Übersichtsarbeiten - OUP 02/2017
Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen
Die Verletzung der ischiocruralen Muskulatur ist in den Sportarten mit Explosivkraft die führende Muskelverletzung, wobei mit 84 % der M. biceps femoris mit Abstand am häufigsten betroffen ist. Für die Hamstring-Verletzungen besteht im Spiel sogar ein 11-mal höheres Risiko als im Training, wobei ein Zusammenhang zur Dauer der Belastung nicht gefunden werden kann [2].
All dies hat in den letzten Jahren zu einem Umdenken in Richtung verstärkter Prävention geführt. So konnte anhand einer Untersuchung an dänischen Profi- und Amateur-Fußballspielern gezeigt werden, dass bereits ein 10-wöchiges exzentrisches Training zu einer signifikanten Reduktion an Hamstring-Verletzungen führt [4]. Die Verletzungsrate über den weiteren Saisonverlauf in der exzentrischen Trainingsgruppe lag bei 3,8/100 Spieler in der Kontrollgruppe bei 13,1. Noch deutlicher waren die Unterschiede bei den Rezidiv-Verletzungen mit 7,1 vs. 45,8/100 Spieler. Ausführlicher wird die Prävention von Muskelverletzungen in einem eigenen Artikel behandelt (Seite 87).
Ursachen von
Muskelverletzungen
Übersteigt die einwirkende Kraft die Elastizitätsgrenze des Muskels, kommt es zum Strukturschaden. Diese finden sich entweder im Rahmen von Sportarten, bei denen die Maximalkraft im Vordergrund steht (z.B. Gewichtheben) oder vornehmlich bei hoher Explosivkraft (Sprinter, Ballsportarten). Unterschieden werden kann weiter zwischen Muskelverletzungen verursacht durch eine hohe exzentrische oder konzentrische Belastung, wobei sich dabei die Verletzungen hinsichtlich ihrer Anatomie/Physiologie nicht unterscheiden.
Meist finden die Verletzungen am muskulotendinösen Übergang statt, da hier 2 Gewebe unterschiedlicher Steifigkeit und Elastizität aufeinandertreffen. Abzugrenzen von den genannten Mechanismen sind die direkten Verletzungen infolge einer direkt einwirkenden Kraft.
Die eigentlichen Ursachen von Muskelverletzungen sind vielfältig und nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, da die Verletzung selbst meist nur am Ende einer Störung in der funktionellen Kette steht. Daher ist die Untersuchung proximal und distal der Verletzung für die weitere Therapie unerlässlich. Am häufigsten finden sich Verkippungen des Beckens, muskuläre Dysbalancen oder vorbestehende Muskelverhärtungen. Letztere können durch eine Reizung der spinalen Nervenwurzeln verursacht werden (siehe Abschnitt Klassifikationen), sodass dieser Bereich nicht außer Acht gelassen werden darf.
Der sportartspezifische Trainingszustand vieler Sportler führt häufig zu einer Dysbalance zwischen Agonisten und Antagonisten der verschiedenen Muskelgruppen. Beim Fußballspieler kippt das Becken häufig nach ventral, sodass es zur Hyperlordose der LWS und durch Dorsalverlagerung des Tuber ischiadicums zur Erhöhung der Spannung auf die Hamstrings kommt. Bestehende Muskelverhärtungen vor der Belastung und solche, die während der Belastung entstehen, sind ein Hochrisikofaktor für eine strukturelle Muskelverletzung.
Eine Untersuchung an Fußballspielerinnen konnte zeigen, dass diejenigen, die eine erhöhte Spannung im Bereich der Hüftflexoren hatten, eine bis zu 60 % niedrige Aktivität des Gluteus maximus im Double Leg Squat (DLS) hatten (p 0,005) [5]. Zudem zeigte sich eine bis zu 2,6-fach höhere Aktivität des Bizeps femoris. Hinsichtlich der Maximalkraftwerte während des DLS fanden sich keine Differenzen.
Dies deckt sich mit eigenen Untersuchungen an Profifußballspielern, die eine unzureichende bzw. zu späte Aktivierung der Glutealmuskulatur bei der Hüftstreckung zeigten. Diese Veränderungen können zu einer Überlastung der Hamstrings führen und erhöhen somit die Verletzungswahrscheinlichkeit [6].
Die Oberkörperposition beim Sprinten hat ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf die Spannung des langen Kopfs des Biceps femoris und des M. semimembranosus. Insbesondere die exzentrische Belastung auf diese Muskeln bei nach vorne gebeugtem Oberkörper ist in der späten Standphase deutlich erhöht, was potenziell eine höhere Verletzungsgefahr mit sich bringt [7].
Ähnliches gilt für die Überlastungsschäden der Muskulatur. Die Fehlbelastung über längere Zeit führt insbesondere am muskulo-tendinösen Übergang oder an der Sehne selbst zu strukturellen Veränderungen. Dabei kann es sowohl zur Überlastung des angrenzenden Knochens (z.B. Osteitis pubis) oder zur (Insertions-)Tendinose kommen. Diese Veränderungen erhöhen die Vulnerabilität im betroffenen Gebiet und haben nicht selten eine Strukturverletzung des Muskels selbst zur Folge. Im Bereich der Adduktoren kann es zur Abhebung der gemeinsamen Faszie des M. rectus abdominis und der Adduktoren kommen, was im MRT dann als „secondary cleft sign“ imponiert [8]. Gerade in diesem Bereich sind die Diagnostik und Therapie besonders komplex, da Pathologien wie das femoro-azetabuläre Impingement (FAI) oder des Leistenkanals selbst (meist zusammenfassend bezeichnet als Sportlerleiste/weiche Leiste) einen wesentlichen Einfluss haben können.
Diagnostik
Eine eingehende Diagnostik ist für die Einleitung der richtigen Behandlung einer Muskelverletzung und die häufig durch Sportler und Vereine geforderte Prognose der Ausfallzeit wichtig. Dabei spielen Anamnese, Inspektion und klinische Untersuchung neben der Bildgebung eine tragende Rolle.
Bereits aus der Anamnese lassen sich direkte (Kontusionen etc.) und indirekte Muskelverletzungen voneinander unterscheiden. So berichtet der Sportler bei einer Muskelverhärtung über ein zunehmendes Spannungsgefühl in der Muskulatur, während es sich bei den Zerrungen, Muskelfaser- und -bündelrissen sowie Partial- und Komplettrupturen um Akutereignisse handelt. Bei einem „Acute-on-chronic-Ereignis“ kann eine Akutsymptomatik aber mitunter auch fehlen oder zumindest deutlich abgeschwächt sein (z.B. Muskelbündelriss nach Kontusion mit Einblutung). Da gerade die Muskelverhärtung ein Risikofaktor für eine Strukturverletzung darstellt, muss auch in der Anamnese nach möglichen Beschwerden (Muskel, Rücken) vor dem Ereignis und in der Vergangenheit gefragt werden. Während der Belastung selbst fallen die Sportler durch wiederholtes Dehnen und Vermeiden hochintensiver Belastungen auf [8].
Die sofortige Beendigung der Belastung deutet meist auf einen strukturellen Schaden der Muskulatur hin. Kommt es dabei noch zu einem Sturzereignis (meist schmerzbedingt oder reflektorischer Spannungsverlust der Muskulatur) ist eher von einer größeren Schädigung auszugehen.