Übersichtsarbeiten - OUP 04/2022

Ergebnisse der Fasciotomie bei Patienten mit einem funktionellen Kompartment-Syndrom der Tibialis-anterior-Loge

Die klinische Untersuchung zeigte bei den meisten Patienten eine Muskelverhärtung unterschiedlichen Ausmaßes sowie einen Dehnungsschmerz. Klinisch relevante Faszienlücken fanden sich nur bei 8 Patienten. Eine Kompression des N.peronaeus superficialis muss beim Vorliegen von Faszienlücken immer bedacht werden (Abb. 3). Echte motorische oder sensible Ausfälle fanden sich in unserem Untersuchungsgut nicht.

Zur Diagnosesicherung wurden bei allen Patienten Röntgennativ-Aufnahmen, Szintigraphien sowie Kernspintomographien nach Belastung und mit Kontrastmittel durchgeführt. Weiterhin wurde bei allen der venöse Gefäßstatus abgeklärt. Bei 5 Patienten wurde eine funktionelle MR-Angiographie zum Ausschluss eines poplitealen Gefäßentrapments durchgeführt. Erst nach Ausschluss anderer Ursachen (Tab. 1) wurde zur weiteren Abklärung die invasive Kompartmentdruckmesseung durchgeführt.

Hierzu wurde das Stryker Kompartment-Druck-Messsystem verwendet (Abb. 4). Die Druckmesssonde des Kompartmentmesssystems wurde dazu ohne oder nach vorheriger Lokalanästhesie (Bupivacain 1,5 ml) auf halber Höhe zwischen Kniegelenkspalt und Malleolus lateralis in das Tibialis-anterior Kompartment plaziert. Dabei wurde die Nadel zunächst in einem Winkel von etwa 40° in die Haut eingestochen und nach Durchstoßen der Fascia cruris in einem Winkel von ca. 20° kranialwärts in den Muskel vorgeschoben. Bei korrekter Lage der Sondenspitze kommt es sowohl bei digitalem externen Druck auf das Kompartment als auch bei aktiver Muskelkontraktion des Probanden zur reversiblen Druckerhöhung.

Die Belastung zum Nachweis oder Ausschluss eines Kompartment-Syndroms gestaltete sich wie folgt:

Druckaufnehmer intrakompartmental

Vorbelastungsmessung im Liegen und Stehen mit Druckmessung

Ausübung der Belastung, welche die Symptomatik hervorruft

Aufzeichnung des Druckabfalls

Ein positives Testergebnis wurde abgenommen bei:

typischer klinischer Symptomatik

normalem Druck im Stand

Mitteldruck > 40 mmHg unter Belastung

verlangsamtem Druckabfall

Technik der Fasziotomie

Es wurden im Untersuchungszeitraum 2 verschiedene OP-Techniken verwendet; zum einen die Standardtechnik und zum anderen die minimal invasive Technik. Bei der Standardtechnik erfolgte die Fasziotomie der Tibialis-anterior-Loge über 2 etwa 3–5 cm lange Hautschnitte, jeweils im oberen und unteren Drittel des anterolateralen Unterschenkels (Abb. 5). Anschließend wird das Subkutangewebe von der Faszie teilweise mit langen Tupfer, teilweise digital gelöst (Abb. 6).

Die Fasziotomie selber erfolgt mit einer langen chirurgischen Schere (Abb. 7). Die Haut wird anschließend verschlossen und elastisch gewickelt. Auf das Einlegen einer Redondrainage wird verzichtet.

Bei der minimal invasiven Technik erfolgen jeweils nur etwa 1 cm lange kurze Hautinzisionen. Die Fasziotomie wird dann mit einem langen chirurgischen Fasziotom durchgeführt (Abb. 8). Der Hautverschluss erfolgt dann lediglich mit 1–2 Hautnähten.

Die Nachbehandlung erfolgt mit sofortiger Mobilisation und Krankengymnastik zur Mobilisation des Knie- und Sprunggelenkes. Unterarmgehstützen werden nur für den Komfort für 2–3 Tage verordnet. Die Patienten erhalten bis zur Wundheilung einen stützenden Verband. Ab der 3. Woche erfolgen leichte Laufübungen und ab der 6.Woche eine zunehmende Vollbelastung.

Ergebnisse

Mit der konventionellen Fasziotomie behandelten wir 23 Patienten. Das durchschnittliche Alter dieser Gruppe betrug 24,5 Jahre (18–32 Jahre). Es handelte sich um 15 Männer und 8 Frauen. Die Operationsdauer betrug 9–21 Minuten. An Komplikationen fanden sich zweimal ein Hämatom, welches sich ohne operative Therapie resorbierte, und viermal postoperative Schmerzen über den 6. Tag hinaus. Alle Patienten konnten leichten Sport nach 3 Wochen wieder aufnehmen. 19 dieser 23 Patienten waren zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung (MW: 11,4 Jahre nach dem Eingriff) mit dem Ergebnis sehr zufrieden.

Die minimal invasive Gruppe hatte eine kürzere Nachuntersuchungszeit von 6,8 Jahre. In dieser Gruppe befanden sich 66 Patienten. Hiervon waren 40 männlich und 26 weiblich. Die OP-Dauer betrug 6–14 Minuten. An Komplikationen fanden sich 4 Hämatome (einmal bei einem beidseits operierten Patienten), welche sich ohne weitere Interventionen resorbierten. In 5 Fällen Schmerzen über den 6.Tag hinaus und einmal Übelkeit, welche wir auf die postoperative Einnahme von NSAID zurückführten. Auch die Patienten in dieser Gruppe konnten alle leichten Sport wieder nach 3 Wochen aufnehmen. Zum Zeitpunkt der Nachtuntersuchung waren 60 der 66 Patienten in dieser Gruppe sehr zufrieden und zeigten keine Symptome mehr.

Diskussion

Mit zunehmendem Freizeitangebot häufen sich akute Sportverletzungen und chronische Sportschäden. Ein nach wie vor in der Literatur wenig beachtetes Krankheitsbild ist das funktionelle Kompartment-Syndrom. Nach Styf zeigte sich bei 26 von 89 Patienten mit unklaren Unterschenkelbeschwerden ein funktionelles Kompartment-Syndrom [30]. Nach Puranen et al. macht es ca. 60 % der unklaren Unterschenkelbeschwerden bei Sportlern aus [26]. Die bisherigen Veröffentlichungen über dieses Krankheitsbild bestehen größtenteils in ausgiebigen Kasuistiken mit entsprechenden operativen Therapieempfehlungen [11, 18].

Viele Autoren verwenden zur Dokumentation des intrakompartmentalen Druckes statische Druckwerte (Ruhedruck, Druckabfall nach Belastung) oder quasi dynamische Verfahren zur Simulation der Muskelaktivität (isometrische Kontraktionen, isotonische Kontraktionen im Liegen). Eine ganz realistische Einschätzung des dynamischen intrakompartmentalen Druckverhaltens erlaubt jedoch nur eine Ganganalyse.

Nach unseren Untersuchungen zeigt die quantitative Analyse des intrakompartmentalen Druckes beim normalen Laufen und Gehen ohne Vorgabe keine signifikanten Unterschiede. Tendenziell liegt der Druck beim Laufen jedoch leicht höher. Deutliche Unterschiede stellten sich jedoch bei der quantitativen Analyse der unterschiedlichen Laufstile heraus. Hierbei zeigte sich, dass der Fersenlauf zu einem signifikant höheren Kompartmentdruck führt als der Ballenlauf und der Lauf ohne Vorgabe des Laufstils [14–18]. Im Weiteren bestätigte sich auch die klinische Erfahrung, dass das funktionelle Kompartment-Syndrom vorzugsweise bei Wettkampfgehern oder Militärmärschen auftritt [1, 9, 10]. Wir konnten zeigen, dass die Belastung durch forciertes Gehen zu einem deutlichen Druckanstieg in der Tibialis-anterior-Loge führt. Es zeigte sich eine hoch signifikante lineare Abhängigkeit zwischen Gehgeschwindigkeit und Druck. Der Druckanstieg war so stark, dass bei maximaler Gehgeschwindigkeit sogar ansonsten asymptomatische Probanden Missempfindungen im Bereich des ventralen Unterschenkels angaben. Beim Übergang vom forcierten Gehen zum Laufen kam es in allen Fällen zu einem deutlichen Druckabfall. Subjektiv gaben alle Probanden das Laufen als relativ angenehm im Vergleich zum forcierten Gehen an [18].

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