Übersichtsarbeiten - OUP 04/2022

Ergebnisse der Fasciotomie bei Patienten mit einem funktionellen Kompartment-Syndrom der Tibialis-anterior-Loge

Wie erklären sich nun diese deutlichen Druckunterschiede bei unterschiedlichen Gang- und Laufcharakteristika? Um diese Phänomene zu verstehen, sind qualitative Bewegungsstudien zur Analyse des intrakompartmentalen Druckes während des Gangzyklus notwendig. Hierzu gibt es nur wenige Ansätze in der Literatur. Für eine adäquate Auswertung der aufgezeichneten Druckkurven im Sinne einer Ganganalyse erweist sich die Trägheit eines Messsystems als bedeutsam. So hat z.B. Baumann [3] mit einem relativ trägen System (18 Hz) eine Ganganalyse durchgeführt. Er gibt das Druckmaximum während der Schwungphase und dem frühen Bodenkontakt an. Puranen [26] berichtet über Ergebnisse mit einem Wick-Katheter und Druckwandler sowie Mehrkanalschreiber bei geringer zeitlicher Auflösung (1 cm = 12 sec). Er gibt relativ geringe Druckamplituden (< 10 mmHg) an. Eine Ganganalyse wurde hierbei nicht durchgeführt. Bei höherer zeitlicher Auflösung und höherer Abtastfrequenz zeigten unsere Resultate charakteristische Druckverlaufskurven. Im Gegensatz zu Baumann fanden wir in der terminalen Schwungphase das Druckminimum. Mit dem Aufsetzen des Fußes beim Gehen und der aktiven Stabilisierung im oberen Sprunggelenk (Belastungsantwort = LR) findet sich ein erstes Druckmaximum (A1). Beim Abstoßen über die Fußspitze (Vorschwung) und Extension des oberen Sprunggelenkes kommt es zu einem zweiten Druckanstieg (A2). Wie EMG-Untersuchungen zeigen, kommt es beim initialen Fersenkontakt und in der Phase der Belastungsantwort zur Kontraktion des M.tibialis anterior. Hierbei handelt es sich um eine exzentrische Kontraktion, da sich der Muskel gegen die Bewegungsrichtung des sich plantarwärts bewegenden Fußes kontrahieren muss. Hierdurch wird die Bewegungsenergie des Fußes aufgefangen und das obere Sprunggelenk für die darauf folgende Standphase stabilisiert. Die Langzeitwirkungen dieser exzentrischen Belastung mit repetitiven Überdehnungen der anterioren Kapsel des OSG zeigen sich eindrucksvoll in Form der anterioren Tibia- und Talusosteophyten, welche als Traktionsosteophyten aufzufassen sind. EMG-Untersuchungen zeigen, dass sich der M.tibialis anterior während der zweiten Druckerhöhung nach dem Kurvenplateau beim Großzehenabstoß mit Extension des oberen Sprunggelenkes nicht kontrahiert. Dieser Druckanstieg kann also nicht die Folge von aktiver Muskelarbeit sein. Unseres Erachtens ist eine mögliche Erklärung für die Druckerhöhung bei der Dorsalextension des OSG in der knöchernen Anatomie des Sprunggelenkes selbst. Die Trochlea tali ist dorsal 5 mm schmaler als ventral. Manche Autoren geben sogar eine 25 %ige Verbreiterung des Talus ventral im Vergleich zur dorsal an. Dies führt zu einem Auseinanderweichen der Malleolengabel bei Dorsalflexion und somit zu einem Anspannen der Membrana interossea. Gleichzeitig bewegt sich die Fibula nach proximal, woraus eine Anspannung der oberflächlichen Muskelfaszie resultiert. Durch diesen Effekt wird die ohnehin schon unnachgiebige osteofibröse Begrenzung der Tibialis-anterior-Loge noch weiter angespannt und verliert so weiterhin an Compliance.

Zu höheren Druckanstiegen als beim Gehen kommt es beim Laufen. Während beim Gehen der zweite Druckanstieg (A2) noch höher ist als der erste (A1), dreht sich das Verhältnis bei Laufen um. Dieser höhere intrakompartmentale Druckansteig (A1) während des initialen Fersenkontaktes (IC) und der Belastungsantwort (LR) beim Laufen erklärt sich durch die höhere exzentrische Belastung des M.tibialis anterior beim Abbremsen und Stabilisieren des Fußes [17].

Harrison et al. zeigten, dass innerhalb der ersten Zehntelsekunde des Gangzyklus das Drehmoment (Nm) im Bereich des Sprunggelenkes den maximalen Wert erreicht und der Absolutwert, deutlich höher als beim Hüftgelenk, ähnlich hohe Werte wie am Kniegelenk erreicht.

Analysen der unterschiedlichen Laufstile (normal Laufen, Fersenläufer, Ballenläufer) ergab einen deutlich höheren intrakompartmentalen Druck beim Fersenlauf [17, 18]. Dieser ist durch die erhöhte Tibialis-anterior Aktivität zu erklären. Die Ursache für diese erhöhte Aktivität ist in dem verlängerten Hebelarm beim Fersenlauf zu sehen. Cavanagh (Cavanagh 1987) zeigte, dass mit zunehmender Entfernung vom Aufsetzpunkt der Sohle die Auftreffgeschwindigkeit des Vorfußes deutlich zunimmt. Weiterhin ist die Auftreffgeschwindigkeit vom Aufsatzwinkel abhängig. Mit zunehmender Länge des Hebelarmes und mit zunehmendem Aufsatzwinkel steigt die Auftreffgeschwindigkeit um mehr als 100 % (Cavanagh 1987).

Klinische Relevanz

Eine wichtige Differentialdiagnose des Unterschenkelschmerzes des Sportlers ist das funktionelle Kompartment-Syndrom. Für die Diagnose beweisend ist die intrakompartmentale Druckmessung. Die Faziotomie in konventioneller oder minimal invasiver Technik hat bei richtiger Diagnose eine hohe Erfolgsaussicht.

Interessenkonflikte:

keine angegeben

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf: www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg Jerosch

Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin

Johanna Etienne Krankenhaus

Am Hasenberg 46

41462 Neuss

j.jerosch@ak-neuss.de

SEITE: 1 | 2 | 3