Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020

Die komplizierte Halswirbelsäule

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war vor allem, dass die Patientin in mehreren Kliniken in Deutschland und Nordamerika beraten worden war in dem Sinn, dass eine Operation nicht möglich sei, da schwerste Komplikationen durch die höchstwahrscheinliche Verletzung der A. vertebralis sicher seien. Eine Patientin vor diesem Hintergrund im Sinne einer operativen Therapie zu beraten, ist schwierig. Zum anderen war es sehr wahrscheinlich, dass es sich um einen gutartigen Tumor (Osteom) handelte und diese Diskrepanz zwischen “gutartiger Tumor – schwerste Komplikationen“ die Entscheidung für einen komplexen Eingriff nicht leichter macht. Erst die exakte Analyse des Leidensdrucks („Mein Kopf ist schief und der Nackenschmerz nicht auszuhalten.“) in Kombination mit einem Okklusionstest der A. vertebralis, der Hinweise gibt für eine komplikationsfreie Resektion des Gefäßes, ermöglichten die Planung wie oben beschrieben. Die Operation war dagegen vergleichsweise einfach, die Erholung unproblematisch.

Fall 6

Eine 54-jährige Patientin wurde in einem auswärtigen Krankenhaus an einem Tumor in Höhe C2/3 operiert. Es wurde eine Tumorteilresektion, Cage/Plattenplastik durchgeführt. Die histologische Untersuchung des Präparates führte zur Diagnose einer aneurysmatischen Knochenzyste. Fünfzehn Monate später fand sich erneut ein Tumorrezidiv mit radiologisch durch das Tumorwachstum bedingter beginnender spinaler Kompression, klinisch mit Zeichen der Ataxie und Spastik, Kernspin in Abbildung 13, koronare CT mit Lage des ventralen Implantates und links davon liegender Knochendestruktion durch den Tumor in Abbildung 14. Aufgrund des jungen Alters und des perfekten klinischen Zustandes wurde die Indikation zur Revisionsoperation gestellt. Ziele dieser erneuten Operation waren: 1. Die komplette Resektion des Tumors, möglichst en bloc. 2. Die stabile Rekonstruktion des Defektes. 3. Die Vermeidung neurologischer Defizite. Diese Ziele erforderten zunächst die Testokklusion der linksseitigen A. vertebralis. Der Okklusionstest zeigte, dass eine Resektion der A. vertebralis im Rahmen der Resektion des Tumors möglich sein sollte. Zur radikalen Resektion erschien es uns unumgänglich, über 2 Zugänge zu operieren, und zwar zunächst dorsal mit Isolation des Tumors, Umlegung mit einer Goretex-Patch (zur Erleichterung der Entnahme des Tumorpräparates bei der ventralen OP), Unterbindung der A. vertebralis dorsal in Höhe C1, Instrumentation der nicht befallenen knöchernen dorsalen Anteile. Dann nach Erholung ventrale Operation über einen transoralen Zugang mit Unterkieferspaltung, Unterbindung der A. vertebralis von ventral in Höhe C4, Isolation des Tumors, Entfernung en bloc. Abbildung 15 zeigt in der sagittalen Rekonstruktion der CT nach der dorsalen Operation die Lage der dorsalen Implantate und die Umlegung des Tumors (schwarze Linie) mit einer Goretex-Membran. Abbildung 16 zeigt (dreidimensionale Rekonstruktion der CT) das en bloc entnommene Präparat mit Einschluss der initialen Instrumentation. Der postoperative Verlauf war kompliziert, u.a. durch eine lange Zeit auf der Intensivstation aufgrund einer Pilzpneumonie. Die Patientin erholte sich, fühlte sich wohl und hatte kein neurologisches Defizit. Nach 6 Monaten trat allerdings eine Rachenperforation durch den Cage auf, weshalb der ventrale Teil der Operation noch einmal wiederholt wurde. Letztendlich wurde das ventrale Implantat bei der Revision gewechselt (Abb. 17) und ein gefäßgestielter Lappen aus Haut/Subcutis zur Defektdeckung verwendet. Die Patientin ist nach wie vor ohne neurologisches Defizit, fühlt sich extrem wohl, wurde vor kurzem Großmutter und ist mit ihrer Tochter gezeigt in Abbildung 18.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war nach Meinung der Autoren hier einfach alles. Von der Entscheidung nach der ersten Operation zu revidieren über die Diagnostik, die Planung, die technische Durchführung, die Beherrschung der postoperativen Komplikationen, die Revision der Revision – hier war nichts einfach, aber einfach alles kompliziert.

Fall 7

Ein 13-jähriger Junge wurde auswärts operiert aufgrund einer Neurofibromatose via Laminektomie C3–C5. Nach Monaten entwickelte er allerdings eine halbseitige Lähmung, die letztendlich, wenn auch verzögert, auf eine schwere Kyphose nach Laminektomie (Swan-Neck-Deformität) zurückgeführt werden konnte (Abb. 19, 20), denn der kernspintomographische Befund des Gehirns war normal. Als ersten Schritt der Therapie führten wir die Anlage eines Halo-Ringes und die allmähliche Halo-Traktion durch, wodurch sich die Kyphose bereits deutlich besserte (Abb. 21). Im nächsten Schritt führten wir dann unter MEP/SSEP Monitoring eine dorsale Instrumentation von C2–T1 durch, begleitet von einem dorsalen Release der knöchernen und bindegewebigen Strukturen [7]. Das war so gut möglich, dass sich gegen Ende der Operation ein perfektes Alignement der HWS durch Einlage der vorgebogenen Stäbe erzielen ließ (Abb. 22). Neurologisch bildete sich das halbseitige Defizit innerhalb weniger Tage zurück. Die ventrale Operation von C2–C6 mit Entfernung der Bandscheiben, Insertion von Harms-Cages, gefüllt mit Eigenknochen, wurde nur noch durchgeführt, um den Erfolg der Reposition zu sichern.

Was war hier kompliziert?

Kompliziert war auch hier, den Zusammenhang zwischen – untypischer – neurologischer Symptomatik und dem radiologischen Befund an der Halswirbelsäule herzustellen. Es war auch nicht unproblematisch, Eltern und Kind zu erklären, dass zunächst ein Ring an den Kopf angelegt und ein Zug auf die Halswirbelsäule ausgeübt wird, um eine Vorkorrektur zur Operation zu erreichen. Die Operation selbst war dann aber unproblematisch.

Fazit

Indikationsstellung und Durchführung von Halswirbelsäuleneingriffen können sehr kompliziert sein. Gründe hierfür sind: die komplexe Anatomie von Halswirbelsäule, Rückenmark und Gefäßen, die die Halswirbelsäule begleiten, die Funktion der Halswirbelsäule. Ein zentrales Problem ist die Schwierigkeit, zu analysieren, ob klinische Symptome durch Veränderungen der Halswirbelsäule bedingt sind. Zur Planung und Durchführung der Versorgung ist deshalb eine individualisierte Betrachtung der Symptome und klinischen Befunde vor dem Hintergrund der radiologischen Befunde zwingend erforderlich. Der Verlauf der Arteria vertebralis in Bezug zu Resektionslinien und Operationsfeld muss unbedingt sorgfältig analysiert, die Mechanik der Halswirbelsäule bei Instrumentationen beachtet werden.

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