Übersichtsarbeiten - OUP 05/2025

Das funktionelle Kompartmentsyndrom bei Kindern und Jugendlichen

Anja Hirschmüller, Christian Nührenbörger

Lernziele:

Nach der Lektüre des Artikels kennen Sie...

die Häufigkeit und die Ursachen eines funktionellen Kompartmentsyndroms

die typischen Symptome, Differentialdiagnosen und die Nachweismethode des funktionellen Kompartmentsyndroms

die Therapieoptionen des funktionellen Kompartmentsyndroms und mögliche Komplikationen in der Behandlung

Zusammenfassung:
Das funktionelle Kompartmentsyndrom (FKS) gilt als seltene, aber relevante Ursache belastungsabhängiger Schmerzen, insbesondere bei sportlich aktiven jungen Menschen. Es betrifft meist die Unterschenkel, seltener die Unterarme oder Oberschenkel. Besonders gefährdet sind Läufer (für die Unterschenkel) und Ruderer (Unterarme). Bei Kindern und Jugendlichen wird das Krankheitsbild zunehmend häufiger diagnostiziert.
Diagnostik: Das FKS ist gekennzeichnet durch einen reversiblen Druckanstieg in einem muskulären Kompartiment unter Belastung, verursacht durch unelastische Faszien und Muskelvolumenzunahme. Dies führt zu Kapillarkompression, Ischämie, Schmerzen und ggf. auch neurologischen Symptomen wie Krämpfen, Parästhesien oder Fallfuß. Risikofaktoren sind u.a. eine rasche Muskelhypertrophie, Faszienverdickung, Mikrozirkulationsstörungen, Ödeme und ein erhöhter Bindegewebstonus.
Die Diagnose stützt sich auf Anamnese, körperliche Untersuchung und bildgebende Verfahren wie MRT zum Ausschluss von Differentialdiagnosen wie einem medialen tibialen Stresssyndrom. Entscheidend für die Diagnosestellung ist jedoch die intrakompartimentelle Druckmessung vor und nach Belastung.
Therapie: Konservativ können Maßnahmen wie Belastungsmodifikation, Laufstilanpassung, Schuheinlagen, Kompressionsstrümpfe, Physiotherapie und Botox-Injektionen versucht werden. Die Erfolgsrate ist hierbei begrenzt. Operativ ist die vollständige Faszienspaltung das Mittel der Wahl, insbesondere bei sportlich aktiven Jugendlichen. Eine minimalinvasive, endoskopisch-assistierte Fasziotomie zeigt gute Resultate und hohe Rückkehrraten zum Sport, Rezidive im Verlauf kommen vor. Komplikationen umfassen Nervenverletzungen, Hämatome und Wundheilungsstörungen.
Fazit: Das FKS ist häufig unterdiagnostiziert, vor allem bei jungen sportlich aktiven Frauen. Die operative Behandlung bietet die besten Langzeitergebnisse.

Schlüsselwörter:
Muskelschmerzen, Wadenschmerzen, Schienbeinkantensyndrom, Faszie, Fasziotomie,
belastungsabhängige Beinschmerzen

Zitierweise:
Hirschmüller A, Nührenbörger C: Das funktionelle Kompartmentsyndrom bei Kindern und Jugendlichen
OUP 2025; 14: 216–221
DOI 10.53180/oup.2025.0216-0221

Summary: Chronic Exertional Compartment Syndrome (CECS) is considered a rare but relevant cause of exercise-related pain, particularly in athletically active young people. It typically affects the lower legs, less frequently the forearms or thighs. Runners (for the lower legs) and rowers (forearms) are particularly at risk. The condition is being diagnosed with increasing frequency in children and adolescents.
Diagnosis: CECS is characterized by a reversible increase in pressure in a muscular compartment during exercise, caused by inelastic fascia and/or increased muscle volume. This leads to capillary compression, ischemia, pain, and possibly neurological symptoms such as cramps, paresthesia, or muscular weakness. Risk factors include rapid muscle hypertrophy, fascial thickening, microcirculatory disorders, edema, and increased connective tissue tone.
Diagnosis is based on medical history, physical examination, and imaging studies such as MRI to rule out differential diagnoses such as medial tibial stress syndrome. However, intracompartmental pressure measurement before and after exercise is crucial for diagnosis.
Treatment: Conservative measures such as exercise modification, gait training, shoe inserts, compression stockings, physical therapy, and Botox injections can be attempted. The success rate is limited. Surgical treatment of choice is a complete fascial release, especially in athletically active adolescents. Minimally invasive, endoscopically assisted fasciotomy shows good results and high return-to-sport rates; recurrences do occur over time. Complications include nerve injuries, hematomas, and impaired wound healing.
Conclusion: CECS is an underdiagnosed relevant condition, especially in young, athletic women. Surgical treatment offers the best long-term results.

Keywords: Muscle pain, calf pain, shin splints, fascia, fasciotomie, exercise related leg pain

Citation: Hirschmüller A, Nührenbörger C: Chronic Exertional Compartment Syndrome (CECS) in adolescents
OUP 2025; 14: 216–221. DOI 10.53180/oup.2025.0216-0221

A. Hirschmüller: Altius Swiss Sportmed Center Rheinfelden, Schweiz & Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinik Freiburg

C. Nührenbörger: Clinique du Sport – Centre Hospitalier de Luxembourg, Luxembourg Olympic Medical Center, Luxemburg

Einleitung

Das funktionelle Kompartmentsyndrom (FKS), auch als chronisch belastungsinduziertes Kompartmentsyndrom (chronic exertional compartment syndrome, CECS) bezeichnet, gilt als seltene, jedoch bedeutsame Ursache belastungsabhängiger Schmerzen bei sportlich aktiven jungen Erwachsenen. Meist sind die Unterschenkel betroffen, seltener auch Unterarme oder Oberschenkel. Erstmals beschrieben wurde das Krankheitsbild 1912 bei marschierenden Rekruten [1]. Am häufigsten betroffen sind Laufsportler/-sportlerinnen, Triathleten/Triathletinnen und Spielsportler/-sportlerinnen; FKS der oberen Extremitäten tritt vor allem bei Ruderern/Ruderinnen und Motorradfahrer/-fahrerinnen auf. Obwohl die meisten Studien zu FKS auf erwachsenen Männern basieren, zeigen neuere Arbeiten eine zunehmende Relevanz bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere bei Mädchen [1–4]. Auch in unserer eigenen Praxis begegnen wir einer nicht unerheblichen Zahl adoleszenter Patientinnen. Oft erfolgt die Diagnosestellung sehr spät. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen. Ziel dieses Artikels ist es daher, zur Aufklärung über dieses immer noch häufig übersehene Krankheitsbild beizutragen.

Ätiologie

Das FKS ist charakterisiert durch einen reversiblen Druckanstieg in einem unelastischen Faszienkompartiment, was zu einer kompromittierten Gewebedurchblutung und nachfolgend zu Schmerzen sowie teils neurologischen Symptomen führt [1]. Die Beschwerden klingen typischerweise nach Aktivitätsende rasch ab, ohne bleibende Schäden. Im Gegensatz dazu stellt das akute Kompartmentsyndrom ein anderes Krankheitsbild und einen orthopädisch-traumatologischen Notfall dar [5].

Der genaue Pathomechanismus des FKS ist noch nicht abschließend geklärt. Ein Circulus vitiosus durch ein Missverhältnis der nur bedingt dehnbaren Faszien und der Muskulatur, die unter Belastung eine Volumenzunahme von 20 % erfahren kann, gilt als gesichert [12]. Konkret führt offensichtlich der gesteigerte Blutfluss unter Belastung zu einer Volumenzunahme der Muskulatur. Dies hat einen Anstieg des intrakompartimentellen Druckes zur Folge, so dass die kleinsten Gefäße abgedrückt werden. Die weitere Folge ist dann eine Ischämie des Muskelgewebes mit Schmerzen, Krampfgefühl und Muskelschwäche, welches wiederum die Mikrozirkulationsstörungen verstärkt und auch das Ödem [12].

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