Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen

Michael Kraus1, Johanna Oehler2, Alexander Wild3

Zusammenfassung: Wirbelsäulenerkrankungen spielen nicht nur ökonomisch eine große und zunehmende Bedeutung, sondern vor allen Dingen auch bei gutachterlichen Prozessen. Der gutachterlich tätige Arzt muss dabei nicht nur den medizinischen Sachverhalt beurteilen können, sondern diesen unter Bezugnahme auf die für den Gegenstand des Gutachtens zutreffenden Rechtsnormen korrekt einordnen. Ziel dieses Artikels ist die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der gutachterlichen Grundsätze bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen und Verletzungen unter Berücksichtigung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und der gesetzlichen Grundlage.

Schlüsselwörter: Gutachten, Wirbelsäule, Unfallversicherung, Rentenversicherung

Zitierweise
Kraus M, Oehler J, Wild A: Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen.
OUP 2017; 3: 148–154 DOI 10.3238/oup.2017.0148–0154

Summary: Degenerative diseases and injuries play a growing role not only in the treatment of patients but also regarding economic and social issues. For medical experts it is crucial to know not only medical aspects but also legal norms and regulations. Aim of this article is to report on current medical and legal aspects in treatment and evaluation of spinal deformitities and injuries regarding German law and insurance issues.

Keywords: spine expert opinion, accident insurance,
german law of insurance

Citation
Kraus M, Oehler J, Wild A: Assessment of spinal diseases regarding German law of insurance.
OUP 2017; 3: 148–154 DOI 10.3238/oup.2017.0148–0154

Einleitung

In allen Bereichen des Versicherungsrechts ist es für den medizinischen Gutachter unerlässlich, sich mit wirbelsäulenassoziierten Erkrankungen und deren versicherungsrechtlichen Aspekten zu beschäftigen. Neben der Einordnung außerhalb der Gliedertaxe im privatrechtlichen Bereich kommt in der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) vor allen Dingen der Kausalität eine hohe Bedeutung zu, und es existiert eine Vielzahl von Publikationen, die der gutachterlich tätige Orthopäde und Unfallchirurg dabei berücksichtigen und korrekt einordnen muss, um sowohl dem Versicherten als auch dem Versicherungsträger gerecht zu werden. Im Sozialrecht geht ein nicht unerheblicher Anteil der Berentungen wegen Erwerbsminderung zu Lasten von Erkrankungen der Wirbelsäule und auch bei der Einschätzung des Grads der Behinderung (GdB) ist die gutachterliche Einordnung des Schädigungsanteils des Wirbelsäulenleidens ein wesentlicher Bestandteil der vom Sozialgericht beauftragten Leistung.

Ziel dieses Artikels ist die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der gutachterlichen Grundsätze bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen und Verletzungen unter Berücksichtigung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und der gesetzlichen Grundlage.

Anatomische und
physiologische Grundlagen

Die Wirbelsäule ist das zentrale Achsorgan des menschlichen Körpers. Sie besteht aus 7 Halswirbeln, 12 Brust- und 5 Lendenwirbeln. Insgesamt besitzt der Mensch somit 24 Bewegungssegmente. Als Bewegungssegment wird die Kombination aus 2 Wirbelkörpern und einer dazwischen befindlichen Bandscheibe gesehen. Das Bewegungselement besteht somit neben der Bandscheibe auch aus den beiden Facettengelenken, die von den angrenzenden Wirbelkörpern gebildet werden sowie den Bändern, die sich zwischen den knöchernen Strukturen ausbilden. Für die gutachterliche Praxis hat es sich bewährt, die Einteilung in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule bereits bei der Untersuchung systematisch zu übernehmen und spezifische Aspekte des jeweiligen Wirbelsäulenabschnitts zu beachten. Zu unterscheiden ist zwischen degenerativen Schäden, Vorschäden und frischen traumatischen Läsionen.

Halswirbelsäule

Die Halswirbelsäule (HWS) ist die Verbindung zwischen Kopf und Brustwirbelsäule (BWS) und zeichnet sich im Vergleich zu anderen Wirbelsäulenabschnitten durch eine außerordentliche Beweglichkeit aus. Sie besteht aus 7 Halswirbeln, wobei der erste und der zweite Halswirbel in Form und Funktion deutlich von den anderen 5 Wirbeln abweichen. Somit lässt sich die HWS erneut in 3 Regionen unterscheiden: die obere (C0–C2), die mittlere (C3–5) sowie die untere HWS (C5–Th1). Das Gelenk zwischen Kopf und Atlas (C1) wird Atlantooccipitalgelenk genannt, das Gelenk zwischen Atlas und Axis (C2) wird Atlantoaxialgelenk genannt. Das obere Kopfgelenk erlaubt dabei hauptsächlich Nickbewegung (also Extension und Flexion), das untere Kopfgelenk die Drehung des Kopfs. Die mittleren und unteren HWS-Abschnitte erlauben in geringerem Ausmaß ebenso Flexion, Extension und Drehbewegungen, wobei insbesondere das Gelenk zwischen C2 und C3 Seitwärtsbewegungen erlaubt. Die HWS zeigt physiologischerweise eine harmonische Lordose.

Brustwirbelsäule

Von allen Wirbelsäulenabschnitten zeigt die BWS die geringste Beweglichkeit. Sie ist über die Rippen des Brustkorbs mit dem Sternum verbunden. Die Rippen erlauben in den Costotransversalgelenken die Beweglichkeit bei der Atmung. Die BWS weist physiologischerweise eine Kyphose auf.

Lendenwirbelsäule

Die LWS besteht bei den meisten Menschen aus 5 Wirbeln und erlaubt vor allen Dingen die Beugung und in geringerem Umfang die Streckung. Auch an der Seitverbiegung und der Rotation ist sie beteiligt. Besonders anfällig für degenerative Erkrankungen ist dabei der Übergang vom fünften Lendenwirbel auf das Kreuzbein. Zu beachten sind hier auch Übergangsstörungen, bei denen ein sakraler Wirbel lumbalisiert sein kann. Die LWS wiederum hat eine harmonische Lordose.

Gutachterliche Untersuchung der Wirbelsäule

Die klinische Untersuchung nimmt bei der Beurteilung und Einschätzung gutachterlicher Fragestellungen einen hohen Stellenwert ein. Bei der Einschätzung des GdB und Fragestellungen im Rentenrecht kommt der Untersuchung und der dabei festzustellenden Körperschädigung und der entsprechenden Funktionseinschränkung ein wesentlich höherer Stellenwert zu als z.B. den Diagnosen, die sich allein aus der Bildgebung ergeben. Auch der exakten Anamnese kommt eine hohe diagnostische und gutachterliche Bedeutung zu.

Anamnese

Zu erfassen sind Vorerkrankungen, Voroperationen, eine exakte Schmerzanamnese (seit wann, wie intensiv, wo, Visuelle Analogskala VAS, Schmerzcharakter, spezifische Schmerztherapie, in Ruhe oder bei Belastung), Schmerzmedikation und ggfs. Unfallanamnese. Gerade im Rahmen von Gutachten für die GUV ist es wichtig, zwischen Erkrankungen oder Schäden vor und nach dem Unfallgeschehen zu differenzieren. Diesem Umstand sollte im Gutachten Rechnung getragen werden, indem explizit nach Behandlungen oder Beschwerden vor dem Unfalldatum gefragt wird und in der Aktenlage danach gefahndet wird.

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