Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen

Weitere relevante Fragen beziehen sich auf die Gehstrecke, die Fähigkeit zum Treppensteigen und Einschränkungen bei der beruflichen Tätigkeit und im Alltag (Dauer der AU, Berufsanamnese, letzter Arbeitsplatz, Gehstrecke, Fähigkeit Auto zu fahren, Treppensteigen, öffentliche Verkehrsmittel, Hilfsmittel).

Selbstverständlich gehört zu einer gutachterlichen Untersuchung auch eine allgemeine Anamneseerhebung (internistisch, chirurgisch, sozialmedizinisch, psychiatrisch usw.) dazu, die auch so dokumentiert werden muss.

Inspektion

Zunächst sollte der Proband im Gespräch beurteilt werden. Hier ist relevant, ob es diesem möglich ist, während des Gesprächs sitzen zu bleiben oder ob die Position gewechselt werden muss. Auch das Ablegen der Kleidung sollte dokumentiert werden. Eventuell verwendete Hilfsmittel (Mieder, Schienen, Gehstützten, Rollator, Rollstuhl usw.) sind zu erfassen. Das Gangbild ist zu erkunden, optimal bereits vor der Untersuchung. Ebenso bietet sich ein Treppenhaus an, um die Fähigkeit zum Treppensteigen besser beurteilen zu können. Augenmerk ist zu legen auf sagittale und frontale Achsabweichungen. Bei der Betrachtung von dorsal können zunächst am gerade stehenden Patienten das Lot von C7 auf die Rima ani bestimmt werden. Anschließend müssen eventuelle Asymmetrien beschrieben werden (Lendenwulst, Rippenbuckel, Taillendreiecke). Abweichungen dieser Parameter weisen auf eine skoliotische Deformität hin. Bei der Betrachtung von der Seite muss das sagittale Profil beurteilt werden. Festzustellen ist die Form der Lordose von LWS und HWS sowie der Kyphose der BWS. Einschränkungen bei der Inspektion, die sich zum Beispiel bei adipösen Patienten ergeben können, sind zu vermerken. Zudem sollte Becken- und Schulterstand notiert werden.

Palpation

Bei der Palpation sind druckschmerzhafte Areale zu erkennen sowie Verhärtungen der Muskulatur. Typische Schmerzstellen wie der Valleix‘sche Punkt sollten separat erfasst werden.

Funktionelle Untersuchung

Die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte spielt bei der gutachterlichen Beurteilung eine zentrale Rolle, entsprechend sollte hier ein besonderes Augenmerk liegen. Eine gängige Darstellung der Normalwerte ist in Tabelle 1 verzeichnet.

Ein Maß für die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule ist die Messstrecke vom Dornfortsatz C7 30 cm nach kaudal (Maß nach Ott, Norm: 30:32), ein Maß für die Beugefähigkeit der LWS die Messstrecke vom Dornfortsatz S1 10 cm nach kranial (Maß nach Schober, Norm: 10:15). Des Weiteren ist der Finger-Boden-Abstand zu dokumentieren.

Neurologische Untersuchung

Bei jeder gutachterlichen Äußerung zu Schäden der Wirbelsäule ist eine komplette neurologische Untersuchung obligat. Dabei sind Ausfälle der Kraftgrade der oberen und unteren Extremität separat zu dokumentieren, ebenso sensible Defizite und ggfs. neurologische Blasen- oder Darmstörungen. Hierzu kann bei entsprechender Klinik auch eine rektale Untersuchung erforderlich sein. Die Kennreflexe, die bei jeder Untersuchung erfasst werden, sind der Trizeps-, der Bizeps-, der Patellar- und der Achillessehnenreflex im Seitvergleich. Komplettiert wird die Untersuchung der Kraft der Kennmuskeln (klassischerweise nach Janda auf einer 5-teiligen Skala) durch eine funktionelle Untersuchung im Stehen, bei der der Einbeinstand, der einbeinige Zehen- und Fersenstand sowie das einbeinige in die Hocke gehen untersucht wird. Zur Erkennung einer Ataxie kann der Romberg-Test und die Fähigkeit, mit geschlossenen Augen auf einer Linie zu laufen, herangezogen werden.

Rechtsgrundlage

Gutachten können von verschiedenen Parteien angefordert werden und je nach Gutachtenart werden an den Gutachter unterschiedliche Anforderungen gestellt. Zudem sind mitunter vollkommen unterschiedliche Rechtsgrundlagen bei der Beurteilung zu beachten.

Zivilrecht

Private Unfallversicherung

Im privatrechtlichen Teil nehmen die Unfallversicherungen den entscheidenden Anteil ein. Den genauen Rahmen der Versicherung legt der Versicherer in den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) fest. Rechtliche Basis ist das Gesetz über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertrag-Gesetz, VVG, §§ 178–191). Der Versicherer ist demnach verpflichtet, der versicherten Person bei einem Unfall oder einem gleichgestellten Ereignis die versicherte Leistung zu erbringen (§ 178 Abs. 1 VVG).

Merke

Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Die Unfreiwilligkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet (§ 178 Abs. 2 VVG).

Der Gutachter muss jedoch auch Umstände beachten, bei denen eventuell eine Leistungspflicht nicht besteht (AUB Ziffer 3 und 5). So sind z.B. die Folgen eines Sturzes aufgrund einer Bewusstseinsstörung (Epilepsie, Schlaganfall, Drogen, Alkohol usw.) nicht versichert. Sollte die Bewusstseinsstörung jedoch durch einen Unfall verursacht worden sein, zu dessen Zeitpunkt eine Versicherung bestand, sind der Schaden und dessen Folgen versichert.

Merke

Im erweiterten Unfallbegriff (AUB Ziffer 1.4) sind eventuell auch Verrenkungen der Gliedmaßen und der Wirbelsäule sowie Zerrungen von Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln mitversichert!

Kausalität im Zivilrecht

Wirbelsäulenfrakturen

In den meisten Fällen ist die Beurteilung der Kausalität in zivilrechtlichen Verfahren hinsichtlich Verletzungen ossärer Strukturen unstrittig. Entscheidend bei der Beurteilung der Frakturentstehung sind die Vorgeschichte, der Röntgenverlauf und natürlich der Unfallhergang. Entscheidend ist auch der zeitliche Zusammenhang zwischen Trauma und Schmerzentstehung. Ein frischer Wirbelbruch verursacht starke Schmerzen, der Verunfallte wird unmittelbar ärztliche Behandlung benötigen. Schwierigkeiten können bei polytraumatisierten, lange intensivpflichtigen Patienten entstehen, bei denen eine stark verzögerte Diagnostik eine Fraktur im Bereich der Wirbelsäule offenbart. Auch hier muss eine gutachterliche Abwägung zwischen Vorgeschichte, Unfallhergang und vorhandener Bildgebung erfolgen.

Frakturen bei Vorschaden

Bei der Begutachtung für die Private Unfallversicherung (PUV) ist es erforderlich, im Rahmen einer gutachterlichen Abwägung die unfallbedingte Mitwirkung exakt zu beziffern. In der gutachterlichen Praxis betrifft dies häufig Patienten, die an Osteoporose leiden. Hier muss das Ausmaß der Osteoporose herangezogen werden, um deren Anteil am eingetretenen Schaden bemessen zu können. So gilt die Verminderung der Knochendichte um eine Standardabweichung vom alterskorrelierten Median als 30-prozentige Erhöhung des Frakturrisikos, bei 2 Standardabweichungen um ca. 60 % [1].

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5