Übersichtsarbeiten - OUP 01/2015
Diagnostik und Behandlung des Polytraumas im Kindesalter
B. Auner1, I. Marzi1
Zusammenfassung: Schwerverletzte Kinder stellen immer eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten dar. Auf die anatomischen und physiologischen Besonderheiten des Kindes ist bei der Notfallbehandlung, der Diagnostik und der Therapie Rücksicht zu nehmen. Dabei sind bei der Diagnostik insbesondere der Strahlenschutz, bei der Therapie die physiologischen Reserven und bei der operativen Behandlung die charakteristischen Frakturen im Kindesalter altersabhängig mit einzubeziehen. In dem Beitrag werden die wesentlichen Eckpunkte der Polytraumabehandlung des Kindes dargestellt und diskutiert.
Schlüsselwörter: Polytrauma, schwerverletzte Patienten, Kinder, Unfallchirurgie, Notfallversorgung
Zitierweise
Auner B, Marzi I. Diagnostik und Behandlung des Polytraumas im Kindesalter.
OUP 2015; 01: 038–045 DOI 10.3238/oup.2015.0038–0045
Summary: Severely injured children are challenging for all participants during the treatment. The different anatomical and physiological characteristics have to be taken into account during emergency treatment, diagnostic interventions and operative treatment. In particular radiation exposure, consideration of physiological reserves and the growing skeletal system have to be considered. In this article, the critical points of polytrauma treatment in children will be summarized and discussed.
Keywords: Polytrauma, severely injured patient, children, emergency surgery
Citation
Auner B, Marzi I. Diagnostic and treatment of the polytraumatized child. OUP 2015; 01: 038–045 DOI 10.3238/oup.2015.0038–0045
Epidemiologie und
Unfallursachen
Von einem Polytrauma sprechen wir bei einer gleichzeitig entstandenen Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, von denen wenigstens eine oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) spricht man von einem Polytrauma, wenn eine Verletzungsschwere von mindestens 16 Punkten nach dem Injury Severity Score (ISS) vorliegt [1–3]. Das Polytrauma des Kindes ist selten und macht etwa 7 % der Gesamtanzahl polytraumatisierter Patienten aus [4, 5]. In den Industrienationen geht die Zahl der Todesopfer seit Jahren stetig zurück, dennoch bleibt der Unfall die häufigste Todesursache im Kindesalter. Die meisten Unfälle passieren im Straßenverkehr. Hier verunglückten laut Angabe des Statistischen Bundesamts im Jahr 2012 über 29.000 Kinder, davon 73 tödlich [6]. Die Kenntnis der jeweiligen Verletzungsursache, der häufigen Verletzungsmuster und deren Mortalität beim Kind ist unabdingbare Voraussetzung für die adäquate Beurteilung des schwerverletzten Kindes. Dabei müssen die anatomischen und physiologischen Besonderheiten der jeweiligen Altersgruppe berücksichtigt werden. Die Unterschiede sind umso größer, je jünger das Kind ist.
Das schwere Schädel-Hirn-Trauma steht bei polytraumatisierten Kindern unter 10 Jahren im Vordergrund [7]. Im Straßenverkehr verunglücken Säuglinge und Kleinkinder zumeist auf dem Rücksitz des elterlichen Pkw. Sie erleiden sog. „seat belt injuries“ mit möglichen schweren abdominellen und thorakalen Verletzungen, wobei Extremitätenfrakturen kaum vorkommen. Hierbei ist das Risiko, tödlich zu verunglücken, im Kindesalter höher als beim Erwachsenen [8]. Kommen die Kinder ins Schulalter, nehmen sie hingegen aktiver am Straßenverkehr teil, sodass sie in der Gruppe der 6–10-Jährigen häufiger als Fußgänger oder als Fahrradfahrer verunglücken. Hierbei ist der Schweregrad der Verletzung höher als beim Erwachsenen Fußgänger oder Fahrradfahrer [8]. Häufiger sind dabei Jungen als Mädchen betroffen, was mit der stärkeren Verkehrsbeteiligung und einer höheren Risikobereitschaft in Zusammenhang gebracht wird. Zweitwichtigster Unfallmechanismus ist besonders im Säuglings- und Kleinkindalter der Sturz aus größer Höhe.
Voraussetzung für die Versorgung schwerverletzter Kinder
Die Behandlung eines schwerverletzten Kindes sollte interdisziplinär in einem hierfür ausgewiesenen Traumazentrum erfolgen, das über eine ausreichende Expertise im Kindesalter verfügt [9, 10]. Einer Studie zufolge ist die primäre Fehlbeurteilung des Verletzungsmusters beim Kind für bis zu einem Drittel der frühen Todesfälle verantwortlich [11]. Dies zeigt die Wichtigkeit des Trainings und einer kontinuierlichen Schulung des medizinischen Rettungspersonals sowie des Klinikpersonals, das in die Primärbehandlung des Kindes involviert ist. In den letzten Jahren stellte sich die Frage, ob die früh- und präklinische Versorgung pädiatrischer Patienten hierzulande ausreichend ist, oder ob die Forderung der Einführung kindertraumatologischer Kompetenzzentren, die in Kanada und den USA als „Pediatric Trauma Centers“ bereits etabliert sind, gerechtfertigt ist. Mehreren Studien zufolge erfolgt die Behandlung schwerverletzter Kinder und Jugendlicher heutzutage bereits überwiegend in überregionalen Traumazentren. Zu fordern ist in Zusammenschau der Befunde, dass möglichst bereits die Primärversorgung schwerverletzter Kinder in geeigneten Traumazentren stattfinden sollte, die ein interdisziplinär aufgestelltes, qualifiziertes Versorgungsteam bei Ankunft des Kindes im Schockraum bereitstellen können. Im Jahr 2012 wurde das Thema schwerverletzter Kinder erstmals in die 2. Auflage des Weißbuchs Schwerverletztenversorgung integriert das konkrete Vorgaben und Empfehlungen enthält [12]. Hieraus ergeben sich beispielsweise die Kriterien für einen hohen Gefährdungsgrad bei Kindern [10], die in Tabelle 1 wiedergegeben sind
Das Schockraumteam sollte neben dem koordinierenden Unfallchirurgen und dem Anästhesisten sowie dem Radiologen um einen pädiatrisch erfahrenen Arzt erweitert werden. Hierbei kann es sich um einen Pädiater oder pädiatrischen Intensivmediziner handeln, optimalerweise ergänzt durch einen Kinderchirurgen oder einen in der Kinderchirurgie ausgebildeten Chirurgen zur Behandlung abdomineller Verletzungen. Je nach Verletzungsmuster sollte das Team kurzfristig erweiterbar sein, hier sind Ärzte der Neurochirurgie, Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie, Gefäßchirurgie, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie, Urologie, Augenheilkunde und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde zu erwähnen.
Der Traumaleader (in der Regel der Unfallchirurg) führt die klinische Untersuchung sowie erforderliche chirurgische Sofortmaßnahmen durch (Anlage einer Thoraxdrainage, Frakturreposition, Blutstillung), während Anästhesie und Pädiatrie für Beatmung und Monitoring sowie die Volumenersatztherapie und Blutentnahmen zuständig sind. Der Traumaleader muss hierbei jederzeit mit dem gesamten Schockraumteam in Kontakt bleiben und den eingeschlagenen therapeutischen Weg reevaluieren und ggf. revidieren.