Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023
Degenerative zervikale MyelopathiePathogenese, Bildgebung und Therapie
Die Evidenz in der Literatur spricht für eine chirurgische Behandlung bei einer moderaten oder schweren Myelopathie. Für Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie sind die Ergebnisse nicht so klar. Eine randomisierte, prospektive Studie aus dem Jahr 2011 [30] fand nach 10 Jahren keinen Vorteil einer Operation gegenüber einer konservativen Therapie bei Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie. In einer prospektiven kanadischen Multicenter-Studie aus dem Jahr 2021 zeigte sich bei Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie zwar eine Verbesserung der Lebensqualität, nicht aber eine Verbesserung des mJAO-Scores postoperativ nach 1 Jahr. In einer prospektiven Multicenter Studie der AOSpine bezüglich der Ergebnisse nach Operation bei milder Myelopathie [32] fanden sich schließlich Verbesserungen in allen untersuchten Bereichen, auch beim mJAO-Score.
Insofern können Patientinnen und Patienten mit geringgradiger Stenose und konstanten, leichteren Verläufen und ohne erhöhtes Sturzrisiko zunächst auch konservativ behandelt werden [33]. Eine engmaschige Beobachtung der Patientinnen und Patienten ist wichtig. Veränderungen in den elektrophysiologischen Untersuchungen (somatosensorisch evozierte Potentiale, motorisch evozierte Potentiale und Elektromyographie) können eine Verschlechterung frühzeitig erkennbar machen [2]. Für die konservative Therapie stehen Medikamente, physikalische Therapie, Injektionen und Orthesen zur Verfügung. Es ist durch die konservative Therapie nicht mit einer Rückbildung eventuell vorhandener neurologischer Defizite zu rechnen [34].
Operative Verfahren
Das primäre Ziel der operativen Therapie ist die Entlastung der neuralen Strukturen. Sollten Fehlstellungen oder Deformitäten (insbesondere eine Kyphose) vorliegen, muss dies bei der Operationsplanung berücksichtig werden, damit die Rekonstruktion eines physiologischen Alignements gelingt. Zudem besteht häufig eine Instabilität mit Spondylolisthese. Somit ist die Stabilisierung instabiler Segmente ein weiteres Operationsziel. Durch den operativen Eingriff wird nicht nur einer Verschlechterung vorgebeugt, es ist auch eine Verbesserung der Symptomatik zu erwarten. Kontrovers wird allerdings diskutiert, welches Operationsverfahren und welcher Zugang (ventral oder dorsal) wann angewendet werden sollte.
In Frage kommt eine ventrale segmentale Dekompression mit Fusion, ggf. auch langstreckig, mit partieller Wirbelkörperresektion. Dieses Vorgehen ist effektiv, um direkt das Rückenmark zu dekomprimieren, Osteophyten und Bandscheibenanteile zu entfernen, die Bandscheibenhöhe wiederherzustellen und eine segmentale Kyphose zu korrigieren [35]. Bei kurzstreckigen, ventralen Pathologien mit normalem Alignement wird auch die Implantation einer Bandscheibenprothese diskutiert. Alternativ kommt die dorsale Dekompression mittels Laminektomie und dorsaler Schraubenfixation vor allem bei langstreckigen kyphotischen Myelopathien in Frage. Im Sinne eines bewegungserhaltenden Verfahrens wird auch eine Laminoplastie durchgeführt [35]. Die Wahl des chirurgischen Verfahrens und des Zugangs von ventral oder dorsal ist der aktuell am kontroversesten diskutierte Aspekt in der Behandlung degenerativer zervikaler Myelopathien [36].
Satin et al. haben 2022 in einem Review die Ergebnisse prospektiver Studien verglichen [36]. Fehlings et al. [37] untersuchten 264 Patientinnen und Patienten aus der prospektiven AOSpine Nordamerika Studie, die sich entweder einer ventralen Operation mit Diskektomie/Korporektomie mit instrumentierter Fusion (n = 196) oder einer dorsalen (n = 95) Operation unterzogen. Dorsale Techniken umfassten entweder eine Laminektomie mit Fusion (86 %) oder eine Laminoplastie (14 %). Die Auswahl des Verfahrens lag in dieser Studie im Ermessen des behandelnden Chirurgen. Patientinnen und Patienten, die über einen ventralen Zugang behandelt wurden, waren jünger und hatten eine weniger schwere Myelopathie. Es gab keinen Unterschied in der funktionellen Erholung. Die Autoren stellten fest, dass ventrale und dorsale Techniken zu ähnlichen Verbesserungen der neurologischen Funktion und der Lebensqualität führen bei einer niedrigen neurologischen Komplikationsrate. Eine weitere nicht randomisierte, prospektive, multizentrische Studie hat ebenfalls ventrale und dorsale Fusionsoperationen verglichen [38]. Diese Studie war als Machbarkeitsstudie bezüglich einer randomisierten kontrollierten Studie geplant. Es wurden 50 Patientinnen und Patienten (28 ventral und 22 dorsal) eingeschlossen. Das chirurgische Vorgehen lag im Ermessen des behandelnden Arztes. Patientinnen und Patienten, die mit einer dorsalen Operation behandelt wurden, hatten eine signifikant schlimmere Myelopathie. Postoperativ fand sich eine signifikant größere Verbesserung der Lebensqualität bei den Patientinnen und Patienten mit ventraler Operation. In beiden Gruppen wurde aber eine signifikante Verbesserung des mJOA-Scores beobachtet. Die Gesamtkomplikationsrate betrug 16,6 %. Komplikationen in der ventralen Gruppe standen überwiegend im Zusammenhang mit Schluckbeschwerden, während alle Komplikationen in der dorsalen Gruppe mit postoperativen C5-Lähmungen in Zusammenhang standen.
2021 wurde schließlich die bisher einzige randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht [39]. Der primäre Endpunkt war die Veränderung des Short Form 36 Physical Component Summary (SF-36-PCS)-Scores nach 1 Jahr im Vergleich zwischen ventralem und dorsalem OP-Zugang. Die ventrale Dekompression mit Fusion bestand aus einer Diskektomie mit Fusion und Verplattung und konnte eine partielle oder Single-Level-Korporektomie umfassen. Zu den dorsalen Zugängen gehörten entweder eine open-door-Laminoplastie oder eine Laminektomie und Fusion mit Massa lateralis-Schrauben. Bei den Patientinnen und Patienten mit dorsaler Operation konnte der Chirurg zwischen der Laminoplastie und der Laminektomie mit Fusion entscheiden. 163 Patientinnen und Patienten wurden randomisiert, 66 ventrale Fusionen, 69 dorsale Fusionen und 28 Laminoplastien wurden durchgeführt. Die Baseline-Charakteristika waren in allen Randomisierungs- und Behandlungsgruppen ähnlich. Die durchschnittliche Verbesserung der SF-36-PCS-Scores war vergleichbar bei den ventralen und dorsalen Fusionsgruppen nach 1 und 2 Jahren. Alle Patientinnen und Patienten zeigten nach 1 oder 2 Jahren eine klinisch bedeutsame Verbesserung. Die Gesamtkomplikationsrate betrug 47,6 % nach ventraler Operation und 24,0 % nach dorsaler Operation. Dies war jedoch hauptsächlich auf das Auftreten einer Dysphagie nach ventralen Eingriffen zurückzuführen, die sich häufig innerhalb 1 Jahres zurückbildete. Bemerkenswert ist, dass die Patientinnen und Patienten mit einer Laminoplastie nach 1 und 2 Jahren im Vergleich zu den Patientinnen und Patienten mit ventraler oder dorsaler Fusion von signifikant besserer Funktionsfähigkeit, signifikant weniger Komplikationen und signifikant geringerer Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten berichteten.