Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Die komplizierte Halswirbelsäule

Fall 2

Eine 33-jährige Patientin wurde zugewiesen, da sie eine zunehmende Ungeschicklichkeit der Hände bemerkt hatte. In ihrem Beruf als Kellnerin war das auch besonders unangenehm, weil sie mehrfach bereits Teller hatte fallen lassen und entsprechend nicht mehr servieren konnte. Es fanden sich Lähmungen der Handmuskeln, der Mm. Triceps und Bizeps brachii, jeweils beidseits. Vom zuweisenden Orthopäden war ein Kernspintomogramm der Halswirbelsäule veranlasst worden, das eine diskrete Vorwölbung der Bandscheiben C4/5/6 zeigte (Abb. 2). Diese erklärte die diffusen Lähmungen im Bereich der Hände aber auf keinen Fall, diese Bandscheibenvorfälle führten nicht zu einer Kompression des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln. Die Untersuchung der Patientin zeigte zudem spastische Reflexe an den Beinen, schlaffe Reflexe an den Armen und im Rahmen des neurologischen Konsils wurden Fibrillationen an der Zunge festgestellt. Letztendlich wurde die Diagnose einer Motoneuronerkrankung gestellt, die Patientin entsprechend nicht operiert.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war nach Meinung der Autoren hier, dass das klinische Bild einer zervikalen Radikulopathie/Myelopathie vorgetäuscht wurde und auch eine geringe Vorwölbung von Bandscheiben zu sehen war. Was aber wieder völlig fehlte war, eine Raumforderung gegen das Rückenmark oder die Nervenwurzeln und vor allem der segmentale Schmerz. Weiterhin konnten die Lähmungen durch eine Kompression nicht erklärt werden, da eben keine Kompression vorlag.

Die Auswahl chirurgischer Zugänge an der
Halswirbelsäule

Am Beispiel: Auswahl der
Zugänge bei zervikaler
spondylogener Myelopathie

Die zervikale spondylogene Myelopathie (CSM) ist eine chronisch progrediente Erkrankung des Rückenmarks durch eine chronisch progrediente Raumforderung. Die Erkrankung verläuft schleichend, initial schmerzfrei oder zumindest schmerzarm, begleitet von initial geringen neurologischen Defiziten. Oft erfährt sie eine akute Progredienz durch ein oft geringfügiges Trauma der Halswirbelsäule und wird erst dann diagnostiziert. Häufig „drückt“ die Erkrankung Patienten im Verlauf in den Rollstuhl und wird selbst dann noch nicht erkannt, weil das neurologische Bild nicht uniform, sondern variabel und eben oft schmerzarm ist.

Das wesentliche Prinzip zur chirurgischen Therapie der Myelopathie ist die suffiziente Dekompression und Stabilisierung. Der ideale Zugang zum Erreichen dieser beiden Ziele bei Myelopathie wird oft diskutiert und es gibt Literaturbelege dafür, dass die „Vertrautheit“ des Operateurs mit dem von ihm „traditionell“ bevorzugten Zugang für den letztendlich gewählten Zugang entscheidend ist [1, 2]. In die Wahl des Zugangs zur Operation der Halswirbelsäule bei Myelopathie fließen eine Vielzahl von Faktoren ein, wie:

die Anzahl der Segmente mit Raumforderung,

die Lokalisation der Raumforderung,

das sagittale Profil (insbesondere fixierte Kyphose versus Lordose),

die erforderliche Stabilität,

Begleiterkrankungen (Osteoporose, rheumatoide Arthritis) [5] und

zu erwartende Komplikationen (Beruf unbedingt berücksichtigen!) [3].

Die Notwendigkeit, all diese Einzelfaktoren entsprechend des klinischen Bildes und unter Berücksichtigung des Einzelschicksals zu würdigen, macht eine Entscheidung für einen bestimmten Zugang schwierig. Papavero et al. haben 2019 hierfür eine interessante Entscheidungshilfe angeboten, den 7 Letter Code [5].

Zur groben Orientierung bei der Planung des Zuganges können zunächst einmal folgende Regeln gelten:

Ventrale Zugänge, entsprechende Übung und Erfahrung vorausgesetzt, sind wenig traumatisierend und verursachen postoperativ wenig Schmerzen und haben eine niedrige Infektionsrate. Dorsale Zugänge an der Halswirbelsäule erfordern zur Dekompression bei Myelopathie die Ablösung der Muskulatur, sind somit eher traumatisierend im Vergleich zu ventralen Zugängen, verursachen postoperativ mehr Schmerzen und tendieren eher zu Wundheilstörungen.

Dorsale Fixationen sind in der Regel stabiler als ventrale [6, 7].

Eine Dekompression ist von ventral wie von dorsal gut machbar, hier gibt es aber eine wirklich wichtige Regel: Sobald eine nicht korrigierbare, also rigide Kyphose vorliegt, die bei dorsaler Dekompression verbleibt und als Hypomochlion gegen das Rückenmark drückt, MUSS von ventral dekomprimiert und das Hypomochlion entfernt werden [5].

Schwere Komplikationen bei ventralen Zugängen sind unter anderem die permanente Heiserkeit (als Komplikation nochmals schwerer zu werten bei z.B. Lehrern und Sängern), Schluckstörungen (als Komplikation nochmals schwerer zu werten bei z.B. Köchen) und Ösophagusverletzungen, die vor allem bei bestrahlten und mehrfach voroperierten Patienten drohen. Eine schwere Komplikation der dorsalen Zugänge bei weiter Dekompression ist die Insuffizienz der Faszienadaptation. Diese bedingt dann eine Insuffizienz der dorsalen Nackenmuskulatur, was vor allem bei Sportlern zu beachten ist.

Berücksichtigt man diese Eckpunkte, dann kann man folgende Empfehlungen zur Zugangswahl bei Myelopathie nachvollziehen:

  • 1. Liegt eine mono- oder bisegmentale Raumforderung durch einen Bandscheibenvorfall oder Spondylophyten vor, ist eine ventrale Dekompression durch Entfernung der Pathologie, Insertion eines Cages mit Knochenfüllung und eine ventrale Plattenapplikation in der Regel ausreichend. Bei einer solchen Situation ist dies wahrscheinlich die geeignetere Operation, weil die Dekompression von ventral gut machbar ist, die Komplikationsrate niedrig und die Stabilität mit einer Cage-Plattenkonstruktion absolut ausreichend ist.

  • 2. Betrifft die Raumforderung mehr als 3 Segmente, die im idealen Fall neutral oder lordotisch gestellt sind, ist eine dorsale Dekompression sinnvoll, eine Stabilisierung (mit Massa lateralis und/oder Pedikelschrauben, die durch Stäbe verbunden werden) Pflicht und die Anlagerung von Knochen (gemacht aus der Resektion der Laminae) zur dauerhaften Stabilisierung durch die (hoffentlich) eintretende Fusion sehr empfohlen. Warum die dorsale Operation bei 3 und mehr Segmenten? Die Fixation von dorsal ist stabiler und ab 3 Segmenten ist die Komplikationsrate nach internationalen Arbeiten niedriger als bei ventralen Operationen [3].
  • 3. Liegt eine rigide, d.h. sich unter Funktion nicht ausgleichende Kyphose mit Druck gegen das Rückenmark vor, dann MUSS diese von ventral entfernt werden. Sie wird komplett reseziert, der Defekt durch einen Korb mit Knochenfüllung überbrückt und ventral mit einer Platte stabilisiert.
  • 4. Ist es erforderlich, mehr als 1 Wirbelkörper zu resezieren und zu ersetzen, sollte, nach Meinung der Autorengruppe sogar MUSS, zusätzlich von dorsal stabilisiert werden, denn die ventrale Stabilisierung reicht häufig bei Resektion von mehr als einem Wirbelkörper nicht aus, um eine dauerhafte Fixation zu ermöglichen.
  • 5. Schlechte Knochenqualität, vor allem in Kombination mit rheumatoider Arthritis sprechen für eine dorsale Dekompression und Stabilisierung. Die Fixation von dorsal ist einfach deutlich stabiler [6, 7].
  • 6. Liegt die Pathologie bei z.B. einem Sänger vor, sollte man aber, wenn irgendwie machbar, nicht ventral operieren, s.o.. Umgekehrt sollte man bei einem Sportler unbedingt die dorsale Nackenmuskulatur schonen und entsprechend ventral operieren.

Zur Illustration, wie diese Regeln zur Operationsplanung bei Myelopathie Anwendung finden, sollen die beiden
folgenden Fälle dienen:

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