Übersichtsarbeiten - OUP 02/2017

Epidemiologie, Diagnostik und Klassifikation von Muskelverletzungen

Ferner sind im Rahmen der Anamnese Vorverletzungen, vorausgegangene Behandlungen und Trainingsintensitäten sowie der Zeitpunkt des Ereignisses im Verhältnis zur Belastungsaufnahme (Beginn, Mitte, Ende) festzuhalten. Die Beschaffenheit des Untergrunds, das Schuhwerk/Schuhwechsel und Ernährungsgewohnheiten können weitere Hinweise liefern.

Die Inspektion der Muskulatur kann Schwellungszustände, Hämatombildungen oder gar Veränderungen des Muskelreliefs bei Muskelretraktionen zeigen. Dem schließt sich die Funktionsprüfung des Muskels selbst und der angrenzenden Gelenke an.

Die Palpation stellt für den geübten Untersucher sicher die wichtigste Diagnostik im Rahmen der klinischen Untersuchung dar. Es bedarf aber viel Übung und Erfahrung, um auch kleinere Muskelverletzungen sicher zu tasten. Das Einprägen des Ausgangsbefunds ist für die Beurteilung des Muskels im weiteren Verlauf der Therapie und Rehabilitation essenziell.

Der betroffene Muskel sollte auf seiner gesamten Länge in entspanntem Zustand sowie im Seitenvergleich untersucht werden. Abhängig vom ausgeübten Druck auf die Muskulatur können die oberflächlichen Muskelschichten getrennt von den tiefer gelegenen Muskelschichten untersucht werden. Beurteilt wird die Schmerzlokalisation (muskulo-tendinöser Übergang, Muskelbauch, Sehnenansatz) und -ausdehnung (punktuell vs. entlang des Muskels). Bei größeren Verletzungen lässt sich z.T. eine Muskellücke tasten, wobei die Lokalisation der Verletzung (oberflächlich vs. tief) und die Schwellung im Verletzungsbereich großen Einfluss haben. Zu berücksichtigen ist auch der unterschiedliche Spannungszustand der Muskulatur in Abhängigkeit von der vorausgegangenen Belastung und dem Sportler selbst. Die interindividuelle Varianz ist hier hoch, sodass es gerade im Rahmen einer Mannschaftsbetreuung wichtig ist, diese Unterschiede beim gesunden Athleten zu kennen, um eine Änderungen im Rahmen der Verletzung besser interpretieren zu können.

Die Bildgebung stellt einen wichtigen, ergänzenden Baustein in der Diagnostik von Muskelverletzungen dar, wobei auf diese in einem eigenständigen Kapitel später gesondert eingegangen wird (Seite 75).

Klassifikation

Auch eine Klassifikation kann die Einzelverletzung nicht immer genau abbilden und die Zuordnung zu einer Gruppe ist nicht immer ganz klar, zumal die Übergänge zwischen den Schweregraden mitunter fließend sind. Auch wenn die Biologie der Heilung einer Muskelverletzung in den betroffenen Muskel die Gleiche ist, variieren die Ausfallzeiten zwischen den einzelnen Muskelgruppen mitunter deutlich, was vornehmlich mit der sportartspezifischen Belastung zusammenhängt. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, müsste daher die Klassifikation für die einzelnen Muskelgruppen und Sportarten angepasst werden, was aber in der täglichen Praxis nicht praktikabel wäre.

Für die klinische Therapie von Muskelverletzungen hat sich in den vergangenen Jahren die Klassifikation nach Müller-Wohlfahrt et al. (2010) /Münchener Klassifikation durchgesetzt, die im Jahre 2013 nochmals angepasst wurde [3].

Hierzu abgegrenzt werden muss die Klassifikation für die Beurteilung des MRT/US einer Muskelverletzung. Hier findet meist die Klassifikation nach Peetrons 2002 und Rybak 2003 Anwendung. Vergleichend sind diese in Tabelle 1 dargestellt.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Einteilungen ist das Fehlen der „Muskelzerrung“ in der radiologischen Graduierung. So werden in radiologischen Befunden Verletzungen mit Nachweis eines Muskelödems bei Fehlen eines Strukturschadens zumeist als Grad 1 angegeben, was allerdings in der Praxis dem Muskelfaserriss entsprechen würde. Zum anderen unterscheiden sich die Definitionen von „Muskelfaser-„ und „Muskelbündelriss“. Müller-Wohlfahrt et al. ziehen die Grenze bei 5 mm Durchmesser, da dies die maximale Größe eines Sekundärbündels (Faszikel, Fleischfaser) umgeben vom Perimysium externum sei und eine funktionelle Einheit bilde. Die radiologische Einteilung richtet sich nach dem prozentualen Anteil der Verletzung, gemessen an Gesamtquerschnitt des Muskels selbst.

Generell unterscheidet die Einteilung der Muskelverletzungen nach Müller-Wohlfahrt direkte und indirekte Muskelverletzungen. Eine Übersicht über die Einteilung gibt Abbildung 1.

Typ 1A Ermüdungsbedingte,

schmerzhafte
Muskelverhärtung

Bei dieser Läsion handelt sich um eine rein funktionelle Problematik. Muskelermüdung ist ein prädisponierender Faktor für eine Muskelverletzung [6], sodass auch diese leichte Form der Läsion ernst genommen werden muss. Die Spannung des Muskels erhöht sich. Der Muskel wird dadurch rigider, was vom Sportler als Verhärtung bemerkt wird und sich in der klinischen Untersuchung auch als solche darstellt. Es besteht eine Druckempfindlichkeit über eine längere Strecke ohne echten punktuellen Maximalschmerz. Durch Dehnen versucht der Sportler, die Spannung zu reduzieren und vermeidet Belastungsspitzen. Die Ausfallzeit beträgt lediglich einen bis wenige Tage.

Typ 1B „Muskelkater“, DOMS

Der Muskelkater/DOMS (Delayed-Onset Muscle Soreness) betrifft meist den Untrainierten bzw. tritt mehrere Stunden nach ungewohnt hohen Belastungen auf. Während früher das Laktat verantwortlich für diese selbstlimitierende folgenlos ausheilende Läsion gemacht wurde, konnten mehrere Arbeitsgruppen zeigen, dass es sich scheinbar um Sarkomer-Einrisse einzelner Muskelfibrillen vor allem im Bereich der Z-Scheiben handelt [3]. Diskutiert werden auch inflammatorische Prozesse, die verstärkt nach höherer Belastung ablaufen.

Auch hier ist der Muskel druckempfindlich, eine echte strangartige Verhärtung fehlt aber. Eine Trainingspause ist meist nicht erforderlich, ggf. muss nur die Trainingsintensität angepasst werden.

Typ 2A Rückenbedingte neuro-

muskuläre Muskelläsion

Ursache dieser Muskelläsion ist eine Regulationsstörung des Muskeltonus auf spinaler Ebene. Dabei kann es sich um strukturelle Störungen wie z.B. der Bandscheibenprotrusion oder einen Prolaps oder um eine funktionelle Problematik handeln. Hier spielen vor allem Blockierungen im Bereich der unteren LWS und der Iliosakralgelenke eine Rolle. Wichtig ist bei der Behandlung solcher Veränderungen somit nicht ausschließlich die Behandlung des betroffenen Muskels (meist Hamstrings) sondern auch des Rückens (Deblockierungen etc.). Der Muskel tastet sich auf nahezu der gesamten Länge verhärtet und druckempfindlich, klare Befunde in der Bildgebung fehlen zumeist. Gelegentlich kann sich im MRT ein flaues Muskelödem finden.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5