vorliegt. Diese Störungen führen, fortgeleitet über die posturale Muskulatur, zu einer Störung des gesamten Haltungsapparats. Somit müssen Kiefer-, Kopfgelenk- und Wirbelsäulenstörungen zeitgleich und gemeinsam behandelt werden, um einen therapeutischen Erfolg zu erzielen [11, 13, 17, 18, 22, 32]. Trotz dieser Zusammenhänge wird die CMD bei den Therapieempfehlungen chronischer Schmerzen nicht oder nur selten erwähnt.
Anhand einer retrospektiven Studie mit 652 bislang therapieresistenten chronischen Rückenschmerzpatienten soll untersucht werden, ob durch das Einbeziehen der CMD in das interdisziplinäre, multimodale Behandlungskonzept zeitgleich und kombiniert mit manualtherapeutischen Maßnahmen nicht doch noch eine Besserung der Beschwerden erzielt werden kann. Bei allen 652 Rückenschmerzpatienten wurden funktionelle Wirbelsäulenstörungen (FWS) und craniocervikale Dysfunktionen (CCD) diagnostiziert, die in Wechselwirkung zu craniomandibulären Dysfunktion (CMD) standen.
Material und Methode
Patientenkollektiv
Die Basis der vorliegenden Studiengruppe bildeten 942 CMD/ CCD Patienten aus den Jahren 1997 bis 2014. Die Studienpatienten wurden durch eine retrospektive Datenanalyse der vorliegenden digitalisierten Patientenakten der teilnehmenden Einrichtungen requiriert, Patienten mit inkompletter Akte, z.B. fehlende Untersuchungsdaten, oder Patienten, bei denen keine vollständige Dokumentation der Follow-up-Termine vorlagen, wurden aus der Datengrundlage aussortiert. Haupteinschlusskriterium war die Diagnose einer CMD/CCD in der Patientenakte. Die Erstanamnese beim Zahnarzt wurde über einen vom Patienten zu Hause ausgefüllten und im Vorfeld zurückgesandten Schmerzanamnesebogen erhoben. Eine 30- bis 60-minütige mündliche Befragung durch die Autorin ergänzte den Fragebogen und verifizierte das Schmerzgeschehen. Die Befragung und der Schmerzfragebogen beinhalteten eine Ganzkörperanalyse und eine spezielle Analyse der CMD-Beschwerden. Der Therapieverlauf wurde nach kombinierter und zeitgleicher zahnärztlicher und manualmedizinischer Behandlung der CMD/CCD schrittweise dokumentiert und bei jeder Kontrollsitzung notiert. Wir konnten so 328 männliche und 614 weibliche Studienteilnehmer identifizieren. Weitere Einschlusskriterien waren, dass die vorliegenden FWS-, CCD- und CMD-Dysfunktionen und Beschwerden für mindestens 3 Monate angehalten haben müssen.
Diagnose der craniomandibulären Dysfunktion
Die CMD wurde entsprechend den Empfehlungen des International College of Cranio-Mandibular Orthopedics (ICCMO) und der Deutschen Gesellschaft für Muskuloskelettale Medizin (DGMSM) gestellt. Die diagnostischen Kriterien, die von diesen Studiengruppen zugrunde gelegt werden, implizieren die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) und die der Research Diagnostic Criteria for TMD (RDC/TMD), bieten im neuromuskulären Ansatz aber ein weiteres diagnostische Spektrum. Die instrumentelle Funktionsuntersuchung (Magnetkinesiografie, Elektromyografie, Elektrosonografie) erfolgte mit dem K7 der Firma Myotronics, Seattle. Eine detaillierte Schilderung der CMD-Untersuchung ist der Veröffentlichung Losert-Bruggner, Hülse zu entnehmen [17, 18].
Diagnose der craniocervikalen Dysfunktion
Zusätzlich zu der elektromyografischen Untersuchung wurde die CCD durch eine manualmedizinische Untersuchung diagnostiziert. Bei der etagenweisen Untersuchung der Halswirbelsäule imponiert zunächst eine endgradige Bewegungseinschränkung im Bereich einzelner Wirbelgelenke sowohl bei der aktiven als auch bei der passiven Bewegungsprüfung. Unterschieden werden muss hierbei eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung in der Divergenz- oder in der Konvergenzbewegung. Faszien, Muskeln und Gelenkkapseln sind druckschmerzhaft palpabel. Bei geübter Palpation finden sich hierbei auch zwischen verschiedenen Untersuchern reproduzierbare Ergebnisse. Bei allen Patienten wurden folgende Untersuchungen zusätzlich zur Bestätigung der CCD-Diagnose durchgeführt: Patrick-Kubis-Test, Mersseman-Test, thorakolumbale Rotation und den Leg-turn-in-Test. Eine detaillierte Schilderung der CCD-Untersuchung ist den Veröffentlichungen Hülse und Losert-Bruggner et al. zu entnehmen [13, 17, 18].
Der Aqualizertest
Der Aqualizertest ist ein schnell und einfach durchzuführender Test zur Überprüfung, ob sich die Kieferstellung auf die Körperperipherie auswirkt. Der Aqualizer ist ein mit Wasser gefülltes Polster, das zur Unterbrechung der Kauflächen zwischen die Zahnreihen des Ober- und Unterkiefers gelegt wird. Durch dieses „Wasserbett“ kann sich die Muskulatur für den Unterkiefer die Position suchen, in der sie sich entspannen kann. Der Patient sollte 1–2 Minuten mit diesem Kissen auf und ab gehen. Danach werden z.B. Beinlänge und Hüftblockade kontrolliert. Wenn die Beinlängendifferenz jetzt nicht mehr nachweisbar ist und sich die Hüftblockade verringert hat, ist das ein eindeutiger Beweis dafür, dass die CMD die funktionellen Wirbelsäulenstörungen mit unterhält [33].
Therapeutisches Vorgehen
bei der kombinierten
und zeitgleichen
CMD/CCD-Behandlung
Die CMD wurde mittels neuromuskulär und myozentrisch ausgerichteter Aufbissschiene behandelt. Die Aufgabe der Aufbissschiene ist die physiologische Neuzentrierung der Kiefer- und Kopfgelenke und die Beseitigung funktioneller Wirbelsäulenstörungen. Zeitgleich und kombiniert zur Aufbissschienentherapie erfolgte die manualtherapeutische Behandlung der funktionellen Wirbelsäulenbeschwerden. Bei der Herstellung der Aufbissschiene und der Ermittlung der myozentrischen Kieferrelation wurden die neuromuskulären Gesichtspunkte nach Jankelson berücksichtigt [14]. Voraussetzung für die Kieferrelationsbestimmung war eine entspannte Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur. Die Muskelspannung wurde im Ausgangszustand und nach den Entspannungsmaßnahmen vor der Bissnahme über das Elektromyogramm kontrolliert. Als Entspannungsmaßnahmen dienten manualtherapeutische Behandlungen, insbesondere auch die Atlasimpulstherapie nach Arlen in Verbindung mit niederfrequenter TENS-Therapie der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur [14]. Diese Maßnahmen wurden auch direkt vor dem Eingliedern und Einschleifen der Aufbissschiene durchgeführt. Die Qualität der Bissnahme für die Aufbissschiene wurde über manualmedizinische Testungen (Beinlänge, Hüftabduktion) überprüft. Die Schiene wurde bis zur Stabilisierung der kybernetischen Einheit Kiefer- und Kopfgelenk immer getragen, auch zum Essen. Die Nachbetreuung der Schiene erfolgte zeitgleich und kombiniert zu manualtherapeutischen Maßnahmen zur Verbesserung der funktionellen Störungen des Halte- und Stützapparats. Nach den Entspannungsmaßnahmen und vor der Bissnahme für die Aufbissschiene oder vor dem Einschleifen der Schiene wurde der Zahnkontakt mittels Aqualizer abgepuffert. Zum Einschleifen und zur Kontrolle der Aufbissschiene haben sich folgende Sitzungen bewährt: 1 Tag nach Eingliederung der Schiene, 1 Woche nach Eingliederung, 2, 4, 6, 10, 16 und 24 Wochen nach Eingliederung. Danach muss individuell entschieden werden, welche Kontrollen in welchen Abständen erforderlich sind. Jeweils direkt vor dem Einschleifen der Schienen wurden neuromuskuläre Entspannungsmaßnahmen (u.a. Manualtherapie, niederfrequente TENS-Therapie der Kau-, Kopf- und Halsmuskulatur) eingeleitet. Vor den Entspannungsmaßnahmen wurde die Aufbissschiene gegen einen Aqualizer ausgetauscht, und der Patient kam mit Aqualizer zwischen den Zähnen zum Einschleifen der Schiene in die Zahnarztpraxis. Bei jeder Sitzung wurde der Beschwerdeverlauf erörtert und notiert.