Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018
Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung
Wie bereits ausgeführt, fehlen technische Messmethoden zur Qantifizierung von Schmerzen, daher kommt der Anamnese eine besondere Bedeutung zu, auch zu Fragen der Entwicklung, des Erlebens und der bisherigen Behandlungsmaßnahmen der geklagten Schmerzen [3].
Gutachterliche Beurteilung
Unterschieden wird zwischen Zustands- und Zusammenhangsgutachten. Unter Zustandsgutachten versteht man z.B. die Beurteilung einer schmerzbedingten Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit für die gesetzliche Rentenversicherung, für die private Berufsunfähigkeitsversicherung, die Beamtenversorgung oder die berufsständigen Versorgungswerke mit ihren speziellen rechtlichen Vorgaben. Eine Einschränkung möglicher schmerzbedingter Funktionsbeeinträchtigungen ist zudem im Schwerbehindertenrecht zu ermitteln: die Bewertung mit Schmerzen einhergehender Schädigungsfolgen bei gutachterlich geklärter Kausalität nach Unfallereignissen, im Rahmen von Berufskrankheiten sowie nach Schädigungen, für die ein Versicherungsschutz nach dem sozialen Entschädigungsrecht besteht.
Anders das Zusammenhangsgutachten bei der Begutachtung chronischer Schmerzen: Hier werden Fragen nach einer möglichen körperlichen und/oder seelischen Schädigung als sog. Erstschaden gestellt; welche Gesundheitsstörungen liegen zum Zeitpunkt der Untersuchung vor? Es muss geklärt werden, ob nach nachgewiesenem Erstschaden und den festzustellenden Gesundheitsstörungen mit unfallfremden Ursachen ein Zusammenhang besteht.
Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Fragestellungen aus dem Bereich der Sozialmedizin finden sich in erster Linie bei der Zustandsbegutachtung, oft auch als „finale“ Begutachtung bezeichnet. Bereits beschrieben wurde die Grundlage für eine gutachterliche Aussage, die detaillierte Exploration der Beeinträchtigung der Aktivitäten im täglichen Leben sowie der sozialen Partizipation im zeitlichen Verlauf. Die eingehende körperliche Befunderhebung wird mit Erfassung aller Schmerzlokalisationen und angegebenen Körperbeschwerden durchgeführt, ebenso eine Exploration der Psychopathologie auf Basis geeigneter Kriterien. Eine eingehende differenzialdiagnostische Betrachtung unter Berücksichtigung somatischer, psychischer und sozialer Aspekte gelingt auch unter Einsatz der ICF, Ermittlung von Umwelt- und patientenbezogenen Kontextfaktoren.
Die gutachterliche Begutachtung mündet dann in einer Aussage zu den bestehenden Gesundheitsstörungen, die „ohne vernünftigen Zweifel“ und als sog. Vollbeweis nachgewiesen werden können, ebenso welche hieraus resultierenden und länger anhaltenden Funktionsbeeinträchtigungen dann „ohne vernünftige Zweifel“ festzustellen sind und welche Prognose die nachweisbaren Funktionsbeeinträchtigungen haben, auch unter Einbeziehung der Frage nach der Überwindbarkeit durch eigene Willensanstrengung, aber auch durch ärztliche Maßnahmen.
Beurteilung in verschiedenen Rechtsgebieten
Bei der ärztlichen Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen ist zunächst durch den medizinischen Sachverständigen zu klären, in welchem Rechtsbereich die Probanden sich befinden und welche Fragen konkret gestellt werden bzw. mit diesem Rechtsbereich in Zusammenhang stehen. So stellt sich im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung die Frage nach dem qualitativen und quantitativen beruflichen Leistungsvermögen. Maßstab für die Bewertung dieser Frage ist der allgemeine Arbeitsmarkt, als Bewertungsgrundlage dient der Bezug auf das Absinken der quantitativen Leistungsfähigkeit auf 3 bis < 6 Stunden oder < 3 Stunden pro Tag, was dann eine teilweise oder vollständige Erwerbsminderung nach sich ziehen würde.
Im Rechtsgebiet der privaten Berufsunfähigkeits- (Zusatz-)Versicherung geht es insbesondere um den Grad der Berufsunfähigkeit entsprechend den im jeweiligen Versicherungsvertrag definierten Schwellenwerten. Maßstab für die Bewertung ist die Fähigkeit, den vor Eintritt des Versicherungsfalls (noch in gesunden Tagen) ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestattet war, sowie ggf. eine zumutbare Verweistätigkeit auszuüben. Als Bewertungsgrundlage dient hier der Grad der Berufsunfähigkeit: (meist) > 50 % im zuletzt ausgeübten Beruf oder – je nach Vertragswerk und Verweisungsklausel in sonstigen Berufen. Versorgungswerke fragen vor allem nach einer möglicherweise bestehenden Berufsunfähigkeit, Maßstab für die Bewertung ist hier das konkrete Berufsbild gemäß der jeweiligen Satzung der Versorgungswerke, als Bewertungsgrundlage dient eine vollständige Berufsunfähigkeit mit Aufgabe des Berufs bzw. nur noch „unwesentliche Einkünfte“ aus beruflicher Tätigkeit. Letztlich findet sich im Beamtenrecht der Begriff der Dienstunfähigkeit. Maßstab der Bewertung ist hier die konkrete Diensttätigkeit sowie mögliche anderweitige Verwendungen, die Bewertungsgrundlage ist eine dauernde Unfähigkeit zur Erfüllung der Dienstfähigkeit.
In der gesetzlichen Unfallversicherung wird nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gefragt, Maßstab für die Bewertung ist die MdE als abstraktes Maß für den Umgang der verminderten Arbeitsfähigkeit auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bewertungsgrundlage sind publizierte tabellarische Werte in der einschlägigen Gutachtenliteratur. Im sozialen Entschädigungsrecht wird nach dem Grad der Schädigungsfolge (GdS) gefragt, Maßstab ist hier die GdS als Maß für die Auswirkung schädigungsbedingter Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen, die Verordnung „Versorgungmedizinische Grundsätze“ in ihrer aktuellen Fassung ist als verbindliche Bewertungsgrundlage hinterlegt. Bei der Dienstunfallfürsorge der Beamten wird nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit bzw. Grad der Schädigungsfolge (MdE, GdS) je nach aktuellem Landesrecht gefragt. Die MdE versteht sich als abstraktes Maß der unfallbedingten körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben. Die GdS dagegen ist Maß der allgemeinen Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung, die durch die körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, bezogen auf alle Lebensbereiche. Auch hier findet sich eine Orientierung an den versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Die private Unfallversicherung bezieht sich hingegen auf die Invalidität bzw. die Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (BdL). Mittel für diese mit dem Maßstab der sog. Gliedertaxe als abstraktes Maß für die Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen finden sich in der einschlägigen Gutachtenliteratur. Die Haftpflichtversicherung hingegen bewertet den individuellen konkreten Schaden, je nach Vertrag sind die verwendeten Begriffe individuell unterschiedlich, orientieren sich manchmal auch an der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). In der Regel kommt es hier zu einer freien Einschätzung durch den Gutachter, bei Fragen nach der MdE wird die maßgebliche Gutachtenliteratur herangezogen.