Übersichtsarbeiten - OUP 01/2015
Das geriatrische Polytrauma
In unserer Studie war die typische Verletzung des alten Patienten das Schädel-Hirn-Trauma, das 63,7 % der Patienten erlitten und wiederum knapp 60 % zogen sich ihr Schädel-Hirn-Trauma im Rahmen eines Sturzes zu. Diese hohe Inzidenz des Schädel-Hirn-Traumas nach einem einfachen Sturz lässt sich auch durch reduzierte Schutzreflexe erklären, was ein rechtzeitiges Abstützen verhindert und so dazu führt, dass die Patienten mit dem Kopf anschlagen. Auch Woischneck et al. sahen in ihrer Untersuchung eine höhere Rate an intrakraniellen Verletzungen bei älteren Traumapatienten [11]. Diese Gruppe fand in ihrer Studie bei den Älteren überwiegend akute Subduralhämatome, wohingegen die Jüngeren eher Hirnkontusionen oder diffuse axonale Schäden erlitten. Die höhere Inzidenz für ein akutes Subduralhämatom resultiert aus einer erhöhten Brüchigkeit der Brückenvenen im zunehmenden Alter. Zusammen mit einer Verminderung der Endothelintegrität entsteht eine vaskuläre Hyperpermeabilität, die ein Ödem um die Blutung herum verursacht und damit den zerebralen Befund verschlechtert [12]. In unserer Untersuchung zeigte sich bei vielen Patienten, oft auch durch die Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern oder Vitamin-K-Antagonisten, die nicht selten überdosiert eingenommen wurden, bereits bei Aufnahme ein derart infauster intrakranieller Befund, dass eine Therapielimitierung die einzig sinnvolle Option darstellte (Abb. 6).
Nur bei einem Viertel der älteren polytraumatisierten Patienten kam es zu einem komplett komplikationslosen stationären Verlauf. Die häufigste Komplikation sowohl bei den Patienten mit Schädelhirnverletzung als auch bei den Patienten ohne Schädelhirnverletzung war die Pneumonie bzw. die pulmonale Insuffizienz. Ihr Auftreten war jedoch bei den Nicht-Schädelverletzten signifikant häufiger und in den meisten Fällen assoziiert mit längerer Beatmungspflichtigkeit. Zu pulmonaler Insuffizienz, die eine NIV-Therapie (non-invasive ventilation) oder eine invasive Beatmung erforderlich machte, kam es vor allem nach Thoraxverletzungen oder im Rahmen von zervikalen oder thorakalen Querschnittslähmungen.
Janus et al. untersuchten die Risikofaktoren für das Auftreten von Pneumonien bei Patienten mit Thoraxtrauma, und sie fanden einen signifikanten Einfluss für das Alter, Geschlecht, Herzfrequenz (> 110), systolischer Blutdruck (< 110), Übergewicht und Beatmung bei Ankunft im Krankenhaus. Für die Patienten, die am ersten Tag nach Trauma nicht beatmet waren, stellte ein Alter über 56 Jahren einen wichtigen Risikofaktor für die Entwicklung einer Pneumonie dar [13]. Die Gruppe um Geiger sah ebenfalls im Alter einen unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung einer pulmonalen Insuffizienz, die ab einem Alter von 60 Jahren signifikant anstieg. Andere unabhängige Faktoren, die mit einer pulmonalen Insuffizienz assoziiert waren, waren das schwere Thoraxtrauma, männliches Geschlecht, die Transfusion von mehr als 10 Erythrozytenkonzentraten sowie ein GCS ? 8 [14].
Neben der hohen Rate an pulmonalen Komplikationen zeigten die älteren Patienten auch eine hohe Gesamtkomplikationsrate; insgesamt drei Viertel der Patienten erlitten im Laufe ihres stationären Aufenthalts eine mehr oder minder schwerwiegende Komplikation. Diese Ergebnisse sind in Übereinstimmung mit anderen Studien [8; 15–17]. Ältere Menschen leiden bereits häufiger an Vorerkrankungen. Hinzu kommen die „normalen“ physiologischen Alterserscheinungen, die die Regeneration nach einem so schwerwiegenden Ereignis wie einem Polytrauma deutlich erschweren. So führt z.B. die nachlassende Myokardkontraktilität im Alter dazu, dass bei einem 80-Jährigen die Auswurfleistung im Vergleich zu einem 20-Jährigen halbiert ist. Zusätzlich nimmt noch die Katecholaminsensitivität im Alter ab, was zu einer weiteren Reduktion der kardialen Kompensationsmechanismen führt [18–19].
Ein weiteres Problem in der Behandlung älterer Menschen ist die Interpretation von „klassischen“ Markern wie Herzfrequenz, Blutdruck und Urinausscheidung. Diese Werte können beim älteren Menschen verfälscht sein aufgrund vorbestehender arterieller Hypertonie, Niereninsuffizienz oder der Einnahme von Betablockern [5]. Die schwierigere und unzuverlässigere Interpretation dieser Werte beim älteren Patienten kann zu einer Verzögerung in der Erkennung von Komplikationen führen, was dann wiederum einen verspäteten Behandlungsbeginn bedingt. Die Gruppe von Callaway zeigte in ihrer Untersuchung, dass Laktat und Basendefizit bei Älteren gute Prädiktoren darstellen für die Abschätzung der Gewebeperfusion [20]. Insofern wäre es bei älteren Schwerverletzten wichtig, ein erweitertes Monitoring mit z.B. Laktat und Basendefizit zu etablieren, um mögliche Komplikationen rechtzeitig zu erkennen.
In Übereinstimmung mit der Häufigkeit an pulmonalen Komplikationen stellten Pneumonie und pulmonale Insuffizienz auch in beiden untersuchten Patientengruppen eine häufige Todesursache dar. Das Multiorganversagen trat bei 26,5 % der Nicht-Schädelverletzten und 10 % der Schädel-Hirn-Trauma-Patienten auf, und es wurde von keinem der alten Patienten überlebt. Dewar et al. untersuchten in einer prospektiven Studie die Risikofaktoren für das Auftreten von Multiorganversagen und sie fanden eine signifikante Erhöhung bei älteren Patienten [21].
Hinsichtlich des klinischen Outcomes zeigte unsere Studie zwar eine höhere Mortalität für ältere polytraumatisierte Patienten, aber auch in dieser Gruppe konnte ein Fünftel gut erholt entlassen werden (Abb. 7).
Die Patienten ohne begleitendes Schädel-Hirn-Trauma zeigten eine Tendenz zu einem etwas besseren Outcome, ein signifikanter Unterschied in der Glasgow Outcome Scale fand sich jedoch nicht zwischen den beiden Gruppen. Allerdings konnten in der Gruppe ohne Schädel-Hirn-Trauma fast 3-mal so viele Patienten in die Selbstständigkeit nach Hause entlassen werden, wohingegen von den überlebenden Schädel-Hirn-Trauma-Patienten die meisten in die Reha oder in ein anderes Krankenhaus (z.B. zur Früh-Reha) verlegt wurden.
Ayoung-Chee untersuchte das Langzeit-Outcome von älteren Patienten, die einen Sturz aus dem Stand heraus erlitten. Während des einjährigen Studienzeitraums müsste die Hälfte der Überlebenden nochmals stationär aufgenommen werden. Zusätzlich hatten die Patienten, die nach dem stationären Aufenthalt in eine Pflegeeinrichtung entlassen wurden, eine 4-fach höhere Mortalität im Ein-Jahres-Zeitraum als die alters- und geschlechtsabgestimmte Vergleichspopulation [22].