Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung

Stefan Middeldorf1

Zusammenfassung: Im Rahmen orthopädisch-unfallchirurgischer Begutachtungen von Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane lässt sich eingeschränktes quantitatives Leistungsvermögens nahezu nicht mehr begründen. Auch daher ist eine Verschiebung der Beantragung und Bewilligung in den Bereich der seelischen Gesundheit festzustellen, seit Änderung des Rentenrechts im Jahre 2001. Darüber hinaus gibt es gerade im Bereich der schmerzmedizinischen Begutachtung Fall-Konstellationen, die ein auch in quantitativer Hinsicht beeinträchtigtes Leistungsbild begründen. Die Einschätzung ist dann faktenbasiert, unter Berücksichtigung des Kontexts und bestehender Texturstörungen, dezidiert zu treffen. Auch leitlinienorientiert formulierte Forderungen zur Erstellung eines ärztlichen Gutachtens von Menschen mit chronischen Schmerzen müssen einbezogen werden.

Schlüsselwörter: Begutachtung, Sozialmedizin, Schmerz

Zitierweise
Middeldorf S: Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch-unfallchirurgischen Begutachtung.
OUP 2018; 7: 510–516 DOI 10.3238/oup.2018.0510–0516

Summary: As part of orthopedic assessments of diseases of the musculoskeletal system, limited quantitative capability can hardly be justified. Therefore, a postponement of the application and approval in the field of mental health can be observed since the amendment of the Pensions Act in 2001. In addition, there are case constellations, especially in the field of pain-medical assessment, which justify an impaired performance in terms of quantity. This is where the assessment needs to be based on facts, taking into account the context and existing texture disorders, including guidelines-oriented claims for the preparation of a medical opinion of people with chronic pain.

Keywords: survey, public health, pain

Citation
Middeldorf S: The pain-related quantitative capability in
socio-medical orthopedic assessment.
OUP 2018; 7: 510–516 DOI 10.3238/oup.2018.0510–0516

1 Orthopädische Klinik, Schön Klinik Bad Staffelstein

Einleitung

Zur Ermittlung spezifischer krankheitsbedingter Beeinträchtigungen wird gerne die ICF-Klassifikation genutzt. Hieraus lassen sich Kontextfaktoren für eine mögliche Chronifizierung von Schmerzen ableiten. Einbezogen sind beispielsweise Arbeitsplatzfaktoren, soziodemografische Faktoren, somatische und psychosoziale sowie iatrogene Faktoren. Zu den Arbeitsplatzfaktoren gehören beispielsweise eine geringe Arbeitsplatzzufriedenheit, anhaltende Schwerarbeit, nicht ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, monotone Tätigkeiten am Arbeitsplatz, geringe berufliche Qualifikation, niedriges Einkommen, Konflikte mit Vorgesetzten, Kränkungserlebnisse durch Arbeitskollegen und Verlust des Arbeitsplatzes. Zu den soziodemografischen Faktoren zählen Alter, weibliches Geschlecht, verheirateter Familienstatus, niedriges Bildungsniveau und niedriger Sozialstatus. Die somatischen Faktoren beinhalten zum einen die genetische Disposition, dann aber auch prädisponierende Erkrankungen, degenerative Veränderungen, Dauereinwirkungen, biomechanische Stressoren.

Darüber hinaus kennen wir psychosoziale Faktoren einer möglichen weiteren Chronifizierung, die auch im therapeutischen Kontext Berücksichtigung finden müssen. Dazu gehören die maladaptive kognitiv-affektive Krankheitsverarbeitung, beispielsweise das Katastrophisieren, die Hilfs-/Hoffnungslosigkeit ebenso wie biografische Belastungen und psychische Komorbiditäten, aber auch Kompensationsansprüche, Angst und angstbedingtes Vermeidungsverhalten sowie psychische Stressoren im familiären Umfeld. Zu den iatrogenen und nicht zu unterschätzenden Faktoren gehört zudem die mangelnde ärztliche Deeskalation bei ängstlichen und zum Katastrophisieren neigenden Patienten, Somatisierung und Angstförderung durch katastrophisierende ärztliche Beratungen, fehlende oder inadäquate Medikation in der Akutphase, Förderung passiver, regressiver Therapiekonzepte, lange, unreflektierte Krankschreibungen, übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen, überschätzen unspezifischer somatischer Befunde, unterschätzen psychischer Komorbiditäten, fehlende Beachtung psychosozialer Belastungsfaktoren, Präferenzen und dauerhafte Indikationsstellung invasiver und suchtfördernder Therapien sowie eine inadäquate Therapie im weiteren Verlauf [5].

Beschwerdebilder, die mit Schmerzen einhergehen, sind in Deutschland die häufigste Ursache für Rehabilitationsmaßnahmen und Berentungen wegen Erwerbsminderung ebenso wie psychische Störungen, diese stehen mit fast 40 % der Fälle an erster Stelle. Wenn auch keine offiziellen Statistiken zum Umfang der Klagen vor deutschen Sozialgerichten bestehen, in denen chronische Schmerzzustände gutachterlich zur beurteilen sind, so gibt es doch Schätzungen, dass bei ca. zwei Drittel der vor Gericht verhandelten Rentenverfahren Schmerzen im Vordergrund der Beschwerden stehen, dies im neurologisch-psychiatrischen und orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgebiet.

Schmerz ist bei Menschen das häufigste Leidsymptom einer Erkrankung, dabei treten insbesondere chronifizierte Schmerzsyndrome bei sozialmedizinischen Fragestellungen und im Klagefall in den Mittelpunkt. Um eine valide Aussage im Rahmen einer gutachterlichen ärztlichen Stellungnahme abgeben zu können, ist bei Personen mit anhaltenden chronischen Schmerzsyndromen eine differenzierte Herangehensweise auch mit Ermittlung indirekter Parameter erforderlich. Hinweise zur Erstellung eines ärztlichen Gutachtens bei Menschen mit chronischen Schmerzen gibt die entsprechende Leitlinie der AWMF-Registernummer 094–003, letzte Aktualisierung im Jahre 2017 [3].

Psychosoziale Einflussfaktoren bei chronischen Schmerzen spielen eine große Rolle und müssen erfasst werden. Hierzu gehört die Schmerzdauer ebenso wie die Ermittlung der aktuellen Medikamenteneinnahme und die Berücksichtigung der affektiven Verfassung zur Frage Depression und Angst, gleichwohl sind biografische Erfahrungen und Ausgrenzungserleben ebenso wichtig wie die kognitive Bewertung, anhaltende belastende Lebenssituationen bei Schmerzbeginn und die Bindungstypologie bzw. das Beziehungsverhalten [2].

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Schmerz objektivierbar ist. Das Schmerzempfinden, Schmerz- und Behinderungserleben, besteht nicht nur aus einer sensorischen Komponente, sondern beinhaltet auch kognitiv-bewertende affektive Aspekte. Dabei ist die affektive und kognitive Bewertung nicht nur abhängig vom Schmerzreiz, sondern unterliegt Einflüssen aus der gesamten psycho-physischen Entwicklung (Lernprozess, frühkindliche Entwicklung). Von einer linearen Beziehung zwischen Reizstärke und Wahrnehmung einer Schmerzempfindung kann daher nicht ausgegangen werden.

In Bezug auf die Symptom- und Beschwerdevalidierung ist zunächst vorauszuschicken, dass etwa 30–40 % der Patienten mit chronischen Schmerzen diese Symptome bei der sozialmedizinischen Begutachtung ihre Beschwerden nicht realistisch darstellen. Studien zeigen, dass Patienten ihre Beeinträchtigung wegen Entschädigungs- und Rentenzahlungen tendenziell stärker hervorheben als Patienten im Therapiesetting.

Symptomverstärkende
Darstellungsformen

Zu den symptomverstärkenden Darstellungsformen zählt man die Simulation, Aggravation, Verdeutlichungstendenzen und die Dissimulation. Die Unterscheidung der Begriffe ist jedoch operational ungesichert: So steht meist die Frage im Raum, ob die Darstellungsformen bewusstseinsnah oder im Sinne der sog. Antwortverzerrung bestehen oder aber bewusstseinsfern erlebt werden. Dabei versteht man unter Simulation das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken. Man geht davon aus, dass Simulation in der Begutachtung eher selten vorkommt. Aggravation ist die bewusste Verschlimmerung bzw. überhöhte Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Hier geht man davon aus, dass sich dies in der Begutachtung relativ häufig findet. Verdeutlichungstendenzen sind in der Begutachtungssituation ebenfalls häufig, gleichsam als systemimmanent zu bezeichnen und nicht mit Simulation oder Aggravation gleichzusetzen. Es ist der Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen zu überzeugen; dies folgt i.d.R. mit besonderer Intensität bei desinteressiert wirkenden und oberflächlich agierenden Untersuchern. Im Gegensatz dazu versteht man unter einer Dissimulation eine verringernde, herunterspielende Darstellung von Beschwerden.

Orthopädisch relevante
psychische
Gesundheitsstörungen

Schiltenwolf beschreibt, dass psychosomatische Erkrankungen höchste Relevanz für das Fachgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie haben, insbesondere die somatoformen Störungen. Orthopädisch relevante Diagnosen psychischer Gesundheitsstörungen finden sich in großer Zahl: Sie reichen von der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung über Somatisierungsstörungen und undifferenzierte somatoformen Störungen sowie Depressionen bis hin zu dysthymen Störungen, Anpassungsstörung, Angststörungen, dissoziative Bewegungsstörungen, Konversionsstörungen, Hypochondrie, körperdysmorphe Störungen und posttraumatischen Belastungsstörung [4].

Psychometrische
Untersuchungen

Testpsychologische Verfahren und die Verwendung von Selbstbeurteilungsbögen (i.d.R. der Deutsche Schmerzfragebogen) dienen der Eigenschilderung der Beschwerden durch die Probanden und aufgrund der im genannten Fragebogen ausgewählten einzelnen Instrumente zur Standardisierung. In der medizinischen Begutachtung sind psychometrische Verfahren leitlinienorientiert geforderter Standard. Allerdings sind die Ergebnisse nicht als objektives Kriterium zu verstehen. Vor allem in der gutachterlichen Situation stellen sie eine subjektive Einschätzung dar, auch lässt sich mit ihnen nicht zwischen Simulation und objektiven Befunden unterscheiden. Letztlich stellt die Psychometrie jedoch einen wichtigen Baustein dar, Inhalte sind im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung mit der Verhaltensbeobachtung und den erhobenen Befunden und Befundtatsachen abzugleichen.

Einteilung von Schmerzen aus gutachterlicher Sicht

Zur gutachterlichen Beurteilung von Schmerzen hat sich eine Einteilung in 3 Säulen bewährt.

In der ersten Säule findet sich zunächst Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder Erkrankung. Das können sog. üppige Schmerzen als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung sein, z.B. eine Nervenläsion oder außergewöhnliche Schmerzen, wie sie beispielsweise bei CRPS, Thalamusschmerz, Stumpf- und Phantomschmerz auftreten.

Die zweite Säule wird gebildet durch Schmerzen bei Gewebeschädigung mit psychischer Komorbidität, als Beispiel kann hier eine Lumboischialgie mit Nervenwurzelkompression genannt werden, verschlimmert durch Komorbiditäten, wie z.B. inadäquate Krankheitsbewältigung bei Angststörung, depressive Störung, Suchterkrankung und Persönlichkeitsstörung.

Die dritte Säule wird gebildet durch Schmerzen als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung. Hierunter versteht man Schmerzen bei primär psychischen Erkrankungen, z.B. depressive Störung, Angststörung, somatoforme Störung, Anpassungsstörung, posttraumatische Belastungsstörungen.

Während Krankheitsbilder, die sich in der ersten Säule finden, klassische Domäne des orthopädische-unfallchirurgischen Gutachtens sind, müssen Krankheitsbilder der zweiten Säule i.d.R. angemessen begutachtet sein durch Kollegen, die über besondere Kompetenz verfügen über die psychosomatische Grundversorgung bis hin zur Zusatzweiterbildung spezielle Schmerztherapie. Die dritte Säule ist hingegen die Domäne des psychiatrischen bzw. psychosomatischen Facharztes.

Kriterien zur Beurteilung

Schmerzmedizinische Begutachtungen sind komplex. Erforderlich ist es hier, Kriterien zur Beurteilung der psychosozialen Situation des Probanden zu erheben. Mit wem lebt der Proband zusammen? Fragen zu Partner, Eltern, Kinder und Haustiere sind hier ebenso obligat wie die Frage der Wohnsituation: Lebt der Proband im eigenen Haus, einer Eigentums- oder Mietwohnung, sind Etagen oder Treppen zu steigen, oder gibt es einen Aufzug? An welchen Lebensbereichen partizipiert der Untersuchte? Vereine, Ehrenamt, Selbsthilfegruppen, Freunde und Bekannte. Welchen Hobbys und Interessen geht er nach, Heimwerken, Gartenarbeit, Wohnwagen, Sport, Chor, Fernsehen? Welche Arbeiten im oder am Haus übernimmt er: das Reinigen der Wohnung, Einkaufen, Kochen, Abwaschen, Gartenarbeit? Welche Art von Urlaub hat der Proband in den letzten Jahren gemacht? Die Zusammenschau mit der Darstellung von typischen Tagesinhalten am Beispiel des vorangegangenen Werktags oder der Darstellung von Wocheninhalten liefern wichtige Indizien, um ein umfassendes Bild zu erhalten.

Beurteilung

Im Rahmen der Beurteilung wird eine Konsistenzprüfung und Prüfung der Plausibilität erforderlich sein. Unter Konsistenzprüfung versteht man die Prüfung der Widerspruchsfreiheit, die kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden, Verhaltensbeobachtung und Inhalten der Aktenlage. Plausibilität hingegen beinhaltet die Stimmigkeit, Richtigkeit, Glaubhaftigkeit, Wahrheit. Im Rahmen der Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit wird die Frage auftauchen, ob die genannten Beschwerden bewusst oder unbewusst zur Durchsetzung eigener Wünsche gegenüber Dritten eingesetzt werden (der sog. sekundäre Krankheitsgewinn) und somit letztlich willentlich zu überwinden wäre. Findet sich der Rückzug von unangenehmen Tätigkeiten, z.B. in Beruf und Haushalt, jedoch nicht von den angenehmen Dingen des Lebens, z.B. Hobby, Vereine, Haustiere, Urlaubsreisen? Besteht trotz Rückzug von aktiven Tätigkeiten das Beibehalten von Führungs- und Kontrollfunktionen, z.B. Überwachung der Hausarbeit von Angehörigen, Steuerung des Einkaufverhaltens der Angehörigen?

Die zu ermittelnden Kriterien und Hinweise zur Tagesgestaltung weisen bereits darauf hin, dass die Anamnese bei der Begutachtung im schmerzmedizinischen Bereich von besonderer Bedeutung ist. Neben der Arbeits- und Sozialanamnese, der allgemeinen Anamnese, der speziellen Schmerzanamnese, der Behandlungsanamnese, der Selbsteinschätzung und der Fremdanamnese müssen vor allem Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und Einschränkungen bei der Partizipation in verschiedenen Lebensbereichen ermittelt werden. In Bezug auf die ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens) sind es folgende Kriterien, die konkret abzufragen sind: Tagesablauf, Mobilität, Selbstversorgung, Haushaltsaktivitäten wie kochen, putzen, waschen, bügeln, einkaufen, Gartenarbeit, erforderliche Ruhepausen, Fähigkeit zum Auto- und Radfahren sowie zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. In Bezug auf die Partizipation ist von besonderer Bedeutung: Familienleben einschließlich Sexualität und schmerzbedingte Partnerprobleme; soziale Kontakte einschließlich Freundschaften und Besuche, Freizeitbereich wie Sport, Hobbys, Vereinsleben, Halten von Haustieren, Urlaubsreisen; soziale Unterstützung und Qualität der Partnerbeziehung [3].

Wie bereits ausgeführt, fehlen technische Messmethoden zur Qantifizierung von Schmerzen, daher kommt der Anamnese eine besondere Bedeutung zu, auch zu Fragen der Entwicklung, des Erlebens und der bisherigen Behandlungsmaßnahmen der geklagten Schmerzen [3].

Gutachterliche Beurteilung

Unterschieden wird zwischen Zustands- und Zusammenhangsgutachten. Unter Zustandsgutachten versteht man z.B. die Beurteilung einer schmerzbedingten Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit für die gesetzliche Rentenversicherung, für die private Berufsunfähigkeitsversicherung, die Beamtenversorgung oder die berufsständigen Versorgungswerke mit ihren speziellen rechtlichen Vorgaben. Eine Einschränkung möglicher schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen ist zudem im Schwerbehindertenrecht zu ermitteln: die Bewertung mit Schmerzen einhergehender Schädigungsfolgen bei gutachterlich geklärter Kausalität nach Unfallereignissen, im Rahmen von Berufskrankheiten sowie nach Schädigungen, für die ein Versicherungsschutz nach dem sozialen Entschädigungsrecht besteht.

Anders das Zusammenhangsgutachten bei der Begutachtung chronischer Schmerzen: Hier werden Fragen nach einer möglichen körperlichen und/oder seelischen Schädigung als sog. Erstschaden gestellt; welche Gesundheitsstörungen liegen zum Zeitpunkt der Untersuchung vor? Es muss geklärt werden, ob nach nachgewiesenem Erstschaden und den festzustellenden Gesundheitsstörungen mit unfallfremden Ursachen ein Zusammenhang besteht.

Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Fragestellungen aus dem Bereich der Sozialmedizin finden sich in erster Linie bei der Zustandsbegutachtung, oft auch als „finale“ Begutachtung bezeichnet. Bereits beschrieben wurde die Grundlage für eine gutachterliche Aussage, die detaillierte Exploration der Beeinträchtigung der Aktivitäten im täglichen Leben sowie der sozialen Partizipation im zeitlichen Verlauf. Die eingehende körperliche Befunderhebung wird mit Erfassung aller Schmerzlokalisationen und angegebenen Körperbeschwerden durchgeführt, ebenso eine Exploration der Psychopathologie auf Basis geeigneter Kriterien. Eine eingehende differenzialdiagnostische Betrachtung unter Berücksichtigung somatischer, psychischer und sozialer Aspekte gelingt auch unter Einsatz der ICF, Ermittlung von Umwelt- und patientenbezogenen Kontextfaktoren.

Die gutachterliche Begutachtung mündet dann in einer Aussage zu den bestehenden Gesundheitsstörungen, die „ohne vernünftigen Zweifel“ und als sog. Vollbeweis nachgewiesen werden können, ebenso welche hieraus resultierenden und länger anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen dann „ohne vernünftige Zweifel“ festzustellen sind und welche Prognose die nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen haben, auch unter Einbeziehung der Frage nach der Überwindbarkeit durch eigene Willensanstrengung, aber auch durch ärztliche Maßnahmen.

Beurteilung in verschiedenen Rechtsgebieten

Bei der ärztlichen Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen ist zunächst durch den medizinischen Sachverständigen zu klären, in welchem Rechtsbereich die Probanden sich befinden und welche Fragen konkret gestellt werden bzw. mit diesem Rechtsbereich in Zusammenhang stehen. So stellt sich im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung die Frage nach dem qualitativen und quantitativen beruflichen Leistungsvermögen. Maßstab für die Bewertung dieser Frage ist der allgemeine Arbeitsmarkt, als Bewertungsgrundlage dient der Bezug auf das Absinken der quantitativen Leistungsfähigkeit auf 3 bis < 6 Stunden oder < 3 Stunden pro Tag, was dann eine teilweise oder vollständige Erwerbsminderung nach sich ziehen würde.

Im Rechtsgebiet der privaten Berufsunfähigkeits- (Zusatz-)Versicherung geht es insbesondere um den Grad der Berufsunfähigkeit entsprechend den im jeweiligen Versicherungsvertrag definierten Schwellenwerten. Maßstab für die Bewertung ist die Fähigkeit, den vor Eintritt des Versicherungsfalls (noch in gesunden Tagen) ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestattet war, sowie ggf. eine zumutbare Verweistätigkeit auszuüben. Als Bewertungsgrundlage dient hier der Grad der Berufsunfähigkeit: (meist) > 50 % im zuletzt ausgeübten Beruf oder – je nach Vertragswerk und Verweisungsklausel in sonstigen Berufen. Versorgungswerke fragen vor allem nach einer möglicherweise bestehenden Berufsunfähigkeit, Maßstab für die Bewertung ist hier das konkrete Berufsbild gemäß der jeweiligen Satzung der Versorgungswerke, als Bewertungsgrundlage dient eine vollständige Berufsunfähigkeit mit Aufgabe des Berufs bzw. nur noch „unwesentliche Einkünfte“ aus beruflicher Tätigkeit. Letztlich findet sich im Beamtenrecht der Begriff der Dienstunfähigkeit. Maßstab der Bewertung ist hier die konkrete Diensttätigkeit sowie mögliche anderweitige Verwendungen, die Bewertungsgrundlage ist eine dauernde Unfähigkeit zur Erfüllung der Dienstfähigkeit.

In der gesetzlichen Unfallversicherung wird nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gefragt, Maßstab für die Bewertung ist die MdE als abstraktes Maß für den Umgang der verminderten Arbeitsfähigkeit auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bewertungsgrundlage sind publizierte tabellarische Werte in der einschlägigen Gutachtenliteratur. Im sozialen Entschädigungsrecht wird nach dem Grad der Schädigungsfolge (GdS) gefragt, Maßstab ist hier die GdS als Maß für die Auswirkung schädigungsbedingter Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen, die Verordnung „Versorgungmedizinische Grundsätze“ in ihrer aktuellen Fassung ist als verbindliche Bewertungsgrundlage hinterlegt. Bei der Dienstunfallfürsorge der Beamten wird nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. Grad der Schädigungsfolge (MdE, GdS) je nach aktuellem Landesrecht gefragt. Die MdE versteht sich als abstraktes Maß der unfallbedingten körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben. Die GdS dagegen ist Maß der allgemeinen Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung, die durch die körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, bezogen auf alle Lebensbereiche. Auch hier findet sich eine Orientierung an den versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Die private Unfallversicherung bezieht sich hingegen auf die Invalidität bzw. die Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (BdL). Mittel für diese mit dem Maßstab der sog. Gliedertaxe als abstraktes Maß für die Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen finden sich in der einschlägigen Gutachtenliteratur. Die Haftpflichtversicherung hingegen bewertet den individuellen konkreten Schaden, je nach Vertrag sind die verwendeten Begriffe individuell unterschiedlich, orientieren sich manchmal auch an der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). In der Regel kommt es hier zu einer freien Einschätzung durch den Gutachter, bei Fragen nach der MdE wird die maßgebliche Gutachtenliteratur herangezogen.

Quantitatives
Leistungsvermögen

Wer fragt nun nach dem quantitativen Leistungsvermögen? Zum einen erfolgt bei gestelltem Antrag auf Erwerbsminderungsrente die Anforderung von Befundberichten durch Sozialgerichte; im Klagefall an sämtliche behandelnden Ärzte, in erster Linie Haus- und Facharzt, darüber hinaus ggf. Akutkrankenhaus und Rehaklinik. Die Fragen beziehen sich in erster Linie auf gestellte Diagnosen, den Behandlungszeitraum und den Verlauf mit Progression oder Remission der Leiden. Meist werden abschließend auch Fragen gestellt zur noch möglichen Arbeitsschwere, zu qualitativen Leistungsbeeinträchtigungen und zur noch möglichen Zeit der Ausübung einer Tätigkeit.

Fragen zum zeitlichen Leistungsvermögen ergeben sich bereits im Zivilrecht, beispielsweise im Streit um Unterhaltszahlungen durch Ex-Ehepartner und nachgewiesenem und/oder behauptetem körperlichem Leistungsdefizit des Beklagten. Im Bereich des Krankentagegelds bzw. der Berufsunfähigkeit wird i.d.R. die Frage gestellt, ob der Versicherte seine Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Bei dauernder Beeinträchtigung kann hier ggf. eine Berufsunfähigkeit resultieren. Hierbei wird es je nach Versicherungsvertrag darum gehen, ob die versicherte Person nach medizinischem Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit zu mehr als 50 % erwerbsunfähig ist.

Die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften) beurteilt das quantitative Leistungsvermögen analog dem Rentenrecht. Die sozialmedizinische Beurteilung für die Deutsche Rentenversicherung beinhaltet neben einer quantitativen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in der letzten beruflichen Tätigkeit auf unter 3 Stunden, 3–6 Stunden oder 6 Stunden und mehr, die Einschätzung des positiven und negativen Leistungsvermögens auf dem sog. allgemeinen Arbeitsmarkt: Zunächst stehen hier die Fragen nach der körperlichen Arbeitsschwere mit der Arbeitshaltung und Arbeitsorganisation als qualitative Leistungsfaktoren im Vordergrund, dann wird abschließend die Frage des zeitlichen Leistungsvermögens zu klären sein: auf < 3 Stunden, 3 bis < 6 Stunden oder 6 Stunden und mehr. Zu berücksichtigen sind hier auch noch die zeitlichen Dispositionen für die zugrunde gelegten Arbeitshaltungen Stehen, Gehen und Sitzen. Die Begriffsdefinitionen bedingen hier für „gelegentlich“ ca. 5 % der Arbeitszeit, für „zeitweise“ ca. 10 %, „überwiegend“ mit 51–90 % oder „ständig“ bei mehr als 90 % der Arbeitszeit. Zur Einschätzung gehören zum positiven und negativen Leistungsvermögen noch die Angaben zur Wegefähigkeit, zu arbeitsunüblichen Pausen, Zwangshaltungen, die zu vermeiden sind, Arbeitsumgebung sowie Akkord- und Schichtdienst.

Während sich das qualitative Leistungsvermögen bzw. diesbezügliche Einschränkungen nach den zugrunde liegenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen durch chronischen Schmerzen richtet, werden quantitative Leistungseinschränkungen in einem zweiten Schritt zu ermitteln sein. Unter Berücksichtigung des erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsvermögens muss die Frage einer möglichen quantitativen Leistungseinschränkung geklärt werden. Die Beantwortung dieser Frage ist bei der Leistungsermittlung für die Deutsche Rentenversicherung besonders wichtig, aber auch für die gesetzliche Unfallversicherung, weil qualitativ nachweisbare Leistungseinschränkungen nur unter ganz bestimmten Umständen die Anerkennung einer Erwerbsminderung auf dem zugrunde liegenden allgemeinen Arbeitsmarkt nach sich ziehen werden.

Gerade unter Berücksichtigung möglicher Erkrankungen auf schmerzmedizinischem Gebiet ist es von besonderer Bedeutung, ob der körperliche Befund (also die Organpathologie) und das Befinden (der erlebte Schmerz) in einem kongruenten Verhältnis stehen. Ist das der Fall, bestimmt die mit dem fachbezogenen Befund verknüpfte Funktionsbeeinträchtigung die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Besteht keine Diskrepanz zwischen probandenseits beschriebenem Befinden und ärztlichem Befund, ist ein in quantitativer Hinsicht beeinträchtigtes berufliches Leistungsvermögen nur dann zu diskutieren, wenn gleichzeitig ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation bestehen – trotz ausreichend und angemessen durchgeführter Therapie. Gerade bei Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen spielt u.U. eine medikamentenbedingte Leistungseinschränkung eine Rolle, die ggf. durch Therapieoptimierung behoben werden kann (evtl. in Richtung nichtmedikamentöser Schmerztherapie) und dann keine richtungsweisende Bedeutung mehr hat für das quantitative Leistungsvermögen.

Darüber hinaus sind mögliche Einflussgrößen auf das positive und negative Leistungsvermögen bei chronischen Schmerzen beschrieben, u.a. bei körperlichen Funktionseinschränkungen wie körperliche Arbeitsschwere, das Heben und Tragen von Lasten, Tätigkeiten im Stehen, Gehen und Sitzen, Tätigkeiten in Zwangshaltungen mit häufigem Bücken, Kopfarbeiten, Tätigkeiten in Kälte und Nässe oder die Gebrauchsfähigkeit beider Hände.

Möglicherweise sich negativ auswirkende psychische Funktionseinschränkungen, auch mögliche Medikamentennebenwirkungen, finden sich hingegen im Bereich von Schicht- und Akkordtätigkeiten, Publikumsverkehr, Übernahme von Verantwortung, Anforderung an die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sowie das Konzentrations- und Reaktionsvermögen.

Mögliche Begründungen für ein quantitativ eingeschränktes Leistungsvermögen

Organbezogen

Medikamentenbedingte Leistungseinschränkung, z.B. im Sinne einer eingeschränkten psycho-physischen Dauerleistungsfähigkeit (Therapieoptimierung möglich?)

Nach mehrsegmentaler Spondylodese zervikal und lumbal als Folgeeingriff: meist < 3 Stunden auf Dauer

Nach operativer Versorgung einer zervikalen Spinalkanalstenose mit Myelopathie: meist < 3 Stunden auf Dauer

Nukleusprolaps mit anhaltender radikulärer Symptomatik, Instabilität (Paresen, Störung der Feinmotorik):
< 3 Stunden

Zervikale Spinalkanalstenose mit Myelopathie: < 3 Stunden

Coxarthrose (Einschränkungen für Gehen und Stehen): Bei gleichzeitig vorliegenden Störungen der Rumpfwirbelsäule, Instabilität der Lendenwirbelsäule bzw. des lumbo-sakralen Übergangs, ausgeprägten degenerativen Bandscheibenschäden oder statischer Fehlhaltung mit erheblichen muskulären Dysfunktionen können durch hierdurch bedingte Behinderungen des längeren Sitzens u.U. quantitative Behinderungen des Restleistungsvermögens resultieren.

Kontextbezogen

Ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation

Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen: < 3 Stunden

Die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ist vital eingeschränkt, die Symptome haben die Organisation der Lebensführung übernommen: < 3 Stunden

Die festgestellten Defizite überschneiden sich und führen so zu einer Potenzierung: 3 bis < 6 Stunden

Die psycho-physische Dauerleistungsfähigkeit ist bedeutsam beeinträchtigt: 3 bis < 6 Stunden, < 3 Stunden

Fähigkeit zum Einhalten von Körperhaltungen, Gehen/Stehen/Sitzen nur noch „zeitweise“ (ca. 10 % der Arbeitszeit): < 3 Stunden

Fähigkeit zum Einhalten von Körperhaltungen, Gehen/Stehen nur noch bei „zeitweise“ (ca. 10 % der Arbeitszeit); Sitzen „überwiegend“ (50–90 % der Arbeitszeit), aber nicht im definitionsgemäßen Umfang: 3 bis < 6 Stunden

Schwere spezifische Leistungsbehinderung: < 3 Stunden

Schlechte Prognose

Für die Folgezeit sind häufige krankheitsbedingte Fehlzeiten zu erwarten

Ungünstige Therapieerfahrungen

Keine therapeutischen Ressourcen

Bei organbezogenen Pathologien als mögliche Begründung für ein auch in quantitativer Hinsicht eingeschränktes Leistungsvermögen finden sich Hinweise in den Leitlinien der DRV für diesen Teil der medizinischen Begutachtung aus dem Jahr 2009 [1].

Konkret finden sich Hinweise zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit nach operativen Eingriffen bei ausgewählten Krankheitsbildern. So wird ausgeführt, dass nach Nukleotomie und Bandscheibenprothesen bei regelrechtem Verlauf und Rekonvaleszenz von 2 bis maximal 6 Monaten von einem Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr bei körperlich mittelschwerer bis schwerer Tätigkeiten auszugehen ist.

Größere Eingriffe, Laminektomie und Hemilaminektomie bedingen aufgrund ausgeprägter Strukturveränderungen einen späteren Beginn der Tätigkeit, frühestens nach 3, spätestens nach 12 Monaten. Liegen langfristig bestehende, anhaltende schwere Funktionsstörungen vor, die u.U. zu erneutem Operationsbedarf führen, resultiert häufig ein aufgehobenes Leistungsvermögen auf Zeit oder Dauer. Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung nach Spondylodesen wird meist davon abhängen, ob es sich um einen Erst- oder Folgeeingriff handelt und wie das Ergebnis des operativen Eingriffs konkret und individuell einzuschätzen ist. Ein unbeeinträchtigtes zeitliches Leistungsvermögen wird man i.d.R. nach mehrsegmentaler lumbaler Spondylodese erwarten können. Nach mehrsegmentaler lumbaler Spondylodese als Folgeeingriff wegen langanhaltender Schmerzen und/oder Instabilität oder instabiler vorangegangener einsegmentaler Spondylodese wird trotz gemessener rehabilitativer Leistungen u.U. ein Leistungsvermögen von weniger als 6 Stunden bestehen. Einsegmentale Spondylodesen werden bei komplikationslosem Verlauf i.d.R. nach 3 bis spätestens 6 Monaten postoperativ ein tägliches Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr Stunden erreichen. Bei der mehrsegmentalen Spondylodese an der Halswirbelsäule als Ersteingriff muss die Belastbarkeit abhängig von der Beweglichkeit und evtl. bestehenden neurologischen Ausfällen beurteilt werden; in der Regel wird eine 6-stündige Belastbarkeit erreicht. Bei hochgradig beeinträchtigter Funktion der Halswirbelsäule, global um mehr als zwei Drittel der Norm, mit einer korrespondierenden Schmerzhaftigkeit kann das Leistungsvermögen auch bei leichter körperlicher Arbeitsschwere < 3 Stunden liegen. Gleiches gilt für die mehrsegmentale Spondylodese an der Halswirbelsäule als Folgeeingriff wegen persistierender Beschwerden und Instabilität, wobei sinnvollerweise die Belastbarkeit nach intensiven rehabilitativen Maßnahmen einzuschätzen ist.

Bei symptomatischen Spinalkanalstenosen mit Myelopathie findet sich klinisch häufig eine spastisch-paretische Symptomatik, z.B. auch mit ausgeprägten Gang- und Feinmotorikstörungen. Die Prognose zur Frage des quantitativen Leistungsvermögens ist allerdings oft ungünstig in der Auswirkung auf das Restleistungsvermögen, auch in quantitativer Hinsicht. Bei der lumbalen Spinalkanalstenose steht hingegen die Gangqualität bei möglicherweise bestehender Claudicatio spinalis im Vordergrund. Hier geht es insbesondere um die Wiederherstellung der Wegefähigkeit, also einem qualitativen Parameter.

Viele Patienten mit chronischen Schmerzen stehen unter Dauermedikation (bis zur Stufe 3 WHO), sie erhalten eine Co-Medikation, z.B. bei neuropathischen Schmerzen, oder Medikamente zur Behandlung der seelischen Gesundheit. Hier bestehen häufig Einschränkungen der psycho-physischen Dauerleistungsfähigkeit, die ggf. mit einer neuropsychologischen Testung zu verifizieren sind. Geht es um die Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit, sollte immer auch die differenzierte Betrachtung der Medikamente erfolgen, ebenso die Frage nach nicht-medikamentösen Behandlungsstrategien, die ggf. zu bevorzugen sind, und die Frage, ob es sich um eine adäquate Behandlung unter leitlinienorientierten Kautelen (LONTS) handelt. Zur Frage der Wegefähigkeit kann eine Fahrprobe oder Testung bei der zuständigen Behörde ebenfalls Klarheit schaffen.

Die einschlägigen Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung geben Hinweise auf ein evtl. beeinträchtigtes quantitatives Leistungsbild für sich negativ beeinflussende Einschränkungen von Organsystemen, topisch benachbart liegende Strukturen, wie im Fall der Coxarthrose bei bilateraler Störung oder Dekompensation, bei gleichzeitig vorliegenden erheblichen Störungen im Bereich der Rumpfwirbelsäule, im Sinne einer Instabilität der Lendenwirbelsäule bzw. des lumbosakralen Übergangs, einem ausgeprägten degenerativen Bandscheibenschaden oder einer statischen Fehlhaltung mit erheblichen muskulären Dysfunktionen. Geht man davon aus, dass bei hochgradig ausgeprägter bilateraler oder dekompensierter Störung bei Coxarthrose eine nur noch nahezu ausschließlich sitzende Tätigkeit in Betracht kommt, ist dies durch die genannten lumbalen Leiden i.d.R. ausgeschlossen. Wegen der hierdurch bedingten Behinderungen für längeres Sitzen sind u.U. quantitative Beeinträchtigungen des Restleistungsvermögens zu begründen.

Kontextbezogenen Faktoren eines möglichen quantitativ eingeschränkten Leistungsvermögens ergeben sich oft aus der Betrachtung des Alltagslebens und der sozialen Partizipation der Probanden. Es wurde bereits auf die besondere Notwendigkeit, diese Lebensbereiche hingewiesen, vor allem im Rahmen der Begutachtung von chronischem Schmerz. Aus dem ermittelten Lebensvollzug, soweit nachvollziehbar und objektivierbar (Konsistenz, Plausibilität), und der Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit ergeben sich zielführende Hinweise. Auch kann sich eine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens durch sich negativ beeinflussende und überschneidende Faktoren ergeben, die so zu einer Potenzierung führen.

In diesem Kontext anzusprechen sind neben den festzustellenden Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane auch Erkrankungsbilder verschiedener Organsysteme aus der Inneren Medizin, Neurologie, Psychiatrie. Beispiele hierfür finden sich nach frustran verlaufenden multiplen Eingriffen an der Wirbelsäule. Gerade bei Probanden mit chronischen Schmerzsyndromen ist zu ermitteln, ob die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Lebensvollzug noch erhalten ist und ob schmerzbezogene Einschränkungen bestehen. Ermittlungen im Rahmen der medizinischen Begutachtung helfen hier bei der Einschätzung.

Fälle einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder die Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen stellen auch bei juristischer Betrachtung der sozialmedizinischen Begutachtung nur ein Randthema dar, sie sind entsprechend selten. Beispiele hierzu befinden sich in der juristischen Literatur lediglich als „Kolibris“, sie tragen dem Umstand Rechnung, dass eine Vielzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das mögliche Arbeitsfeld in erheblichen Umfang einengen können. Konkret benannt wurden hier kombinierte Einschränkungen der Beweglichkeit der Hände und des Sehvermögens in Bezug auf die Arbeitsumgebung und Arbeitshaltung sowie weiterer Kontextfaktoren. Beschrieben wurde u.a. der Fall einer Migrantin, die neben Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane noch Analphabetin war, sich weder in der Muttersprache noch der Sprache des Gastlands schriftlich ausdrücken und verständigen konnte.

Darüber hinaus ergibt sich rein rechtlich eine Einschränkung des qualitativen Leistungsvermögens, wenn die relevanten Körperhaltungen Gehen, Stehen und Sitzen jeweils in einem nur noch bedingungsgemäßen Umfang von 10 % der Arbeitszeit geleistet werden können. In diesem Fall ergibt sich rein rechnerisch kein Leistungsbild mehr, was über 3 Stunden liegt. Bei der Betrachtung eines möglichen eingeschränkten Leistungsvermögens spielt auch die prognostische Einschätzung eine Rolle, z.B. die Tatsache, dass für die Folgezeit häufige krankheitsbedingte Fehlzeiten zu erwarten sind. Einzubeziehen sind auch durchgeführte Therapiemaßnahmen und deren Ergebnis sowie die Frage, ob noch therapeutische Ressourcen bestehen. Wichtig ist auch, ob Probanden mit chronischen Schmerz ungünstige Therapieerfahrung haben, etwa nach zahlreichen Operationen im Bereich großer Gelenke oder der Wirbelsäule oder komplikationsbehaftete Verläufe.

Zusammenfassung

Im Rahmen orthopädisch-unfallchirurgischer Begutachtungen von Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane lässt sich eingeschränktes quantitatives Leistungsvermögens kaum noch begründen. Darüber hinaus gibt es gerade im Bereich der schmerzmedizinischen Begutachtung Fälle, die ein auch in quantitativer Hinsicht beeinträchtigtes Leistungsbild begründen. Auf kontext- und organbezogene Begründungen für ein mögliches, auch in quantitativer Hinsicht eingeschränktes Leistungsvermögen wurde eingegangen.

Interessenkonflikt: Keine angegeben.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Stefan Middeldorf

Schön Klinik Bad Staffelstein

Am Kurpark 11

96231 Bad Staffelstein

smiddeldorf@schoen-kliniken.de

Literatur

1. Deutsche Rentenversicherung: Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung – Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und Bandscheibenassoziierten Erkrankungen, Juni 2009, www.deutsche-rentenversicherung.de

2. Keller F, Schairer U, Kappis B: Sozialmedizinische Begutachtung bei chronischen Schmerzzuständen. MedSach 2016; 112: 56–9

3. Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen („Leitlinie Schmerzbegutachtung“). 4. Aktualisierung 2017. AWMF-Registernummer 094–003

4. Schiltenwolf M: Menschen mit Schmerzen. In: Hollo DF, Schiltenwolf M: Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. Stuttgart, Thieme, 2013: 802–32

5. Widder B: Schmerzsyndrome. In: Deutsche Rentenversicherung Bund: Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Berlin: Springer, 2011: 599–618

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