Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020
Die distale Radiusfraktur
Karl-Josef Prommersberger, Karlheinz Kalb, Marion Mühldorfer-Fodor
Zusammenfassung:
Mit einem Viertel aller Frakturen im Kindes- und Jugendalter und einem Sechstel im Erwachsenenalter ist die distale Radiusfraktur die häufigste Fraktur des Menschen, wobei in
vielen Ländern ein Anstieg der Inzidenz beobachtet wird. Unsere Kenntnisse punkto Frakturmorphologie und Begleitverletzungen der distalen Radiusfrakturen wurden in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erweitert. Zugleich kam es zu einem Wandel in der Therapie. Auch wenn
bei der überwiegenden Mehrheit distaler Radiusfrakturen immer noch eine konservative
Behandlung erfolgt, so ist doch ein auch unter ökonomischen Gesichtspunkten bedeutender
Anstieg an Plattenosteosynthesen zu verzeichnen. Und dies obwohl es bisher nicht gelungen ist, eine Überlegenheit der plattenosteosynthetischen Versorgung distaler Radiusfrakturen gegenüber anderen Behandlungsmethoden nachzuweisen. Diese Arbeit gibt einen Überblick über Inzidenz, Frakturmorphologie, Begleitverletzungen, Diagnostik, Therapie, Komplikationen und Ergebnisse distaler Radiusfrakturen.
Schlüsselwörter:
Distale Radiusfraktur, Anatomie, Klassifikationen, Therapie, Komplikationen
Zitierweise:
Prommersberger KJ, Kalb K, Mühldorfer-Fodor M: Die distale Radiusfraktur. OUP 2020; 9: 003–010
DOI 10.3238/oup.2020.0003–0010
Summary: With 25 and 18 % of all fractures in the pediatric and eldery population, respectively, fractures of the distal radius are among the most fractures of human being. Over the last two decades there is an important increase of our knowledge concerning fracture morphology and associated injuries of distal radius fractures. At the same time, therapy of distal radius fractures changed. Even if the great majority of distal radius fractures is still treated non-operatively, internal fixation with locking-plates increased significantly leading to an enormous health care burden. Yet, there is no evidence that internal fixation leads to superior results compared to other treatment modalities. This review gives an overview of the incidence, fracture morphology, associated injuries, diagnostics, treatment, complications, and outcomes of distal radius fractures.
Keywords: Distal radius fractures, anatomy, classifications, therapy, complications
Citation: Prommersberger K-J, Kalb K, Mühldorfer-Fodor M: Distal radius fractures. OUP 2020; 9: 003–010
DOI 10.3238/oup.2020.0003–0010
Klinik für Handchirurgie, Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt
Epidemiologie und Unfallmechanismus
Frakturen des distalen Radius sind sowohl von großem klinischen als auch sozioökonomischen Interesse, machen sie doch 25 % aller Frakturen im Kindes- und Jugendalter und 18 % aller Frakturen im Erwachsenenalter aus [3, 12]. So wurden 2001 in den USA mehr als 640.000 distale Radiusfrakturen gezählt und waren der Grund für 1,5 % aller Vorstellungen in Notaufnahmen der Krankenhäuser. Während in einigen Staaten, so den USA, Japan und auch in Deutschland, Ende letzten und Anfang diesen Jahrhunderts ein Anstieg der Inzidenz distaler Radiusfrakturen pro Jahr beobachtet wurde, wird aus Ontario (Kanada) eine gleichbleibende Inzidenz mit 2,32 bis 2,70 distaler Radiusfrakturen pro 1.000 Einwohner über 35 Jahre für die Jahre 2004–2013 berichtet.
Zwei Häufungen distaler Radiusfrakturen werden beobachtet; eine im Kindes- und Jugendalter zwischen 10 und 14 Jahren und eine zweite ab dem 60. Lebensjahr [3]. Die Mehrheit kindlicher – und jugendlicher Patienten sind männlich (60 %), wohingegen im Erwachsenenalter, insbesondere postmenopausal mehr Frauen betroffen sind. Im Alter zwischen 40 und 64 Jahren sind 71 % der Patienten mit einer distalen Radiusfraktur Frauen, bei über 65 Jahren steigt der Anteil der Frauen bis auf 85 % an [3].
Häufigste Ursache für eine distale Radiusfraktur ist ein Sturz aus dem Stand und beim Gehen. Insbesondere bei postmenopausalen Frauen spielt dabei die Knochenqualität, aber auch Übergewicht eine wichtige Rolle. So fanden Hegeman und Mitarbeiter bei 94 Frauen mit distaler Radiusfraktur und einem Durchschnittsalter von 69 Jahren bei 85 % eine verringerte Knochendichte und bei 51 % gar eine Osteoporose [16].
Anatomie
Der distale Radius ist an der Bildung zweier Gelenke beteiligt, dem Radiokarpal- und dem distalen Radioulnargelenk (DRUG). Das Radiokarpalgelenk bildet zusammen mit dem ulnokarpalen Komplex als Gelenkpfanne und den dem Unterarm zugewendeten Gelenkflächen der proximalen Handwurzelreihe als Gelenkkopf das proximale Handgelenk. Die Stirnfläche des Radius, Facies articularis carpea radii, ist durch eine knorpelig-knöcherne Trennleiste (Crista radii) in individuell unterschiedlichem Ausmaß in 2 Gelenkfacetten (Fovea scaphoidea und lunata) unterteilt. Die Stirnfläche des Radius steht nicht exakt senkrecht zur Längsachse der Speiche, sondern neigt sich etwa 10° nach palmar und durchschnittlich 22° nach ulnar. Die durchschnittliche Neigung der Fovea scaphoidea liegt sowohl in radio-ulnarer als auch in dorso-palmarer Richtung deutlich über und die Neigung der Fovea lunata in beiden Ebenen deutlich unter der durchschnittlichen Gesamtneigung der distalen Radiusgelenkfläche. Das proximale Handgelenk ist ein Eigelenk. Es ermöglicht die Beugung und Streckung der Hand um die große, quergestellte Achse, und die Radial- und Ulnarduktion um die kleine, dorsopalmar gerichtete Achse des Gelenks.
Das distale Radioulnargelenk ermöglicht im Zusammenspiel mit dem proximalen Radioulnargelenk als Teil des sogenannten Unterarmgelenkes die Handumwendbewegung. Es wird gebildet aus der Incisura ulnaris des Radius und der Circumferentia articularis des Ulnakopfes als korrespondierende Gelenkflächen sowie dem ulnokarpalen Bandkomplex. Der Ulnakopf ist der eigentliche Fixpunkt des Gelenkes, um den sich der Radius dreht. Der ulnokarpale Bandkomplex (triangularer fibrocartilaginärer Komplex = TFCC) ist zwischen den Ulnakopf und den korrespondierenden Handwurzelknochen als Puffer und gleichzeitig als Stabilisator des DRUG geschaltet. Er spannt sich von seiner Ursprungsstelle an der ulnaren Kante des distalen Radius als dreieckige Platte zur Verankerung an der Basis des Processus styloideus ulnae. Mit seiner palmaren und dorsalen ligamentären Begrenzung (Lig. radioulnare dorsale und palmare) ist er die wesentliche stabilisierende Struktur des DRUG.