Übersichtsarbeiten - OUP 07/2019

Craniomandibuläre Dysfunktion – eine oft nicht beachtete Komorbidität des nicht-spezifischen Rückenschmerzes
Retrospektive Praxisstudie mit 652 CMD-CCD-Rückenschmerz-Patienten

In einer Gesundheitsstudie (HUNT) in Norwegen untersuchten Nordstoga et al. verschiedene körperliche Einflüsse auf die Prognose von chronischen Rückenschmerzen bei 4484 Frauen und 3039 Männer in einer 11-jährigen Follow-up-Studie. 59,4 % der Frauen und 48,1 % der Männer berichteten von keiner Besserung. Personen mit bis zu 3 weiteren Schmerzbereichen im Körper hatten eine größere Chance der Besserung, während sie bei Personen mit 6–9 Schmerzbereichen deutlich verringert war. Die zunehmende Anzahl von Schmerzstellen wurde umgekehrt mit der Besserung von chronischem Rückenschmerz assoziiert [21]. Die Ergebnisse der Autoren zeigen, dass bei entsprechendem therapeutischem Vorgehen auch bei einer großen Zahl von Komorbiditäten mit hohen Chronifizierungsgrad eine Besserung erreicht werden kann.

Nakamura et al. berichten in einer japanischen Querschnittstudie, dass bei chronischen muskuloskelettalen Schmerzen die Behandlung mehr als ein Jahr dauerte und dass bei 30 % keine Verbesserung zu verzeichnen war oder es wurde sogar eine Verschlimmerung der Symptome beklagt. Mit Recht fordern die Autoren, dass das therapeutische System und die Behandlungsverfahren für chronische muskuloskelettale Schmerzen eine schnelle Überprüfung verdienen [20].

In den Leitlinien 2017 zur Therapie des nicht-spezifischen Rückenschmerzes wird erwähnt, dass eine multimodale Behandlung grundsätzlich voraussetzt, dass spezifische Störungen der Körperstrukturen ausgeschlossen wurden [3]. Die CMD ist solch eine spezifische Störung und sollte in den Untersuchungen berücksichtigt werden. Bei dem Literaturstudium imponiert aber vor allem, dass die Beschwerdebilder der CMD isoliert im Kiefer-/Gesichtsbereich gesehen werden. Eine ganzheitliche Beobachtung wird vermisst. Eine CMD verursacht ebenfalls Beschwerden im Schulterbereich, LWS-Bereich, Hüftbereich bis hinunter in den Fußbereich. Es müssen die auf- und absteigenden Ketten vom Kiefer-/Kopfgelenk bis in den Bereich der unteren Extremitäten vice versa berücksichtigt werden. Von großer klinischer Bedeutung ist nun, dass Symptome und Beschwerden nicht-spezifischer muskuloskelettaler Störungen durch konsequente Behandlung der CMD-CCD mit Manualtherapie und myozentrischer Schienentherapie positiv beeinflusst werden können. Bei 85 % der CMD-CCD-Rückenschmerzpatienten konnte eine gute bis sehr gute Besserung der bislang therapieresistenten Beschwerden im Körper und bei 90 % eine Besserung der Beschwerden im Kiefer erzielt werden.

Die CMD wird in der Literatur häufig als Folge von chronischen Krankheiten, wie dem Fibromyalgie-Syndrom, beschrieben. Dies wird geschlussfolgert, da sich CMD-Schmerzen oft erst lange nach den Schmerzen im Körper zeigen. Eine Kiefer- und Kiefergelenkfehlstellung entwickelt sich aber nicht erst im Erwachsenenalter, sondern schon in den ersten Lebensjahren und ist nicht isoliert von anderen Körperstrukturen zu betrachten. Auch wenn sich CMD-Schmerzen häufig erst nach anderen Körperschmerzen zeigen, kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die CMD als Folge dieser Beschwerden zu werten ist. Werden die Daten der vorgelegten Studie kritisch gewürdigt, muss geschlussfolgert werden, dass eine muskuloskelettale Störung zu einer CMD führen kann. Aber auch der umgekehrte Weg ist denkbar, dass eine CMD eine muskuloskelettale Störung hervorruft oder unterhält. Bei der Diagnose und Behandlung des nicht-spezifischen Rückenschmerzes muss auch eine CMD untersucht und behandelt werden.

Der hohe Leidensdruck der Patienten mit chronischen, nicht-spezifischen Rückenschmerzen macht eine direkte und suffiziente Therapieanbahnung unabdingbar. Dies hat neben der humanitären, patientenindividuellen Aufgabe auch eine bedeutende sozioökonomische Relevanz. Rückenschmerzen sind ein häufiger Anlass von Arztbesuchen. Im Rahmen des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 des Robert-Koch-Instituts gab ein Viertel aller Befragten an, in den vergangenen 12 Monaten wegen Rückenschmerzen einen Arzt aufgesucht zu haben [24]. Für Rückenschmerzen belaufen sich die indirekten Kosten ,für das Jahr 2006 auf knapp 49 Milliarden Euro, was etwa 2,2 % des deutschen Bruttoinlandprodukts ausmacht. Die jährlichen direkten Kosten für Rückenschmerzen in Deutschland werden mit 4,2 Milliarden Euro veranschlagt [31].

Limitationen

Die vorgestellte Arbeit besitzt ein rein retrospektives Studiendesign. Ein prospektiver Studienaufbau ist nötig und bereits geplant. Durch das spezialisierte Profil der beteiligten Einrichtungen könnte die Prävalenz an CMD/CCD-Patienten überproportional hoch sein. Eine weitere Arbeit (eingebettet in eine Multi-Center-Studie) ist geplant.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Literatur

1. Airaksinen O, Brox JI, Cedraschi C et al.: European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain. Eur Spine J 2006; 15: 192–300

2. Breivik H, Collett B, Ventafridda V, Cohen R, Gallacher D: Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment. Eur J Pain 2006; 10: 287–333

3. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Hrsg.): Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz – Langfassung. 2. Auflage, 2017. AWMF-Register-Nr.: nvl-007. www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz/. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) – Redaktion Nationale VersorgungsLeitlinien (letzter Zugriff am 01.05.2017)

4. Cooper BC, Kleinberg I: Examination of a large patient population for presence of symptoms and signs of temporomandibular disorders. Cranio 2007; 25: 114–26

5. Cooper, BC, Kleinberg I: Establishment of a Temporomandibular Physiological State with Neuromuscular Orthosis Treatment Affects Reduction of TMD Symptoms in 313 Patients. Cranio 2008; 26: 104–17

6. European Commission. Health in the European Union. Special Eurobarometer. 2007; 272

7. Ghurye S, McMillan R: Pain-Related Temporomandibular Disorder – Current Perspectives and Evidence-Based Management. Dent Update 2015; 42: 533–6, 539–42, 545–6

8. Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt: Chronische Schmerzen. 2002; Heft 7

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