Übersichtsarbeiten - OUP 02/2017
Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen
Henning Ott1, Anja Hirschmüller1,2, Lukas Weisskopf1
Zusammenfassung: Muskelverletzungen gehören im Sport zu den häufigsten Verletzungen und haben eine beträchtliche Zahl an Ausfalltagen zur Folge. Die Länge der Ausfallzeit variiert mitunter deutlich und wird maßgeblich durch die Schwere der Verletzung selbst, die Erstversorgung und deren Behandlung bzw. Rehabilitation bestimmt. Die Ursachen von Muskelverletzungen sind verschieden und nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Deren Mitbehandlung ist aber entscheidend für einen nachhaltigen Therapieerfolg. Die betroffenen Regionen unterscheiden sich je nach Sportart. Die genaue Kenntnis der sportartspezifischen Belastung der verschiedenen Muskelgruppen ist daher für die Diagnostik, Therapie und Prävention unerlässlich. Dieser Artikel soll eine einleitende Übersicht von Muskelverletzungen darstellen, anhand derer ein Bogen von der Einteilung bis hin zur möglichen Therapie gespannt werden soll.
Schlüsselwörter: Muskelverletzung, Muskelverhärtung, Zerrung, Hamstring-Verletzungen, Muskelfaserriss, Muskelbündelriss
Zitierweise
Ott H, Hirschmüller A, Weisskopf L: Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen.
OUP 2017; 2: 69–74 DOI 10.3238/oup.2017.0069–0074
Summary: Muscle injuries are among the most frequent sport-related injuries often leading to absence from training or competition. A number of factors have been proposed as being indicators of time taken to return to play including the type of injury, primary care and rehabilitation protocols.
Beside the number of previous injuries, muscle strength
capacities and range of motion deficits are among the factors associated with (re-)injury. The assessment and therapy of those factors, therefore, is essential to achieve sustained success. Injury sites differ considerably among sports. Having detailed notice on the sport-specific muscle loading profiles is essential for diagnosis, therapy and prevention. This article provides an overview on muscle injuries, including their classification and clinical management.
Keywords: muscle injuries, muscle strain, hamstring injuries, minor partial muscle tear, moderate partial muscle tear
Citation
Ott H, Hirschmüller A, Weisskopf L: Epidemiology, diagnostic and classification of muscle injuries.
OUP 2017; 2: 69–74 DOI 10.3238/oup.2017.0069–0074
Einleitung
Die Behandlung von Muskelverletzungen stellt sowohl im Amateur- als auch Leistungs- und Profisport eine Herausforderung dar. Ihre Behandlung sollte sehr differenziert und interdisziplinär erfolgen, um eine schnelle und sichere Rückkehr in den Sport zu garantieren. Insbesondere das Erkennen und Mitbehandeln von (meist funktionellen) Begleitpathologien ist entscheidend, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen.
Im Rahmen der UEFA-Studie konnte Ekstrand für den Profifußball zeigen, dass ein Drittel aller Verletzungen im Fußball Muskelverletzungen sind [1]. Ein Team mit 25 Spielern muss von etwa 10 Muskelverletzungen pro Saison ausgehen. Allein diese Tatsache kann den Saisonverlauf einer Mannschaft oder des Einzelathleten mitunter maßgeblich beeinflussen. Eine differenzierte Diagnostik sowohl klinisch als auch bildgebend ist notwendig, um eine eindeutige Diagnose zu stellen, denn von dieser ausgehend, kann die spezifische Therapie und eine Prognose über die Ausfallszeit gegeben werden, die meist Athlet und Verein unmittelbar verlangen.
Die Bildgebung mittels MRT und Sonografie ist sinnvoll und lässt eine bessere Prognose hinsichtlich der Ausfallzeit zu [2]. Allerdings entgehen viele Verletzungen ohne Strukturschaden der Bildgebung, machen aber zugleich sowohl einen Großteil der Verletzungen hinsichtlich der absoluten Zahl als auch der Ausfallzeit aus. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der klinischen Untersuchung.
Eine Einteilung in die einzelnen Verletzungen ist nicht immer einfach, da die Übergänge zwischen den verschiedenen Schweregraden der Muskelverletzungen häufig fließend sind, mitunter weder klinisch noch bildgebend sicher unterschieden werden können, und die Veränderungen auf mikroskopischer Ebene stattfinden. Dennoch ist eine Klassifikation sehr hilfreich und notwendig. Um eine Anwendbarkeit in der klinischen Praxis zu bekommen, ist es wichtig, die Verletzungen sowohl anhand ihrer Physiologie als auch ihrem klinischen Erscheinungsbild zu kategorisieren. Durchgesetzt hat sich hier die Klassifikation von Müller-Wohlfahrt und Kollegen [3], auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird.
Epidemiologie
Verletzungen, die die Muskulatur betreffen, stellen in den meisten Sportarten die häufigste Verletzungsform dar. Je nach Sportart unterscheiden sich diese jedoch deutlich.
Über 30 % aller Verletzungen im Fußball sind Muskelverletzungen, mehr als die Hälfte davon sind Verletzungen des Oberschenkels. In zwei Drittel der Fälle sind dabei die Hamstrings und nur in 1/3 der Quadrizeps betroffen. Weitere häufige Lokalisationen sind die Hüft-Leisten-Region mit 23 % und die Waden mit 13 % [1]. So muss eine Profifußballmannschaft mit 10–15 Muskelverletzungen pro Saison rechnen. Alleine die Hamstring-Verletzungen haben ca. 80 Ausfalltage pro Saison und Mannschaft zur Folge. Die Ausfallzeit variiert dabei, abhängig von der Art und Schwere der Verletzung von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen, bei Rupturen sogar mitunter einige Monate. Während rund die Hälfte der Verletzungen eine Ausfallzeit von 1–4 Wochen zur Folge hat, liegt diese bei 13 % der Fälle bei über 28 Tagen. Das Verletzungsrisiko im Spiel ist 6-mal höher als im Training und steigt für Oberschenkel- und Leisten-/Hüftverletzungen über die Dauer der Belastung an. Gleichzeitig finden sich in diesen Regionen auch die schwersten Verletzungen. Nahezu alle indirekten Muskelverletzungen (Abb. 1) entstehen ohne Gegnerkontakt und nur 5 % im Rahmen eines Fouls.
Ein weiteres Problem stellen die Rezidiv-Verletzungen dar, die in bis zu 16 % der Fälle auftreten [1] und überdurchschnittlich häufig die Leisten-/Hüftregion betreffen. Die zu erwartende Ausfallzeit ist dann ca. 30 % länger als bei der Primärverletzung.
Die Verletzung der ischiocruralen Muskulatur ist in den Sportarten mit Explosivkraft die führende Muskelverletzung, wobei mit 84 % der M. biceps femoris mit Abstand am häufigsten betroffen ist. Für die Hamstring-Verletzungen besteht im Spiel sogar ein 11-mal höheres Risiko als im Training, wobei ein Zusammenhang zur Dauer der Belastung nicht gefunden werden kann [2].
All dies hat in den letzten Jahren zu einem Umdenken in Richtung verstärkter Prävention geführt. So konnte anhand einer Untersuchung an dänischen Profi- und Amateur-Fußballspielern gezeigt werden, dass bereits ein 10-wöchiges exzentrisches Training zu einer signifikanten Reduktion an Hamstring-Verletzungen führt [4]. Die Verletzungsrate über den weiteren Saisonverlauf in der exzentrischen Trainingsgruppe lag bei 3,8/100 Spieler in der Kontrollgruppe bei 13,1. Noch deutlicher waren die Unterschiede bei den Rezidiv-Verletzungen mit 7,1 vs. 45,8/100 Spieler. Ausführlicher wird die Prävention von Muskelverletzungen in einem eigenen Artikel behandelt (Seite 87).
Ursachen von
Muskelverletzungen
Übersteigt die einwirkende Kraft die Elastizitätsgrenze des Muskels, kommt es zum Strukturschaden. Diese finden sich entweder im Rahmen von Sportarten, bei denen die Maximalkraft im Vordergrund steht (z.B. Gewichtheben) oder vornehmlich bei hoher Explosivkraft (Sprinter, Ballsportarten). Unterschieden werden kann weiter zwischen Muskelverletzungen verursacht durch eine hohe exzentrische oder konzentrische Belastung, wobei sich dabei die Verletzungen hinsichtlich ihrer Anatomie/Physiologie nicht unterscheiden.
Meist finden die Verletzungen am muskulotendinösen Übergang statt, da hier 2 Gewebe unterschiedlicher Steifigkeit und Elastizität aufeinandertreffen. Abzugrenzen von den genannten Mechanismen sind die direkten Verletzungen infolge einer direkt einwirkenden Kraft.
Die eigentlichen Ursachen von Muskelverletzungen sind vielfältig und nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, da die Verletzung selbst meist nur am Ende einer Störung in der funktionellen Kette steht. Daher ist die Untersuchung proximal und distal der Verletzung für die weitere Therapie unerlässlich. Am häufigsten finden sich Verkippungen des Beckens, muskuläre Dysbalancen oder vorbestehende Muskelverhärtungen. Letztere können durch eine Reizung der spinalen Nervenwurzeln verursacht werden (siehe Abschnitt Klassifikationen), sodass dieser Bereich nicht außer Acht gelassen werden darf.
Der sportartspezifische Trainingszustand vieler Sportler führt häufig zu einer Dysbalance zwischen Agonisten und Antagonisten der verschiedenen Muskelgruppen. Beim Fußballspieler kippt das Becken häufig nach ventral, sodass es zur Hyperlordose der LWS und durch Dorsalverlagerung des Tuber ischiadicums zur Erhöhung der Spannung auf die Hamstrings kommt. Bestehende Muskelverhärtungen vor der Belastung und solche, die während der Belastung entstehen, sind ein Hochrisikofaktor für eine strukturelle Muskelverletzung.
Eine Untersuchung an Fußballspielerinnen konnte zeigen, dass diejenigen, die eine erhöhte Spannung im Bereich der Hüftflexoren hatten, eine bis zu 60 % niedrige Aktivität des Gluteus maximus im Double Leg Squat (DLS) hatten (p 0,005) [5]. Zudem zeigte sich eine bis zu 2,6-fach höhere Aktivität des Bizeps femoris. Hinsichtlich der Maximalkraftwerte während des DLS fanden sich keine Differenzen.
Dies deckt sich mit eigenen Untersuchungen an Profifußballspielern, die eine unzureichende bzw. zu späte Aktivierung der Glutealmuskulatur bei der Hüftstreckung zeigten. Diese Veränderungen können zu einer Überlastung der Hamstrings führen und erhöhen somit die Verletzungswahrscheinlichkeit [6].
Die Oberkörperposition beim Sprinten hat ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf die Spannung des langen Kopfs des Biceps femoris und des M. semimembranosus. Insbesondere die exzentrische Belastung auf diese Muskeln bei nach vorne gebeugtem Oberkörper ist in der späten Standphase deutlich erhöht, was potenziell eine höhere Verletzungsgefahr mit sich bringt [7].
Ähnliches gilt für die Überlastungsschäden der Muskulatur. Die Fehlbelastung über längere Zeit führt insbesondere am muskulo-tendinösen Übergang oder an der Sehne selbst zu strukturellen Veränderungen. Dabei kann es sowohl zur Überlastung des angrenzenden Knochens (z.B. Osteitis pubis) oder zur (Insertions-)Tendinose kommen. Diese Veränderungen erhöhen die Vulnerabilität im betroffenen Gebiet und haben nicht selten eine Strukturverletzung des Muskels selbst zur Folge. Im Bereich der Adduktoren kann es zur Abhebung der gemeinsamen Faszie des M. rectus abdominis und der Adduktoren kommen, was im MRT dann als „secondary cleft sign“ imponiert [8]. Gerade in diesem Bereich sind die Diagnostik und Therapie besonders komplex, da Pathologien wie das femoro-azetabuläre Impingement (FAI) oder des Leistenkanals selbst (meist zusammenfassend bezeichnet als Sportlerleiste/weiche Leiste) einen wesentlichen Einfluss haben können.
Diagnostik
Eine eingehende Diagnostik ist für die Einleitung der richtigen Behandlung einer Muskelverletzung und die häufig durch Sportler und Vereine geforderte Prognose der Ausfallzeit wichtig. Dabei spielen Anamnese, Inspektion und klinische Untersuchung neben der Bildgebung eine tragende Rolle.
Bereits aus der Anamnese lassen sich direkte (Kontusionen etc.) und indirekte Muskelverletzungen voneinander unterscheiden. So berichtet der Sportler bei einer Muskelverhärtung über ein zunehmendes Spannungsgefühl in der Muskulatur, während es sich bei den Zerrungen, Muskelfaser- und -bündelrissen sowie Partial- und Komplettrupturen um Akutereignisse handelt. Bei einem „Acute-on-chronic-Ereignis“ kann eine Akutsymptomatik aber mitunter auch fehlen oder zumindest deutlich abgeschwächt sein (z.B. Muskelbündelriss nach Kontusion mit Einblutung). Da gerade die Muskelverhärtung ein Risikofaktor für eine Strukturverletzung darstellt, muss auch in der Anamnese nach möglichen Beschwerden (Muskel, Rücken) vor dem Ereignis und in der Vergangenheit gefragt werden. Während der Belastung selbst fallen die Sportler durch wiederholtes Dehnen und Vermeiden hochintensiver Belastungen auf [8].
Die sofortige Beendigung der Belastung deutet meist auf einen strukturellen Schaden der Muskulatur hin. Kommt es dabei noch zu einem Sturzereignis (meist schmerzbedingt oder reflektorischer Spannungsverlust der Muskulatur) ist eher von einer größeren Schädigung auszugehen.
Ferner sind im Rahmen der Anamnese Vorverletzungen, vorausgegangene Behandlungen und Trainingsintensitäten sowie der Zeitpunkt des Ereignisses im Verhältnis zur Belastungsaufnahme (Beginn, Mitte, Ende) festzuhalten. Die Beschaffenheit des Untergrunds, das Schuhwerk/Schuhwechsel und Ernährungsgewohnheiten können weitere Hinweise liefern.
Die Inspektion der Muskulatur kann Schwellungszustände, Hämatombildungen oder gar Veränderungen des Muskelreliefs bei Muskelretraktionen zeigen. Dem schließt sich die Funktionsprüfung des Muskels selbst und der angrenzenden Gelenke an.
Die Palpation stellt für den geübten Untersucher sicher die wichtigste Diagnostik im Rahmen der klinischen Untersuchung dar. Es bedarf aber viel Übung und Erfahrung, um auch kleinere Muskelverletzungen sicher zu tasten. Das Einprägen des Ausgangsbefunds ist für die Beurteilung des Muskels im weiteren Verlauf der Therapie und Rehabilitation essenziell.
Der betroffene Muskel sollte auf seiner gesamten Länge in entspanntem Zustand sowie im Seitenvergleich untersucht werden. Abhängig vom ausgeübten Druck auf die Muskulatur können die oberflächlichen Muskelschichten getrennt von den tiefer gelegenen Muskelschichten untersucht werden. Beurteilt wird die Schmerzlokalisation (muskulo-tendinöser Übergang, Muskelbauch, Sehnenansatz) und -ausdehnung (punktuell vs. entlang des Muskels). Bei größeren Verletzungen lässt sich z.T. eine Muskellücke tasten, wobei die Lokalisation der Verletzung (oberflächlich vs. tief) und die Schwellung im Verletzungsbereich großen Einfluss haben. Zu berücksichtigen ist auch der unterschiedliche Spannungszustand der Muskulatur in Abhängigkeit von der vorausgegangenen Belastung und dem Sportler selbst. Die interindividuelle Varianz ist hier hoch, sodass es gerade im Rahmen einer Mannschaftsbetreuung wichtig ist, diese Unterschiede beim gesunden Athleten zu kennen, um eine Änderungen im Rahmen der Verletzung besser interpretieren zu können.
Die Bildgebung stellt einen wichtigen, ergänzenden Baustein in der Diagnostik von Muskelverletzungen dar, wobei auf diese in einem eigenständigen Kapitel später gesondert eingegangen wird (Seite 75).
Klassifikation
Auch eine Klassifikation kann die Einzelverletzung nicht immer genau abbilden und die Zuordnung zu einer Gruppe ist nicht immer ganz klar, zumal die Übergänge zwischen den Schweregraden mitunter fließend sind. Auch wenn die Biologie der Heilung einer Muskelverletzung in den betroffenen Muskel die Gleiche ist, variieren die Ausfallzeiten zwischen den einzelnen Muskelgruppen mitunter deutlich, was vornehmlich mit der sportartspezifischen Belastung zusammenhängt. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, müsste daher die Klassifikation für die einzelnen Muskelgruppen und Sportarten angepasst werden, was aber in der täglichen Praxis nicht praktikabel wäre.
Für die klinische Therapie von Muskelverletzungen hat sich in den vergangenen Jahren die Klassifikation nach Müller-Wohlfahrt et al. (2010) /Münchener Klassifikation durchgesetzt, die im Jahre 2013 nochmals angepasst wurde [3].
Hierzu abgegrenzt werden muss die Klassifikation für die Beurteilung des MRT/US einer Muskelverletzung. Hier findet meist die Klassifikation nach Peetrons 2002 und Rybak 2003 Anwendung. Vergleichend sind diese in Tabelle 1 dargestellt.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Einteilungen ist das Fehlen der „Muskelzerrung“ in der radiologischen Graduierung. So werden in radiologischen Befunden Verletzungen mit Nachweis eines Muskelödems bei Fehlen eines Strukturschadens zumeist als Grad 1 angegeben, was allerdings in der Praxis dem Muskelfaserriss entsprechen würde. Zum anderen unterscheiden sich die Definitionen von „Muskelfaser-„ und „Muskelbündelriss“. Müller-Wohlfahrt et al. ziehen die Grenze bei 5 mm Durchmesser, da dies die maximale Größe eines Sekundärbündels (Faszikel, Fleischfaser) umgeben vom Perimysium externum sei und eine funktionelle Einheit bilde. Die radiologische Einteilung richtet sich nach dem prozentualen Anteil der Verletzung, gemessen an Gesamtquerschnitt des Muskels selbst.
Generell unterscheidet die Einteilung der Muskelverletzungen nach Müller-Wohlfahrt direkte und indirekte Muskelverletzungen. Eine Übersicht über die Einteilung gibt Abbildung 1.
Typ 1A Ermüdungsbedingte,
schmerzhafte
Muskelverhärtung
Bei dieser Läsion handelt sich um eine rein funktionelle Problematik. Muskelermüdung ist ein prädisponierender Faktor für eine Muskelverletzung [6], sodass auch diese leichte Form der Läsion ernst genommen werden muss. Die Spannung des Muskels erhöht sich. Der Muskel wird dadurch rigider, was vom Sportler als Verhärtung bemerkt wird und sich in der klinischen Untersuchung auch als solche darstellt. Es besteht eine Druckempfindlichkeit über eine längere Strecke ohne echten punktuellen Maximalschmerz. Durch Dehnen versucht der Sportler, die Spannung zu reduzieren und vermeidet Belastungsspitzen. Die Ausfallzeit beträgt lediglich einen bis wenige Tage.
Typ 1B „Muskelkater“, DOMS
Der Muskelkater/DOMS (Delayed-Onset Muscle Soreness) betrifft meist den Untrainierten bzw. tritt mehrere Stunden nach ungewohnt hohen Belastungen auf. Während früher das Laktat verantwortlich für diese selbstlimitierende folgenlos ausheilende Läsion gemacht wurde, konnten mehrere Arbeitsgruppen zeigen, dass es sich scheinbar um Sarkomer-Einrisse einzelner Muskelfibrillen vor allem im Bereich der Z-Scheiben handelt [3]. Diskutiert werden auch inflammatorische Prozesse, die verstärkt nach höherer Belastung ablaufen.
Auch hier ist der Muskel druckempfindlich, eine echte strangartige Verhärtung fehlt aber. Eine Trainingspause ist meist nicht erforderlich, ggf. muss nur die Trainingsintensität angepasst werden.
Typ 2A Rückenbedingte neuro-
muskuläre Muskelläsion
Ursache dieser Muskelläsion ist eine Regulationsstörung des Muskeltonus auf spinaler Ebene. Dabei kann es sich um strukturelle Störungen wie z.B. der Bandscheibenprotrusion oder einen Prolaps oder um eine funktionelle Problematik handeln. Hier spielen vor allem Blockierungen im Bereich der unteren LWS und der Iliosakralgelenke eine Rolle. Wichtig ist bei der Behandlung solcher Veränderungen somit nicht ausschließlich die Behandlung des betroffenen Muskels (meist Hamstrings) sondern auch des Rückens (Deblockierungen etc.). Der Muskel tastet sich auf nahezu der gesamten Länge verhärtet und druckempfindlich, klare Befunde in der Bildgebung fehlen zumeist. Gelegentlich kann sich im MRT ein flaues Muskelödem finden.
Die Existenz dieser Art der Muskelverletzung/-läsion wird noch immer diskutiert, da die Ursache dieser Störung nicht immer nachweisbar ist. Die Besserung der Beschwerden im Rahmen einer segmentalen Infiltrationstherapie kann ein Hinweis auf das Vorliegen einer solchen Läsion sein. Möglich ist aber auch, dass durch die temporäre Blockade des Nervs durch Lokalanästhetikum der Tonus des Muskels herunterreguliert wird.
Die Ausfallzeit kann vom Muskeltonus abhängig gemacht werden und sollte normalerweise nur wenige Tage dauern.
Typ 2B Muskulär bedingte
neuromuskuläre Muskelläsion,
sog. Muskelzerrung
Aufgrund einer Störung der neuro-muskulären Einheit an der motorischen Endplatte kommt es zu einer Tonuserhöhung der Muskulatur. Die verringerte Elastizität führt bei entsprechender Belastung zu einer Überdehnung des Muskels. Der Sportler verspürt einen krampfartigen Schmerz, der auch durch Dehnen nicht veränderbar ist. Es tastet sich ein spindelförmig verdickter druckdolenter Muskel ohne Muskellücke, da kein Strukturschaden vorliegt. Wie auch bei der Typ-1A-Verletzung ist ein gezerrter Muskel deutlich gefährdet, bei weiterer Belastung einen Strukturschaden zu erleiden. Eine Sportpause ist daher erforderlich, meist ist ein zeitnaher Belastungsaufbau aber wieder möglich.
Typ 3A Muskelfaserriss
(intrafaszikulärer Riss)
Der Muskelfaserriss ist die häufigste muskuläre Strukturverletzung im Fußballsport und betrifft dabei meist das Caput longum des M. biceps femoris distal [9]. In der hier beschriebenen Klassifikation nach Müller-Wohlfahrt handelt es sich dabei um eine Verletzung mehrerer Primär- oder eines Sekundärbündels ohne Verletzung des Perimysium externun [3]. Die maximale Größe dieser Verletzung beträgt 5 mm im Querschnitt, wobei der Übergang zum Muskelbündelriss mitunter fließend ist und gerade im Rahmen der Akutdiagnostik nicht immer sicher definiert werden kann. Insbesondere bei einer stärkeren Einblutung oder Ödembildung wird die Größe der Verletzung eher überschätzt.
Mitunter ist es sogar erst die Länge der Ausfallzeit, welche die Verletzung erst retrospektiv sicher klassifizierbar macht. Je nach Muskelgruppe und in Abhängigkeit von der Erstbehandlung und der folgenden Rehabilitation liegt die zu erwartende Ausfallzeit im Profibereich bei 2–3 Wochen.
Der Sportler verspürt im Rahmen des Verletzungsereignisses einen scharfen stechenden Schmerz und muss die Belastung abbrechen. Der Versuch zu dehnen wird eher unterlassen, da dieser zu einer Schmerzzunahme führt. Es findet sich bei der klinischen Untersuchung ein schmerzhafter verhärteter Muskel mit einem punctum maximum des Schmerzes im Verletzungsbereich. Bei größeren, eher oberflächennahen Faserrissen kann mitunter eine kleine Muskellücke getastet werden.
Typ 3B Muskelbündelriss
(interfaszikulärer Riss)
Der Muskelbündelriss betrifft anatomisch gesehen mindestens 2 Sekundärbündel und weist in der bildgebenden Diagnostik einen Durchmesser von mehr als 5 mm auf.
Klinisch zeigen sich ein druckschmerzhafter Muskel und eine zumeist tastbare Lücke im Verletzungsbereich. Häufig findet sich zudem eine Schwellung und eine Hämatomverfärbung, die mitunter erst Tage nach dem Ereignis zutage tritt.
Der Sportler verspürt einen starken reißenden Schmerz und geht meist spontan zu Boden. Wie oben bereits erwähnt, lässt sich aus eigener Erfahrung sagen, dass solche Verletzungen aber auch weniger symptomatisch verlaufen können, wenn der Muskel z.B. im Rahmen eines Kontusionstraumas mit Einblutung vorgeschädigt war („acute-on-chronic“).
Die Ausfallzeit beträgt meist 6–8 Wochen in Abhängigkeit von Lokalisation und Größe. Gerade bei diesen Verletzungen kann es zu einer deutlichen Einblutung in den Muskel kommen. Dies muss im Rahmen der Bildgebung rechtzeitig erkannt und je nach Ausmaß entsprechend therapiert werden, um Komplikationen wie eine Myositis ossificans zu vermeiden.
Typ 4 (Sub-)totaler Muskelriss,
sehniger Ausriss/Avulsion
Diese Gruppe umfasst die schwersten Muskelverletzungen. Es kommt zu einem (partiellen) Funktionsverlust des Muskels, häufig einhergehend mit einem Spannungsverlust. Klinisch tastet sich eine große Lücke oder es kommt zur Ausbildung eines atypischen Muskelbauchs bei der Kontraktion. Je nach Ausmaß und Lokalisation der Verletzung sowie der Retraktion muss eine mögliche OP-Indikation überprüft werden. Komplette Abrisse und sehnige Ausrisse bedürfen meist der chirurgischen Versorgung, um eine Ausheilung ohne Spannungs- und somit auch Kraftverlust zu gewährleisten. Die Ausfallzeit dieser Verletzung ist aufgrund der unterschiedlichen Verletzung sehr heterogen, beträgt aber zumeist mehrere Monate. So handelt es sich bei den intramuskulären Sehnenrissen (meist M. rectus femoris) und den sehnigen Ausrissen (meist Hamstring und Adduktoren) strenggenommen auch um Sehnen- und nur sekundär um Muskelverletzungen. Diese Verletzungen gehen meist mit Prodromi einher. Nicht selten bestehen bereits seit längerer Zeit Beschwerden im Bereich der späteren Verletzung.
Um den verschiedenen Entitäten von Muskelverletzungen gerecht zu werden, bedarf es einer differenzierten Diagnostik und Therapie, um den Sportler möglichst rasch, aber vor allem mit einer guten Funktion wieder zurück in den Sport zu bringen. Die Rezidiv-Verletzung gilt es zu vermeiden.
Interessenkonflikt: Keine angegeben
Korrespondenzadresse
Dr. med. Henning Ott
Altius Swiss Sportmed Center
Habich-Dietschy-Str. 5a
CH-4310 Rheinfelden
Schweiz
henning.ott@altius.ag
Literatur
1. Ekstrand J, Hägglund M, Waldén M: Injury incidence and injury patterns in professional football: the UEFA injury study. Br J Sports Med. 2011; 45: 553–8
2. Ekstrand J, Healy J, Waldén M, Lee JC, English B, Hägglund M: Hamstring muscle injuries in professional football: the correlation of MRI findings with return to play. Br J Sports Med 2012; 46: 112–117
3. Müller-Wohlfahrt HW, Ueblacker P, Hänsel L: Muskelverletzungen im Sport. Stuttgart, New York: Thieme, 2. Auflage, 2013
4. Petersen J, Thorborg K, Nielsen MB, Budtz-Jørgensen E, Hölmich P: Preventive effect of eccentric training on acute hamstring injuries in men‘s soccer: a cluster-randomized controlled trial. Am J Sports Med. 2011; 39: 2296–303
5. Mills M, FrankB, Goto S et. Al.: Effect of restricted hip flexor muscle length on hip extensor muscle activity and lower extremity biomechanics in college-aged female soccer players. Int J Sports Phys Ther. 2015; 10: 946–54
6. Opar DA, Williams MD, Shield AJ: Hamstring strain injuries: factors that lead to injury and re-injury. Sports Med. 2012; 42: 209–26
7. Higashihara A, Nagano Y, Takahashi K, Fukubayashi T: Effects of forward trunk lean on hamstring muscle kinematics during sprinting. J Sports Sci 2015; 33: 1366–75
8. Weber MA, Rehnitz C, Ott H, Streich N: Groin pain in athletes. RoFo 2013; 185: 1139–48
9. Ekstrand J, Askling C, Magnusson H, Mithoefer K: Return to play after thigh muscle injury in elite football players: implementation and validation of the Munich muscle injury classification. Br J Sports Med. 2013; 47: 769–74
Fussnoten
1 Altius Swiss Sportmed Center Rheinfelden, Schweiz
2 Universitätsklinikum Freiburg, Department Chirurgie, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Freiburg