Übersichtsarbeiten - OUP 09/2012

Gibt es eine akzeptierte untere Altersgrenze für die Implantation
einer inversen Schulterendoprothese? Ein systematischer Review
Is there an accepted minimum patient age to implant a reverse shoulder prosthesis? A systemati

M. von Knoch1, W. Schultz2

Zusammenfassung

Traditionell wird empfohlen, dass inverse Schulter-
endoprothesen nur bei Patienten mit einem Alter von mehr als 70 Jahren und bei nicht körperlich schwerer Belastung der Schulter implantiert werden. In der vorliegenden Studie wurde anhand eines systematischen Reviews untersucht,
inwieweit das häufig empfohlene Mindestalter für die Implantation einer inversen Schulterendoprothese in der Literatur tatsächlich Bestand hat. In allen 19 zur detallierten Auswertung herangezogenen Fachartikeln wurden einzelne
Patienten mit einem Alter unter 70 Jahren mit einer inversen Schulterendoprothese versorgt. Der Mittelwert des mittleren Alters der Patienten aller Arbeiten betrug 71,3 Jahre. Der Mittelwert des Mindestalters der Patienten aller Arbeiten lag bei 48,9 Jahren. In keiner Arbeit wurde das Alter der Patienten in Relation zum Ergebnis oder zum Auftreten von Komplikationen gesetzt, um nachzuweisen, dass eine untere
Altersgrenze nicht sinnvoll ist. Somit ließ sich eine Diskrepanz zwischen der häufigen Empfehlungen zur Altersgrenze von 70 Jahren und der tatsächlichen Praxis feststellen.

Wenn bei Patienten unter 70 Jahren eine inverse Schulter-
endoprothese implantiert wird, sollte die inkomplette Datenlage bei der Indikationsstellung und der Aufklärung offen
berücksichtigt und mit dem Patienten diskutiert werden. Ob ein jüngeres Patientenalter einen Risikofaktor für eine Lockerung oder eine anderweitiges Versagen einer inversen
Schulterendoprothese darstellt, ist bislang nicht abschließend geklärt.

Schlüsselwörter: Schulter, Inverse, Endoprothese, Alter

Abstract

Implantation of reverse shoulder prostheses is traditionally recommended in patients over 70 years of age with an expected low demand shoulder use. This systematic review examines whether the recommended minimum age for a reverse prosthesis is respected in published case series. In each of the evaluated 19 articles patients younger than 70 years received a reverse shoulder prosthesis. The average of the mean patient ages per article was 71,3 years. The mean of the minimum age per article was 48,9 years. The relationship between patient age and results or occurence of complications was not analyzed in any of the articles in order to argue against the recommended minimum age of 70 years. There was an obvious discrepancy between the recommended minimum age and the actual surgical practice.

If a reverse shoulder prosthesis is planned to be used for a patient younger than 70 years, patient counseling and informed consent should deal with the lack of literature supporting or disapproving this practice. To date, it has not been determined clearly whether or not a patient age younger than 70 years is a risk factor for loosening or failure of a reverse shoulder prosthesis.

Key Words: shoulder, reverse, prosthesis, age

Einleitung

Die inverse Schulterendoprothese wird heutzutage zur Behandlung von ausgewählten Patienten mit schweren Schultergelenkserkrankungen verwendet [1]. Zu diesen Erkrankungen gehört v.a. die sogenannte Cuff Arthropathie [2]. Dies stellt eine sekundäre Omarthrose auf Grundlage einer massiven Rotatorenmanschettenruptur dar. Eine weitere Indikation besteht in einer massiven Rotatorenmanschettenruptur ohne Omar-throse, sofern die Funktion und Integrität der Rotatorenmanschette nicht mehr rekonstruierbar oder ersetzbar durch einen Sehnentransfer ist [1]. Als weitere Indikation können schultergelenknahe Frakturen gelten [3] oder Zustände von nicht funktionsfähigen und nicht rekonstruierbaren Rotatorenmanschetten bei liegender Endoprothese [4]. Es wird empfohlen, dass inverse Schul-terendoprothesen nur bei Patienten mit einem Alter von mehr als 70 Jahren und nicht körperlich schwerer Belastung der Schulter implantiert werden [5]. Diese Empfehlung resultiert aus den teilweise sehr hohen Komplikationsraten nach Implantation einer inversen Endoprothese zum Einen [1], zum Anderen aus der Beobachtung, dass es nach einigen Jahren zu erheblichen Funktionseinbußen auch ohne Implantatlockerung kommen kann [2]. In der vorliegenden Studie wurde anhand eines systematischen Reviews untersucht, inwieweit das mehrfach empfohlene Mindestalter von 70 Jahren für die Implantation einer inversen Schulterendoprothesen in veröffentlichten Fallserien tatsächlich Bestand hat.

Material und Methode

Im Februar 2012 wurde eine systematische Durchsicht der US National Library of Medicine/National Institutes of Health (PubMed) Datenbank durchgeführt. Als Suchwörter dienten zunächst „reverse“, „shoulder“ und „young“. Hiermit konnten 26 Treffer generiert werden, kein Artikel beschäftigte sich explizit mit der Implantation von inversen Schulterendoprothesen bei jungen Patienten. Kein Artikel setzte das Alter der Patienten in Relation zum Ergebnis. Als nächstes wurden die Suchwörter „reverse“, „shoulder“ und „younger“ verwendet. Hiermit konnten 10 Treffer generiert werden. Kein Artikel beschäftigte sich explizit mit der Implantation bei inversen Endoprothesen bei jüngeren Patienten. Kein Artikel setzte das Alter der Patienten zum Ergebnis in Beziehung. Auch eine weitergehende Analyse der Literatur in der PubMed Datenbank mit weiteren Suchwörtern ergab keinen Hinweis darauf, dass Studien vorliegen, die das Patientenalter explizit mit dem kurz-, mittel- oder langfristigen Ergebnis nach inverser Schul-terendoprothese in Beziehung setzen. Hiernach erfolgte eine Analyse der bislang zu inversen Schulterendoprothesen veröffentlichten Fachartikel im führenden orthopädischen Fachjournal, dem Journal of Bone and Joint Surgery in seiner amerikanischen und britischen Ausgabe. So wurden als Suchwörter für die PubMed Datenbank „reverse“ und „shoulder“ verwendet in Kombination mit „J Bone Joint Surg“. Hiermit konnten 29 Treffer generiert werden; hiernach „reverse“, „shoulder“ und „J Bone Joint Surg Br“. Hiermit konnten 10 Treffer generiert werden. Zur Auswertung kamen nur Fallserien oder Multicenterstudien. Als Mindestfallzahl wurden 10 Fälle gesetzt. Von den mit den o. g. Suchwörtern gefundenen 39 Artikeln erfüllten 19 die Einschlusskriterien [1, 5–22]. Diese Artikel wurden schließlich hinsichtlich der Fallzahl, des Durchschnittsalter der Patienten bei Implantation der inversen Schulterendoprothese sowie des Mindestalters bei Implanta-
tion der inversen Schulterendoprothese genau analysiert.

Ergebnisse

Die 19 analysierten Artikel wurden zwischen 2005 und 2011 in den beiden genannten Fachjournalen veröffentlicht. Die Studien stammten mehrheitlich aus den USA, Frankreich und der Schweiz. Kumulativ enthielten die 19 Studien 1169 Fälle, hierbei betrug der Mittelwert der Fallzahl pro Studie knapp 62 Fälle. Der Median lag bei 51 Fällen, das Minimum bei 11, das Maximum bei 240 Fällen. In 15 Arbeiten wurde die primäre Implantation einer inversen Schulter-endoprothese beschrieben. In 4 Studien erfolgte die Implantation einer inversen Schulterendoprothese mehrheitlich als Revisionsimplantat. Zwei Studien waren Multicenterstudien (s. Tab. 1).

Mittleres Alter

Der Mittelwert des mittleren Alters der Patienten aller Arbeiten betrug 71,3 Jahre, der Median lag bei 71 Jahren, das Minimum lag bei 62 Jahren, das Maximum bei 81 Jahren. In einer Studie war das mittlere Alter nicht angegeben [8].

Mindestalter

Der Mittelwert des Mindestalters der Patienten aller Arbeiten lag bei 48,9 Jahren. Das minimale Mindestalter lag bei 34 Jahren, das maximale Mindestalter bei 65 Jahren. In 2 Studien lagen keine Angaben zum Mindestalter vor [8, 16].

Diskussion

Aus der hier vorliegenden Literaturanalyse war keine Studie erkenntlich, in dem die Auswirkung des Patientenalters auf das postoperative Ergebnis nach Implantation einer inversen Schulterendoprothese analysiert wurde. In allen Studien wurden Ausnahmen gemacht hinsichtlich der traditionellen Empfehlung, inverse Schulterendoprothesen nicht bei Patienten unter 70 Jahren zu implantieren. Beispielhaft kann hier die Multicenterstudie von Guery et al. angeführt werden, in der die untere Altersgrenze von 70 Jahren explizit empfohlen wird, der jüngste Patient aber 58 Jahre alt ist [5]. Es ist davon auszugehen, dass hier Abwägungen in Einzelfällen zu Gunsten der kurz- oder mittelfristigen Wiederherstellung einer ausreichenden Schulterfunktion aber zuungunsten der eigentlich breit im Schrifttum akzeptierten Altersgrenze erfolgten. Nur in einer Studie wurde eine untere Altersgrenze definiert und dann auch tatsächlich eingehalten. Entgegen den allgemeinen Empfehlungen der Literatur wurde diese untere Altersgrenze aber bei 65 Jahren gesetzt [22] und entsprach somit nicht der traditionell empfohlenen Altersgrenze von 70 Jahren [5].

Die eigene Arbeit hat einige methodische Schwächen. Es wurde nur die Untergrenze betrachtet, die tatsächliche Anzahl jüngerer Patienten im Vergleich zum Gesamtkollektiv der jeweiligen Studie wurde nicht berücksichtigt, da diese aus den analysierten Studien nicht ermittelbar waren. Somit ist nicht ganz sicher, ob die Implantation einer inversen Schulterendoprothese eine relative Ausnahmesituation ist oder ob dies ein inzwischen häufigeres Vorgehen ist. Ein weiterer möglicher Kritikpunkt kann sein, dass hier nur 2 Fachjournale in die Auswertung einbezogen wurden. Dies geschah deswegen, um die Praxis der Meinungsführer zu beleuchten, die regelhaft in diesen beiden führenden Journalen veröffentlichen. Diese Meinungsführer proklamieren im Prinzip auch die Altersgrenze von 70 Jahren.

Aus diesem systematischem Review lässt sich schließen, dass trotz der in der Literatur mehrfach genannten Altersempfehlung von 70 Jahren aufwärts für die Implantation einer inversen Schul-terendoprothese dies regelhaft nicht eingehalten wird. Der Evidenzgrad der traditionellen Altersempfehlung ist aber gering und hat lediglich den Grad einer Expertenmeinung bzw. Expertenempfehlung. Passend hierzu liegt auch im Bericht des australischen Endoprothesenregisters von 2011 mit 2740 Fällen das Mindestalter bei 32 Jahren [23]. Die bereits veröffentlichte Literatur spricht weder für noch wider diese Praxis, da nach Kenntnis der Autoren bislang keine Arbeiten vorliegen, die explizit das Patientenalter mit dem postoperativen Ergebnis, dem Auftreten von Komplikationen oder dem Langzeitergebnis in Beziehung setzen. Wenn bei jungen Patienten unter 70 Jahren eine inverse Schulterendoprothese implantiert wird, sollte die fehlende Datenlage bei der Indikationsstellung und der Aufklärung offen berücksichtigt und mit dem Patienten diskutiert werden, da sie der traditionellen Expertenmeinung nicht entspricht (s. Abb. 1 und 2). Ob ein jüngeres Patientenalter einen Risikofaktor für eine Lockerung oder ein anderweitiges Versagen einer inversen Schulterendoprothese darstellt, ist bislang nicht abschließend geklärt.

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Marius von Knoch

Klinik für Orthopädie und
Endoprothetik, Schulterzentrum

Klinikum Bremerhaven
Reinkenheide gGmbH

Postbrookstraße 103

27574 Bremerhaven

mariusvonknoch@yahoo.com

Literatur

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23. Australian Orthopaedic Association. National Joint Replacement Registry. Demographics of Shoulder, Elbow and Wrist Arthroplasty. Supplementary Report 2011.

Fussnoten

Klinik für Orthopädie und Endoprothetik, Klinikum Bremerhaven

Abteilung Orthopädie, Universitätsmedizin, Georg-August-Universität Göttingen

DOI 10.3238/oup.2012.0356–0360

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