Übersichtsarbeiten - OUP 04/2020
Die komplizierte Halswirbelsäule
Fall 3
Ein 62–jähriger Kaufmann im Einzelhandel litt seit vielen Jahren unter einer zervikalen Myelopathie, die aber nicht diagnostiziert wurde. Erst die Unfähigkeit, wenige Schritte geradlinig zu laufen und eine ganz erhebliche Einschränkung der Motorik der Hände, führte zur Kernspin- und Computertomographie der Halswirbelsäule und zur Diagnose (Abb. 3, 4). Man erkennt auf diesen Darstellungen die Raumforderung von C3–T1, die erhebliche kyphotische Fehlstellung C3/4, die entsprechend auch zu einer Raumforderung führt (Hypomochlion). Schließlich fällt die Olisthese C7/T1 auf. In dieser Höhe findet sich auch ein im Kernspintomogramm signalintensiver Herd. Nach den oben erklärten Prinzipien fordert diese Situation eine dorsale Dekompression und Stabilisierung von C2–T1 sowie eine Wirbelkörperresektion, den Ersatz der Wirbelkörper mit Cage und Knochen sowie eine Platte. Berücksichtigt man noch, dass das Segment C3/4 knöchern fixiert ist, ist im ersten dorsalen Schritt hier dann noch eine Osteotomie der dorsalen Strukturen nötig. Das postoperative dreidimensionale Computertomogramm mit Implantaten zeigt Abbildung 5. Der Patient hat sich langsam, aber stetig erholt, ist heute 12 Jahre nach der Operation ohne Hilfsmittel gehfähig und hat eine gute Feinmotorik der Hände.
Was war hier kompliziert?
Kompliziert war es zunächst für den Zuweiser, die Diagnose zu stellen. Wie bereits oben erwähnt, werden Patienten mit Myelopathie zu spät diagnostiziert. Für den Behandler war es schwierig, zu realisieren, dass eine äußerst komplexe, langstreckige und zirkumferente Operation erforderlich war, um eine suffiziente Dekompression und Stabilisierung zu erreichen, die den Patienten nicht überfordert und gleichzeitig eine suffiziente Dekompression und Fixation gewährleistet. Schließlich war auch die Durchführung der Operation technisch nicht einfach und die Erholung des Patienten dauerte lang.
Fall 4
Ein 67-jähriger Patient stellte sich vor mit einer Störung der Fingerfeinmotorik. Die Kernspin- und Computertomographie zeigten eine erhebliche Raumforderung hinter C2 und C3 (Abb. 6, 7), die Halswirbelsäule befand sich in einem neutralen Alignement, das heißt es lag keine Kyphose und somit kein Druck durch ein Hypomochlion gegen das Rückenmark vor. Entsprechend konnte auf ein ventrales Vorgehen verzichtet werden (was in diesem Fall bedeutet hätte, die Raumforderung durch einen transoralen oder sogar transmandibulären Zugang zu entfernen). Insofern begannen wir von dorsal, dekomprimierten von C1–C4 und führten eine Instrumentation von C1–C5 durch, postoperatives Röntgenbild ap und seitlich in Abbildung 8. Die Myelopathie des Patienten besserte sich erheblich. Es trat auch keine Progredienz im weiteren Verlauf auf, wir überblicken derzeit bei ihm 4 Jahre postoperativen Verlauf.
Was war hier kompliziert?
Kompliziert war auch hier die Diagnose; es wurde bei Störung der Fingerfeinmotorik lange keine Verbindung zur Halswirbelsäule hergestellt. Für den Behandler war es schwierig, umzudenken; obwohl die Raumforderung ventral des Rückenmarks liegt, sollte hier von dorsal dekomprimiert werden. Ein ventraler Zugang hätte von transoral durchgeführt werden müssen und die Stabilisierung von ventral wäre nicht so suffizient und einfach gewesen wie von dorsal.
Die chirurgische Therapie verschiedener Pathologien der Halswirbelsäule am
Beispiel von Tumoren im kranio-zervikalen Übergang und von zervikaler Kyphose
Tumore im Bereich der Halswirbelsäule stellen aufgrund der anatomischen Besonderheiten und aufgrund der Tatsache, dass man manche Tumore radikal operieren muss, eine ganz besondere Herausforderung dar. Es gibt sehr viele Aspekte, die zu beachten sind. Im Einzelfall von ganz besonderer Bedeutung ist die Lagebeziehung der A. vertebralis zur Halswirbelsäule. Sie tritt in der Regel bei C6 seitlich in die Halswirbelsäule ein, begleitet sie dann bis C2 seitlich durch die Foramina transversaria, windet sich bei C2 nach dorsal und tritt am Oberrand des C1 nochmals nach medial, perforiert die Dura von außen und läuft nach kranial intradural weiter, um sich mit der Gegenseite zur A. basilaris zu vereinigen. Da die A. basilaris den Hirnstamm versorgt, MUSS vor einer Tumoroperation an der Halswirbelsäule, wenn auch nur die geringste Gefahr besteht, dass die A. vertebralis verletzt werden könnte, ein Test unternommen werden um zu checken, ob beide Aa. vertebralis erforderlich sind, um den Hirnstamm zu versorgen. Meist ist nur eine A. vertebralis erforderlich, um eine suffiziente Durchblutung des Hirnstamms zu gewährleisten, aber dies ist zum einen nicht immer so und es kann zum anderen nicht aus dem jeweiligen Kaliber des Gefäßes abgeleitet werden, welches das Hauptversorgende ist. Ein Okklusionstest kann hier das entscheidende Plus an Information bringen [4, 8]. Hat man herausgearbeitet, welches Gefäß okkludiert werden kann, muss man alles daran setzen, das kontralaterale zu erhalten.
Fall 5
Eine 43-jährige Patientin stellte sich mit einer zunehmenden Nackenschmerzhaftigkeit und einer Kopfschiefhaltung vor. Als Ursache fand sich in der Computertomographie der Halswirbelsäule ein knöcherner Tumor im Atlas auf der rechten Seite (Abb. 9). Die A. vertebralis auf dieser Seite war schon deutlich okkludiert, deutlich kaliberschwächer als die Gegenseite und auch im Okklusionstest (Abb. 10) gab es Hinweise darauf, dass das Gefäß geopfert werden kann, um den Tumor komplett zu entfernen. Es wurde geplant, von dorsal zu beginnen, Okziput und C2 zu präparieren, den Tumor Stück um Stück zu entfernen (es handelte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein Osteom) und den Defekt zwischen Okziput und C2 mit einem Korb nach Harms mit Füllung aus autologem Beckenknochen zu überbrücken. Die Instrumentation wurde geplant, da die Operation im mobilsten Teil der Halswirbelsäule stattfand, der jetzt zusätzlich durch die Resektion des Atlas auf der rechten Seite nochmals destabilisiert wurde. Es erfolgte eine Instrumentation in C0, C1 kontralateral und C2 bilateral. Spezielle Sorgfalt war darauf zu legen, die A. vertebralis der Gegenseite NICHT zu verletzen. Die Operation wurde genauso gemacht. Ergebnis: Computertomogramm mit Implantaten in Abbildung 11, Patientin (mit Vater) in Abbildung 12 mit perfekter Lebensqualität.