Übersichtsarbeiten - OUP 01/2015
Diagnostik und Behandlung des Polytraumas im Kindesalter
B. Auner1, I. Marzi1
Zusammenfassung: Schwerverletzte Kinder stellen immer eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten dar. Auf die anatomischen und physiologischen Besonderheiten des Kindes ist bei der Notfallbehandlung, der Diagnostik und der Therapie Rücksicht zu nehmen. Dabei sind bei der Diagnostik insbesondere der Strahlenschutz, bei der Therapie die physiologischen Reserven und bei der operativen Behandlung die charakteristischen Frakturen im Kindesalter altersabhängig mit einzubeziehen. In dem Beitrag werden die wesentlichen Eckpunkte der Polytraumabehandlung des Kindes dargestellt und diskutiert.
Schlüsselwörter: Polytrauma, schwerverletzte Patienten, Kinder, Unfallchirurgie, Notfallversorgung
Zitierweise
Auner B, Marzi I. Diagnostik und Behandlung des Polytraumas im Kindesalter.
OUP 2015; 01: 038–045 DOI 10.3238/oup.2015.0038–0045
Summary: Severely injured children are challenging for all participants during the treatment. The different anatomical and physiological characteristics have to be taken into account during emergency treatment, diagnostic interventions and operative treatment. In particular radiation exposure, consideration of physiological reserves and the growing skeletal system have to be considered. In this article, the critical points of polytrauma treatment in children will be summarized and discussed.
Keywords: Polytrauma, severely injured patient, children, emergency surgery
Citation
Auner B, Marzi I. Diagnostic and treatment of the polytraumatized child. OUP 2015; 01: 038–045 DOI 10.3238/oup.2015.0038–0045
Epidemiologie und
Unfallursachen
Von einem Polytrauma sprechen wir bei einer gleichzeitig entstandenen Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, von denen wenigstens eine oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) spricht man von einem Polytrauma, wenn eine Verletzungsschwere von mindestens 16 Punkten nach dem Injury Severity Score (ISS) vorliegt [1–3]. Das Polytrauma des Kindes ist selten und macht etwa 7 % der Gesamtanzahl polytraumatisierter Patienten aus [4, 5]. In den Industrienationen geht die Zahl der Todesopfer seit Jahren stetig zurück, dennoch bleibt der Unfall die häufigste Todesursache im Kindesalter. Die meisten Unfälle passieren im Straßenverkehr. Hier verunglückten laut Angabe des Statistischen Bundesamts im Jahr 2012 über 29.000 Kinder, davon 73 tödlich [6]. Die Kenntnis der jeweiligen Verletzungsursache, der häufigen Verletzungsmuster und deren Mortalität beim Kind ist unabdingbare Voraussetzung für die adäquate Beurteilung des schwerverletzten Kindes. Dabei müssen die anatomischen und physiologischen Besonderheiten der jeweiligen Altersgruppe berücksichtigt werden. Die Unterschiede sind umso größer, je jünger das Kind ist.
Das schwere Schädel-Hirn-Trauma steht bei polytraumatisierten Kindern unter 10 Jahren im Vordergrund [7]. Im Straßenverkehr verunglücken Säuglinge und Kleinkinder zumeist auf dem Rücksitz des elterlichen Pkw. Sie erleiden sog. „seat belt injuries“ mit möglichen schweren abdominellen und thorakalen Verletzungen, wobei Extremitätenfrakturen kaum vorkommen. Hierbei ist das Risiko, tödlich zu verunglücken, im Kindesalter höher als beim Erwachsenen [8]. Kommen die Kinder ins Schulalter, nehmen sie hingegen aktiver am Straßenverkehr teil, sodass sie in der Gruppe der 6–10-Jährigen häufiger als Fußgänger oder als Fahrradfahrer verunglücken. Hierbei ist der Schweregrad der Verletzung höher als beim Erwachsenen Fußgänger oder Fahrradfahrer [8]. Häufiger sind dabei Jungen als Mädchen betroffen, was mit der stärkeren Verkehrsbeteiligung und einer höheren Risikobereitschaft in Zusammenhang gebracht wird. Zweitwichtigster Unfallmechanismus ist besonders im Säuglings- und Kleinkindalter der Sturz aus größer Höhe.
Voraussetzung für die Versorgung schwerverletzter Kinder
Die Behandlung eines schwerverletzten Kindes sollte interdisziplinär in einem hierfür ausgewiesenen Traumazentrum erfolgen, das über eine ausreichende Expertise im Kindesalter verfügt [9, 10]. Einer Studie zufolge ist die primäre Fehlbeurteilung des Verletzungsmusters beim Kind für bis zu einem Drittel der frühen Todesfälle verantwortlich [11]. Dies zeigt die Wichtigkeit des Trainings und einer kontinuierlichen Schulung des medizinischen Rettungspersonals sowie des Klinikpersonals, das in die Primärbehandlung des Kindes involviert ist. In den letzten Jahren stellte sich die Frage, ob die früh- und präklinische Versorgung pädiatrischer Patienten hierzulande ausreichend ist, oder ob die Forderung der Einführung kindertraumatologischer Kompetenzzentren, die in Kanada und den USA als „Pediatric Trauma Centers“ bereits etabliert sind, gerechtfertigt ist. Mehreren Studien zufolge erfolgt die Behandlung schwerverletzter Kinder und Jugendlicher heutzutage bereits überwiegend in überregionalen Traumazentren. Zu fordern ist in Zusammenschau der Befunde, dass möglichst bereits die Primärversorgung schwerverletzter Kinder in geeigneten Traumazentren stattfinden sollte, die ein interdisziplinär aufgestelltes, qualifiziertes Versorgungsteam bei Ankunft des Kindes im Schockraum bereitstellen können. Im Jahr 2012 wurde das Thema schwerverletzter Kinder erstmals in die 2. Auflage des Weißbuchs Schwerverletztenversorgung integriert das konkrete Vorgaben und Empfehlungen enthält [12]. Hieraus ergeben sich beispielsweise die Kriterien für einen hohen Gefährdungsgrad bei Kindern [10], die in Tabelle 1 wiedergegeben sind
Das Schockraumteam sollte neben dem koordinierenden Unfallchirurgen und dem Anästhesisten sowie dem Radiologen um einen pädiatrisch erfahrenen Arzt erweitert werden. Hierbei kann es sich um einen Pädiater oder pädiatrischen Intensivmediziner handeln, optimalerweise ergänzt durch einen Kinderchirurgen oder einen in der Kinderchirurgie ausgebildeten Chirurgen zur Behandlung abdomineller Verletzungen. Je nach Verletzungsmuster sollte das Team kurzfristig erweiterbar sein, hier sind Ärzte der Neurochirurgie, Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie, Gefäßchirurgie, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie, Urologie, Augenheilkunde und Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde zu erwähnen.
Der Traumaleader (in der Regel der Unfallchirurg) führt die klinische Untersuchung sowie erforderliche chirurgische Sofortmaßnahmen durch (Anlage einer Thoraxdrainage, Frakturreposition, Blutstillung), während Anästhesie und Pädiatrie für Beatmung und Monitoring sowie die Volumenersatztherapie und Blutentnahmen zuständig sind. Der Traumaleader muss hierbei jederzeit mit dem gesamten Schockraumteam in Kontakt bleiben und den eingeschlagenen therapeutischen Weg reevaluieren und ggf. revidieren.
Das Schockraummanagement unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von dem des Erwachsenen. Es sollte in Anlehnung an das für Erwachsene entwickelte ATLS-Konzept („advanced trauma life support“) nach eingeübten Algorithmen und festgelegten therapeutischen und diagnostischen Standards erfolgen [13].
Bildgebung
Bezüglich der Bildgebung unterscheidet sich das Vorgehen im Schockraum von dem Erwachsenenalgorithmus. Obligat erfolgt direkt nach der Übergabe und Umlagerung des Patienten wie beim Erwachsenen zur Beurteilung des Abdomens und des Thorax eine Sonografie in der sog. FAST-Technik („focussed assessment with sonography for trauma“). Mit hoher Sensitivität lassen sich hierbei freie Flüssigkeit und Läsionen der Leber oder der Milz nachweisen, darüber hinaus Pleura- und Perikardergüsse. Zeigt sich keine freie Flüssigkeit, so schließt dies eine Organverletzung nicht definitiv aus. Weiterhin müssen gerade bei Vorliegen von Gurt- oder Prellmarken andere abdominelle Verletzungen wie Darmrupturen in Betracht gezogen werden [14].
Weiterhin sollte standardmäßig eine Röntgenaufnahme des Thorax und bei entsprechendem Unfallmechanismus auch des Beckens erfolgen, wobei beim Säugling zum Strahlenschutz eine Übersichtsaufnahme auf einer Platte ausreicht. Die Röntgenaufnahmen liefern einen ersten Überblick über die Beatmungssituation, einen möglichen Pneumothorax oder schwerwiegende Beckenfrakturen.
Hingegen sollte die Indikation zur Durchführung einer CT-Untersuchung beim Kind individuell anhand des Unfallmechanismus und des möglichen Verletzungsmusters sowie aller bis dahin erhobenen Untersuchungsbefunde gestellt werden. Obwohl eine Ganzkörper-CT heutzutage nach etablierten Kinderprotokollen mit erheblicher Strahlenreduktion unter Berücksichtigung der Körpergröße und des Gewichts möglichst strahlungsarm als kontrastmittelgestützte Mehrschicht-CTs (MSCT) des Schädels, Thorax, Abdomens und Beckens (Traumaspirale) erfolgt, ist trotzdem von einer Gefahr durch die ionisierende Strahlung auszugehen [15, 16]. Diese kann durch den überlegten Einsatz der CT reduziert werden.
Die standardmäßige Durchführung einer CT beim Kind ist nach wie vor Thema zahlreicher kontroverser Diskussionen. Offensichtlich schwer und multipel verletzte Kinder, insbesondere bei klinischem Verdacht auf ein relevantes Schädel-Hirn-Trauma (GCS unter 15) muss eine Schädel- oder Ganzkörper-CT zügig durchgeführt werden, weil nur die schnelle Diagnostik hier lebensrettend sein kann. Eine klare Indikation für die CT ergibt sich beim intubierten und neurologisch nicht beurteilbaren Kind vor allem bei einem entsprechenden Unfallmechanismus bzw. bei vorbeschriebener Vigilanzminderung.
Einer Studie zufolge ist eine CT-Untersuchung allein aufgrund des Unfallmechanismus ohne gleichzeitig vorliegende GCS-Veränderung, Vitalzeichenveränderung oder auffälligen klinischen Befund nicht gerechtfertigt [17]. In der Zusammenschau der Befunde kann beim wachen und beurteilbaren Kind mit negativem Untersuchungsbefund und unauffälliger Sonografie sowie Röntgendiagnostik auf eine CT-Diagnostik verzichtet werden, wenn jedoch eine stationäre Überwachung mit intensivem Monitoring gewährleistet ist.
Schädel-Hirn-Trauma
Nach wie vor stellt das Schädel-Hirn-Trauma die häufigste Todesursache im Kindesalter dar und ist für die Gesamtprognose entscheidend. Im Rahmen eines Polytraumas ist der Kopf in bis zu 78 % der Fälle beteiligt, was im Vergleich zum Erwachsenenkollektiv deutlich häufiger ist (TR). Im Alter von 0–5 Jahren führt vor allem das ungünstige Kopf-Körper-Verhältnis sowie die verhältnismäßig schwache Nackenmuskulatur, gepaart mit noch nicht ausgebildeten Schutzmechanismen, dazu, dass bereits geringe Traumata im Kopfbereich zu schwerwiegenden Verletzungen führen können. Die noch dünne, nicht verknöcherte Schädeldecke kann keinen ausreichenden Schutz für das Gehirn bieten, sodass bereits primär intrakranielle Verletzungen sowie Impressionsfrakturen des Schädels entstehen können. Auch besteht durch die noch nicht ausgereifte Blut-Hirn-Schranke eine ausgeprägte Neigung zu Ödemen, sodass in bis zu einem Drittel der Fälle mit der Ausbildung diffuser Hirnödeme als sekundärer Schädigung zu rechnen ist. Eine Hypoxie im Rahmen einer respiratorischen Insuffizienz wie auch eine Hypotonie aufgrund eines hämorrhagischen Schocks sollten möglichst vermieden werden. So sollten Vigilanz-geminderte und/oder somnolente Kinder mit Verdacht eines schweren Schädel-Hirn-Traumas präklinisch frühzeitig intubiert werden [18].
Die Behandlung von Kindern mit einer Schädel-Hirn-Verletzung erfordert ein intensives Neuromonitoring mit aggressiver hirndrucksenkender Therapie. Ab einem GCS unter 9 Punkten ergibt sich die Indikation für die Anlage einer Hirndrucksonde, um eine adäquate Beurteilung zu gewährleisten. Gelingt es durch konservative Maßnahmen nicht, einen ausreichenden Perfusionsdruck des Gehirns aufrecht zu erhalten, sollte eine zügige operative Entlastung in Erwägung gezogen werden (Abb. 2). Wenn auch nicht eindeutig bewiesen, so zeigt sich in den letzten Jahren ein eindeutiger Trend zur frühzeitigen dekompressiven Hemikraniektomie, um morphologische und sekundäre Hirnschäden zu vermeiden [19, 20]. Dank der Plastizität des kindlichen Gehirns ergibt sich hierdurch im Langzeitverlauf häufig ein besseres Outcome. Dritthäufigste Ursache eines Schädel-Hirn-Traumas im Säuglingsalter ist das Shaken-infant-Syndrom (auch „battered child“ oder „non-accidental trauma“) durch Kindesmisshandlung, bei dem die abwechselnden Akzelerations-/Dezelerationskräfte zu einem diffusen axonalen Scherschaden, subduralen Einblutungen und entsprechender Hirnödembildung führen.
Thoraxtrauma
Der Thorax ist im Rahmen eines Polytraumas beim Kind deutlich seltener betroffen als im Erwachsenenkollektiv, dennoch stellt das Thoraxtrauma nach dem schweren Schädel-Hirn-Trauma eine relevante Verletzung dar. Aufgrund der Elastizität des kindlichen Thorax und der damit verbundenen erhöhten Compliance werden die auf den Brustkorb wirkenden Kräfte weniger von diesem abgefangen, sondern eher nach intrathorakal geleitet. Somit kommt es durch Scher- und Kompressionkräfte zu Lungenkontusionen (Abb. 3), Hämato- und/oder Pneumothoraces sowie möglichen Parenchymschäden. Eine Seltenheit und immer ein Indikator für das Vorliegen einer schweren Thoraxverletzung sind hingegen Rippenfrakturen. Ein klinisch stabiler Thorax ohne äußere Verletzungszeichen schließt somit das Vorliegen einer Thoraxverletzung nicht aus, viel wichtiger sind Auskultation, Atemfrequenz und Vitalparameter sowie die bildgebende Diagnostik. Ein vorliegender Pneumothorax sollte wie beim Erwachsenen zügig entlastet werden. Dies sollte immer unter digitaler Kontrolle und nie über Mamillenhöhe erfolgen. Die Tubusgröße ist anzupassen [18, 21].
Stationär steht die Therapie der Lungenkontusion im Vordergrund, wobei der Oxygenierungsindex und Blutgasanalysen wichtige Verlaufsparameter für das Vorliegen einer respiratorischen Insuffizienz sind. Da in bis zu 30 % der Fälle nach schwerer Lungenkontusion Pneumonien beschrieben sind, sollte frühzeitig eine antibiotische Therapie erfolgen. Eine kinetische Therapie wie beim Erwachsenen ist bei Kindern nicht etabliert.
Abdominalverletzungen
Abdominalverletzungen treten im Vergleich zum Erwachsenenalter häufiger und untypischer auf. Die kindlichen Oberbauchorgane sind verhältnismäßig groß und liegen enger beieinander. Durch den physiologischen Zwerchfelltiefstand bietet der elastische kindliche Brustkorb sowie die noch nicht ausgeprägte Bauchmuskulatur keinen ausreichenden Schutz, sodass es häufig zu Leber- und Milzverletzungen kommen kann. Zeigt sich in der obligatorisch durchzuführenden FAST-Sonografie im Schockraum freie Flüssigkeit und bestehen trotz Volumensubstitution anhaltend instabile Kreislaufverhältnisse, so sollte ein unverzüglicher Abbruch der Schockraumdiagnostik mit Verbringung in den OP zur Durchführung einer explorativen Laparatomie erfolgen. Beachtet werden muss hierbei, dass ein Blutdruckabfall im Rahmen eines Schockgeschehens beim Kind erst spät auftreten kann und eine auftretende Tachykardie, eine kalte Peripherie oder auch eine beginnende Somnolenz bereits als Alarmzeichen einer rasch drohenden Dekompensation gewertet werden müssen. Operativ wird primär der Organerhalt angestrebt. Bei nicht stillbarer parenchymatöser Blutung der Milz muss jedoch auch beim Kind die Splenektomie, bzw. bei nicht stillbarer Leberblutung nach dem „damage control“-Prinzip das perihepatische Packing der Leber erfolgen [22]. Nach postoperativer Stabilisierung der Kreislaufverhältnisse sollte die initial unterbrochene Schockraumdiagnostik einschließlich der CT unbedingt komplettiert werden. Zeigen sich im Schockraum hingegen stabile oder zu stabilisierende Kreislaufverhältnisse, so kann auch bei sonografisch nachgewiesener Flüssigkeit in aller Regel eine konservative Behandlung der Abominalverletzung erfolgen. Ob sogar auf eine CT-Untersuchung des Abdomens verzichtet werden kann, muss im Einzelfall anhand des Unfallmechanismus, des Verletzungsmusters, der Begleitverletzungen sowie der klinischen und laborchemischen Untersuchung entschieden werden [23]. Beim Hinweis auf das Vorliegen einer abdominellen Begleitverletzung wie Hohlorganverletzungen oder Zwerchfellverletzungen, die eine operative Intervention nach sich ziehen, sollte eine CT-Untersuchung durchgeführt werden. Auch sind hier regelmäßige klinische Re-Evaluationen und im Zweifel CT-Kontrolluntersuchungen nach Kontrastmittelgabe erforderlich, da sie auch sekundär im Rahmen eines akuten Abdomens am 1. oder 2. posttraumatischen Tag auffällig werden können. Wird ein Abdominaltrauma mit freier Flüssigkeit konservativ behandelt, besteht die Gefahr, Darmverletzungen zu übersehen, die sich dann im Verlauf erst durch eine Peritonitis manifestieren können und die operative Versorgung mit u.U. Anlage eines temporären Anus praeter bedürfen. Somit erfordert die konservative Behandlung eine intensivmedizinische Überwachung des Kindes mit engmaschigen sonografischen und laborchemischen Kontrollen inklusive abdomineller klinischer Untersuchungen sowie eine sofortige Operationsbereitschaft bei Verschlechterung [24].
Beckenverletzungen
Das kindliche Becken ist elastisch und verformbar, sodass Beckenverletzungen im Kindesalter eher sehr selten sind. Sie zeugen bei Vorhandensein von einer hohen Gewalteinwirkung. Klinisch können große gürtelförmige Hämatombildungen inguinal und im Skrotumbereich sowie perianal als Zeichen einer Rektumverletzung auftreten. Auf abdominale und retroperitoneale Begleitverletzungen muss beim Vorliegen einer knöchernen Beckenverletzung in jedem Fall geachtet werden. Auch Hohlorganverletzungen wie eine Blasenruptur sind möglich, die bei intraabdomineller Ruptur operativ versorgt werden müssen. Die bei Erwachsenen verwendete Beckenzwinge als Notfallmaßnahme zur Primärstabilisierung im Schockraum hat bei Kindern keine Relevanz. Eine Wickelung der Beine in Innenrotation oder die Anlage eines kleinen Beckengürtels sind zumeist ausreichend [25]. Die Einteilung der Beckenfrakturen erfolgt nach der AO-Klassifikation wie beim Erwachsenen. Zumeist handelt es sich um stabile A-Frakturen, deren Behandlung konservativ erfolgt. Bei den B- und C-Frakturen erfolgt in der Regel die geschlossene Reposition mit Anlage eines supraazetabulären Fixateur externe als definitives Therapieverfahren. Interne Osteosynthesen sind eher erst ab dem Adoleszentenalter im Einzelfall sinnvoll, v.a. bei Azetabulumverletzungen.
Wirbelsäule
Auch Verletzungen der Wirbelsäule sind aufgrund der Elastizität des Knochens und der geringen Masse des kindlichen Körpers eher selten. Die Unterteilung erfolgt ebenfalls wie beim Erwachsenen nach der AO-Klassifikation in A-, B- und C-Frakturen. Die meisten Frakturen sind stabile A-Verletzungen. Sie sind teilweise nur in der MRT zu erkennen und werden funktionell behandelt. Hingegen ist bei Flektions- und Distraktionsverletzungen (Typ B) sowie den Rotations- und Translationsverletzungen (Typ C) der Anteil neurologischer Komplikationen mit 20–30 % höher als beim Erwachsenen [26]. Eine Sonderstellung nimmt aufgrund des ungünstigen Kopf-Körper-Verhältnisses, der schwachen Hals-Nacken-Muskulatur, den flacher stehenden Facettengelenken und dem nachgiebigen Bandapparat die obere HWS der unter 12-Jährigen ein. Eine atlanto-occipitale Dislokation wird zumeist aufgrund des begleitenden Schädel-Hirn-Traumas mit Hirnstammläsion kaum überlebt. Weiterhin können atlanto-axiale Dislokationen, Densfrakturen und ligamentäre Instabilitäten im Segment C2/3 auftreten, wobei auf die physiologische C2/3-Subluxation des Kleinkindes geachtet werden muss. Operativ erfolgt die Therapie zumeist unter Reposition und Anlage eines Halo-Fixateurs [27].
Frakturen der mittleren und unteren HWS betreffen zumeist Kinder älter als 12 Jahre. Zumeist handelt es sich hierbei um Kompressionsfrakturen, die mittels Ruhigstellung in der Philadelphia-Krawatte ausbehandelt werden können. Auch bei den Frakturen der BWS und LWS handelt es sich überwiegend um stabile Kompressionsfrakturen, die konservativ behandelt werden. Handelt es sich um eine instabile Verletzung, so muss auch beim Kind eine operative Versorgung erfolgen. Hier reicht die dorsale Reposition mit Anlage eines Fixateur interne häufig aus, wobei man von einer akzeptablen Vernarbung und Ausheilung der betroffenen Bandscheiben ausgeht. Handelt es sich jedoch um eine ausgedehnte Verletzung mit Zerreissung der Bandscheiben, muss – wie auch beim Erwachsenen – die ventrale Fusion erwogen werden. Ebenfalls muss beim Vorliegen einer relevanten Spinalkanaleinengung mit neurologischen Ausfällen eine dorsale Dekompression mit Laminektomie erfolgen.
In etwa 20 % der schweren Wirbelsäulenverletzungen handelt es sich um Rückenmarkverletzungen, bei denen keine knöchernen Läsionen der Wirbelsäule festgestellt werden können. Sie werden unter dem Begriff SCIWORA (spinal chord injuries without radiographic abnormalities) zusammengefasst. Die neurologische Symptomatik kann hierbei auch zeitverzögert auftreten. Der neurologische Status des verletzten Kindes sollte deshalb ab dem Unfallzeitpunkt wie auch im Laufe der klinischen Reevaluationen unbedingt dokumentiert werden.
Extremitäten
Extremitätenverletzungen im Rahmen eines Polytraumas beim Kind sind häufig. Sie stehen nach dem Schädel-Hirn-Trauma an zweiter Stelle und beeinflussen das Langzeit-Outcome des Kindes. Aufgrund der höheren Elastizität des kindlichen Knochens sowie der Dicke des Periostes ist auch im Extremitätenbereich für die Entstehung einer Fraktur eine höhere Gewalteinwirkung als beim Erwachsenen erforderlich. Auch ist die Art der Fraktur eine andere, so entstehen eher einfache Frakturen im diaphysären Bereich, während offene und Gelenkfrakturen selten sind. Trotz des prognostischen Werts stehen zunächst im Rahmen der Schockraumversorgung die operative Entlastung eines Schädel-Hirn-Traumas sowie die Kontrolle lebensbedrohlicher Blutungen im Vordergrund. Ist dies erfolgt, haben offene Frakturen, Amputationsverletzungen, Gefäßbeteiligungen und Kompartmentsyndrome Vorrang, alle anderen Extremitätenfrakturen sollten geplant innerhalb der ersten 24–48 h posttraumatisch versorgt werden. Anzustreben ist die primäre definitive Versorgung (Abb. 5, 6). Die am häufigsten vorkommenden diaphysären Frakturen können meistens mit einer elastisch-stabilen intramedullären Nagelung (ESIN) versorgt werden. Bei größerem Weichteilschaden kann die Anlage eines Fixateur externe und Ausbehandlung in demselben erfolgen. Ab dem Adoleszentenalter kommen auch interne Ostesyntheseverfahren in Frage. Die Versorgung der selteneren epi- und metaphysären Frakturen erfolgt in der Regel mittels Kirschner-Draht-Osteosynthese oder der Anlage eines Fixateur externe. Auch hier können je nach Frakturart ab dem Adoleszentenalter interne Osteosynthesen angewendet werden [28].
Interessenskonflikt: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des Internationalen Committee of Medical Journal Editors besteht.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Birgit Auner
Klinik für Unfall-, Hand- und
Wiederherstellungschirurgie
Klinikum der Goethe-Universität
Frankfurt
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
birgit.auner@kgu.de
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Fussnoten
1 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt