Übersichtsarbeiten - OUP 01/2020
Die distale Radiusfraktur
Der Radius ist palmar im metaphysären Bereich in radio-ulnarer Ebene relativ flach, nach distal zum Radiokarpalgelenk hin ist er konkav gebogen, um an der Watershed line am weitesten nach palmar vorzustehen. Die Watershed line liegt distal des M. pronator quadratus und ist von der palmaren Gelenkkapsel bedeckt. Streckseitig ist der Radius konvex gebogen und weist hier mehr oder weniger stark ausgebildete Knochenleisten auf, die der Verankerung des Retinaculum extensorum und damit der Strecksehnenfächer dienen. An der am kräftigsten ausgeprägten Knochenleiste, dem Listerschen Tuberkulum, wird die lange Daumenstrecksehne umgelenkt.
Am normal konfigurierten, unverletzten Handgelenk wird die Kraft im Wesentlichen in der beugeseitigen Hälfte des Radius von der Handwurzel auf den Unterarm übertragen. In der Fossa lunata liegt dabei das Punctum maximum der Kraftübertragung etwas mehr palmar als in der Fossa scaphoidea. Die Dicke der Kortikalis des distalen Radius als auch seine Mikrostruktur tragen dem Rechnung. So ist die palmare Kortikalis des distalen Radius deutlich, jedoch nicht signifikant dicker als die dorsale Kortikalis, wobei sowohl palmar als auch dorsal die Dicke der Kortikalis nach proximal zur Diaphyse hin signifikant zunimmt. Ebenso ist die subchondrale Platte im Bereich der stärksten Kraftübertragung von der Hand auf den Radius, also in der palmaren Hälfte der Fossa lunata am kräftigsten ausgebildet. Aus der subchondralen Platte der Fossa lunata ziehen beugeseits mehrere kräftige Trabekel senkrecht zur Gelenkfläche nach proximal, um hier in die palmare Kortikalis einzustrahlen [5].
Die Form der Incisura ulnaris, auch Sigmoid notch genannt, variiert wie die des korrespondierenden Ulnakopfes, abhängig von der Ulnavarianz. Meist ist die Inzisur flach (42 %) oder C-förmig (30 %) gekrümmt. Es werden jedoch auch S-förmige oder palmar akzentuierte Krümmungen beobachtet [30].
Am distalen Radius entspringen sowohl dorsal als auch palmar zahlreiche, den Karpus stabilisierende Bänder. Die Verläufe einfacher intraartikulärer Frakturen sparen diese Bandursprünge aus, was für die Ligamentotaxis von Bedeutung ist [4].
Diagnostik
Schmerzhafte Schwellung und Deformität des Handgelenkes weisen zusammen mit der Anamnese auf eine distale Radiusfraktur hin; eine Röntgenuntersuchung des Handgelenkes in zwei Ebenen sichert – in den allermeisten Fällen – die Diagnose. Auch wenn auf den ersten Blick eine isolierte Verletzung des distalen Unterarmes und Handgelenkes vorliegen mag, sollte man von Beginn an den Patienten in seiner Gesamtheit wahrnehmen (Sturz aus innerer Ursache?).
Bei der klinischen Untersuchung sollten stets auch Sensibilität und Durchblutung der Hand und der Finger geprüft und festgehalten werden. Bestehen Sensibilitätsstörungen, gilt es zu differenzieren zwischen vorbestehenden und nun verstärkten und neu aufgetretenen Gefühlsstörungen. So selbstverständlich es ist, offene Verletzungen zu dokumentieren, so wichtig ist es auch, den geschlossenen Weichteilschaden (drohendes Kompartmentsyndrom bei massiver Schwellung?) festzuhalten.
Sowohl bei Verdacht auf eine distale Radiusfraktur, als auch zur Verlaufsbeurteilung sind grundsätzlich zuerst Standardaufnahmen des Handgelenkes in 2 Ebenen in Neutralstellung des Handgelenkes bei mittlerer Rotation des Unterarmes durchzuführen. Für die dorsopalmare Aufnahme ist der Oberarm im Schultergelenk um 90° zu abduzieren, sodass bei 90° gebeugtem Ellenbogen Unterarm und Hand auf Schulterniveau liegen. Zur seitlichen Aufnahme wird der Oberarm an den Oberkörper angelegt und wiederum im Ellenbogengelenk um 90° gebeugt, sodass die ulnare Handkante auf dem Röntgentisch zu liegen kommt.
Liegt eine Fraktur vor, interessiert, ob diese extra- oder intraartikulär ist, ob bei Gelenkbeteiligung diese einfach oder mehrfragmentär ist und ob die Gelenkkongruenz erhalten oder zerstört ist. Des Weiteren interessiert das Ausmaß der Frakturierung der Metaphyse, die radiokarpalen Gelenkwinkel, ob ein Versatz des Gelenkfragmentes nach radial, dorsal oder palmar besteht, das Längenverhältnis von Radius und Ulna und ob es Hinweise für knöcherne oder ligamentäre Begleitverletzungen gibt [25].
Liegt eine Gelenkbeteiligung vor, hat sich die Durchführung einer Computertomografie (CT) bewährt, ist sie doch der Projektionsradiografie in der Beurteilung der Gelenkkongruenz sowohl des Radiokarpal-, erst recht jedoch des distalen Radioulnargelenkes deutlich überlegen [10, 27]. Bei einfachen intraartikulären Frakturen bevorzugen wir dabei die Arthro-CT. Bei Applikation von Kontrastmittel (KM) in das Mediokarpalgelenk lassen sich durch Übertritt des KM in das Radiokarpal- bzw. Ulnokarpalgelenk Läsionen des skapholunären bzw. lunotriquetralen Bandes nachweisen, was Auswirkungen auf die Operationsstrategie hat [18]. Bei komplexen Gelenkfrakturen ziehen wir eine native CT vor, kann doch durch die KM-Injektion die Beurteilung kleiner Gelenkfragmente erschwert werden. Während Rikli es bevorzugt, die CT nach Anlage eines Fixateur externe und grober Reposition durchzuführen, sehen wir hierin keinen Vorteil.
Lässt sich auf den Röntgenaufnahmen keine Fraktur nachweisen, besteht klinisch jedoch weiterhin der Verdacht auf eine distale Radiusfraktur, sollte man eine CT oder besser eine Kernspintomografie durchführen, wobei nicht selten auch zusätzliche Handwurzelfrakturen aufgedeckt werden [15].
Klassifikationen
Auch wenn im klinischen Jargon immer noch Eponyme in der Beschreibung distaler Radiusfrakturen gebräuchlich sind, ja oft dominieren, ist es aus mehreren Gründen sinnvoll Klassifikationen zu verwenden. Zum einen lassen sie abhängig vom Schweregrad der Fraktur eine Prognose bzgl. des zu erwartenden klinischen Ergebnisses zu, zum anderen sind sie bei Planung der operativen Versorgung hilfreich und ermöglichen bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung des eigenen Patientengutes eine Vergleichbarkeit mit veröffentlichten Daten.
Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten hat sich die Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) bewährt. Auch wird sie von der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung beim Vorliegen einer distalen Radiusfraktur bei der Erstellung des D-Arztberichtes gefordert. Die AO-Klassifikation unterscheidet zwischen extraartikulären (Typ A), partiellen (Typ B) und vollständigen Gelenkfrakturen (Typ C). Bei jedem Frakturtyp werden, abhängig davon ob eine einfache oder mehrfragmentäre Fraktur vorliegt sowie abhängig von der Richtung der Dislokation, 3 Gruppen unterschieden, die selbst wieder in 3 Untergruppen unterteilt sind, sodass also 27 verschiedene Frakturmuster klassifiziert sind. Der Typ A1 beschreibt Frakturen der distalen Ulna bei intaktem Radius. Während für extraartikuläre Frakturen die Interobserver-Reliabilität gut ist, ist sie bei partiellen Gelenkfrakturen nur fair und bei vollständigen Gelenkfrakturen gar nur moderat und dies selbst bei Verwendung von Computertomografiebildern [17].