Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023
Degenerative zervikale MyelopathiePathogenese, Bildgebung und Therapie
Stephan Klessinger
Lernziele:
Nach der Lektüre dieses Beitrags
kennen Sie die Pathophysiologie einer zervikalen Myelopathie,
können Sie die Symptome und die Untersuchungsbefunde einordnen,
lernen Sie die bildgebende Diagnostik zu bewerten,
kennen Sie die Therapiemöglichkeiten und Indikationen zur Operation.
Zusammenfassung:
Bei einer zervikalen degenerativen Myelopathie kommt es im Rahmen einer Spinalkanalstenose zu einer mechanischen Kompression und damit zu einer Schädigung des Rückenmarks. Zusätzlich spielt eine Minderdurchblutung eine Rolle, die zu einer Ischämie führen kann. Durch eine Instabilität entstehen Mikrotraumen, die eine weitere Schädigung bewirken. Letztendlich resultieren Apoptosen und Nekrosen des neuronalen Gewebes. Neben lokalen Schmerzen im Nacken führt die Rückenmarksschädigung zu einer Feinmotorikstörung, Gangunsicherheit, Sensibilitätsstörungen und Paresen. Typisch ist ein spastisch-ataktisches Gangbild. Daneben finden sich oft zusätzlich radikuläre Beschwerden. Im MRT sind die Spinalkanalstenose und die Kompression des Rückenmarks erkennbar. Typisch ist im T2-gewichteten Bild eine hyperintense Läsion. Der Schweregrad einer Myelopathie wird mit dem mJOA-Score bestimmt. Für moderate und schwere Myelopathien wird eine Operation empfohlen, bei einer milden Myelopathie kommt auch eine konservative Therapie in Frage. Verschiedene Operationsverfahren stehen zur Verfügung. Möglich ist eine ventrale Dekompression mit Fusion, aber auch eine dorsale Dekompression durch eine Laminektomie mit Schraubenfixation oder eine Laminoplastie.
Schlüsselwörter:
Zerviale Myelopathie, zervikale Spinalkanalstenose, Halswirbelsäule, chirurgische Therapie
Zitierweise:
Klessinger S: Degenerative zervikale Myelopathie. Pathogenese, Bildgebung und Therapie
OUP 2023; 12: 121–128
DOI 10.53180/oup.2023.0121-0128
Summary: In cervical degenerative myelopathy, spinal canal stenosis causes mechanical compression and thus damage to the spinal cord. Reduced blood flow also plays a role, which can lead to ischemia. In addition, microtraumas are caused by instability. Ultimately, apoptosis and necrosis of the neuronal tissue result. In addition to local pain in the neck, the damage to the spinal cord leads to impaired fine motor skills, unsteady gait, sensory disturbances and paresis. A spastic-atactic gait pattern is typical. Besides, there are often additional radicular complaints. MRI shows spinal stenosis and spinal cord compression. A hyperintense lesion on the T2-weighted image is typical. The severity of myelopathy is determined using the mJOA score. Surgery is recommended for moderate and severe myelopathies, while conservative therapy is also an option for mild myelopathy. Various surgical procedures are available. Ventral decompression with fusion is possible, as is dorsal decompression through laminectomy with screw fixation or laminoplasty.
Keywords: Cervical myelopathy, cervical spinal stenosis, cervical spine, surgical treatment
Citation: Klessinger S: Degenerative cervical myelopathy. Pathogenesis, imaging and therapy
OUP 2023; 12: 121–128. DOI 10.53180/oup.2023.0121-0128
Neurochirurgie Biberach
Einleitung
Der Begriff Myelopathie bezeichnet eine Schädigung des Rückenmarks. Verschiedene Ursachen und Erkrankungen können dafür verantwortlich sein wie z.B. entzündliche Veränderungen, traumatische Schädigungen oder Tumoren. Bei der degenerativen oder spondylotischen zervikalen Myelopathie (DZM) kommt es zu einer mechanischen Kompression des Rückenmarks durch eine Spinalkanalstenose. Diese Form der Myelopathie ist die häufigste Ursache für eine Schädigung des Rückenmarks [1, 2]. Genaue Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz sind in der Literatur nicht beschrieben, jedoch zeigte sich in einer holländischen Untersuchung, dass ca. 1,6/100.000 Einwohner pro Jahr wegen einer DZM einen chirurgischen Eingriff benötigten [3]. Die Erkrankung kann zu unterschiedlichen neurologischen Symptomen und zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität führen. Die degenerativen Veränderungen und somit auch die Einengung des Spinalkanals mit Kompression des Rückenmarks sind altersabhängig.
Pathogenese
In der Literatur werden statische und dynamische mechanische Prozesse beschrieben, die zu Veränderungen der Nervenzellen und der Glia führen. Durch degenerative Prozesse kommt es zu einer Hypertrophie der Facettengelenke, Ausbildung von Osteophyten, Instabilitäten und Subluxationen sowie zu Verknöcherungen des hinteren Längsbandes und des Ligamentum flavum mit einer Ligamenthypertrophie. Dadurch entsteht die Spinalkanalstenose. Zusätzlich kann Bandscheibengewebe die Kompression auf das Rückenmark verstärken. Eine (kyphotische) Fehlstellung der Halswirbelsäule führt zu einer vermehrten Zugbelastung des Rückenmarks. Diese Veränderungen bewirken die Kompression des Rückenmarks, erklären aber nicht gut, warum die klinische Präsentation bei Patientinnen und Patienten mit nachgewiesener DZM sehr unterschiedlich ist, von asymptomatischen Patientinnen und Patienten bis hin zu Patientinnen und Patienten mit schweren neurologischen Defiziten. Auch der zeitliche Verlauf mit teilweise über eine lange Zeit stabilen Symptomen oder progredienter Verschlechterung ist schwierig zu erklären [4].
Die mechanische Kompression führt zudem häufig zu einer arteriellen Minderversorgung und zu einer Ischämie [4], z. B. durch Kompression der Arteria radiculomedullaris im Foramen. Der Tractus corticospinalis wäre hiervon betroffen, was zur klinischen Präsentation passt. Auch andere radikuläre Arterien und die Arteria spinalis anterior können komprimiert werden. Auch eine venöse Stauung wird diskutiert. Zudem werden mikrovaskuläre Veränderungen mit Schädigung der Endothelzellen und einer Störung der Blut-Rückenmarksschranke beschrieben [5]. Sowohl die Ischämie als auch die mechanische Kompression führen zu einer Aktivierung von Makrophagen und zu Entzündungsreaktionen [6]. Ein weiterer Mechanismus sind Mikrotraumen, die bei Bewegungen und Segmentinstabilität zu dynamischen Verletzungen des Rückenmarks führen. Instabilitäten und Listhesen der Halswirbelsäule finden sich vorwiegend in den Segmenten Hw3/4 und Hw4/5, wahrscheinlich, da in diesen Etagen eine kompensatorische Mehrbewegung stattfindet, da die unteren Etagen der Halswirbelsäule häufiger von degenerativen Veränderungen betroffen sind [7].
Letztendlich kommt es zu Veränderungen des neuralen Gewebes mit Apoptose und Nekrosen der grauen und weißen Substanz und zu einer Gliose und Demyelinisierung [8, 9]. Solche ultrastrukturellen neurovaskulären Veränderungen konnten im Tierversuch nachgewiesen werden [10]. Zusätzlich zu den statischen Veränderungen spielen auch dynamische Prozesse eine wichtige Rolle, welche zu Mikrotraumen führen können [7].