Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Gutachterliche Aspekte bei der Beurteilung von Wirbelsäulenerkrankungen

Bandscheibenschäden

In einer Vielzahl biomechanischer Studien konnte gezeigt werden, dass eine isolierte Schädigung einer gesunden oder vorbeschädigten Bandscheibe aus anatomischen Gründen praktisch nicht möglich ist [2]. Somit muss bei der Einschätzung der Invalidität für die PUV von einem hohen unfallfremden Anteil an der Schädigung ausgegangen werden, der derzeit bei ca. 80 % liegt, und auch dies zeitlich befristet [2]. In allen anderen Fällen müssen weitere strukturelle Schäden an umgebenden Geweben (Knochen, Muskeln, Bänder) nachgewiesen werden. Hierzu ist eine zeitnahe MRT-Bildgebung von unschätzbarem Wert, da es eine zutreffende Beurteilung und auch eine Einschätzung der Frische einer Verletzung besser erlaubt als andere Bildgebungstechniken.

Sozialrecht

Gesetzliche Unfallversicherung

Im Gegensatz zum Zivilrecht, in dem im Rahmen der Adäquanztheorie jede conditio sine qua non, die dem Schaden adäquat ist, als ursächlich angenommen werden kann, gilt im Sozialrecht die Lehre von der wesentlichen Bedingung. Somit muss eine Ursache eingetreten sein, die wesentlich zum Erfolg (also zum Schaden) beigetragen hat. Die conditio sine qua non muss dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Ursache darstellen. Eine allumfassende Definition der „wesentlichen Bedingung“ ist nicht existent und oft Gegenstand der rechtlichen Auseinandersetzung und somit Inhalt der gutachterlichen Diskussion. Insbesondere bei wirbelsäulenassoziierten Erkrankungen ist die Abgrenzung von Erkrankungen, die durch Verschleiß und normale Alterungsprozesse eintreten, häufig Gegenstand der Einschätzung einer Anerkennung als Berufserkrankung.

Einschätzung von
MdE, Invalidität und GdS

Bei der gutachterlichen Beurteilung des eingetretenen Schadens ist nicht die initiale Diagnose ausschlaggebend, sondern das Endergebnis nach eingetretener Heilung. Daher muss bis zur definitiven Beurteilung eine gewisse Zeit verstrichen sein. Der Mindestzeitraum nach Wirbelsäulenverletzungen ist daher mit einem Jahr, in einzelnen Fällen auch länger zu bemessen.

Zur Einschätzung stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Im Jahr 1991 wurde von Weber und Wimmer das Segmentprinzip vorgestellt [3]. Dieses erlaubt eine Beurteilung des eingetretenen Schadens anhand radiologischer und biomechanischer Kriterien und steht wegen dieser Einseitigkeit und der Vernachlässigung klinischer Kriterien in der Kritik [4] (Tab. 2).

Dabei gilt, dass bei stabilen Frakturen ohne Deformierung die einfachen Segmentwerte herangezogen werden. Bei 2 betroffenen Segmenten werden die Werte addiert. Bei sagittalen oder frontalen Achsabweichungen sind die Werte zu verdoppeln. Eine Verdreifachung liegt bei Ankylose oder Hypomobilität vor. Eine segmentale Instabilität wird mit dem Faktor 4 multipliziert. Insgesamt darf jedes Segment nur einmal, dann aber mit dem höchsten Wert in die Addition kommen.

Von Schönberger et al. wird eine Unterteilung in Verletzungsarten vorgeschlagen [5] (Tab. 3).

Die Autoren beschreiben eine Instabilität als abnorme Beweglichkeit im betroffenen Wirbelsäulensegment. Als weiteres Kriterium wird die Höhe des Schadens definiert. Aufgrund fehlender Kompensationsmechanismen sind weiter unten gelegene Schäden höher anzusetzen [5].

Schröter beschreibt folgende Kriterien zur Einschätzung der verbliebenen Unfallfolgen nach Wirbelsäulenverletzungen [2]:

Stabilität

Statik

Beweglichkeit

Muskulatur

Neurologie

Der Autor schlägt eine Einteilung der MdE nach dem klinischen Ausheilungsbefund vor (Tab. 4).

Auch Schönberger et al. weisen darauf hin, dass neurologische Schäden hier nicht beinhaltet sind und separat betrachtet werden müssen.

Der GdB und der GdS werden nach den Kriterien der Versorgungsmedizinverordnung beurteilt. Im Teil B 18.9 (S. 109, 110) sind dabei die Bewertungsmaßstäbe beschrieben (Tab. 5). Auch hier müssen neurologische Störungen gesondert gewichtet werden. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne neurologische Störung ein GdS von über 30 in Betracht gezogen werden. Eine neurologisch/psychiatrische Zusatzbegutachtung kann hier erforderlich sein.

Beurteilung von
Wirbelsäulenschäden für Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung

Schäden an Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule können je nach Ausprägung zu Leistungsminderungen, also qualitativen Einschränkungen, führen. Ab einer bestimmten Ausprägung sind auch quantitative Einschränkungen vorstellbar.

Schäden an der HWS können eine Aufhebung des Leistungsvermögens für Tätigkeiten über Kopf und in Armvorhalte mit sich bringen. Damit kann sich eine Einschränkung ergeben für Tätigkeiten im Baugewerbe, der Post, im Lager aber auch in pflegerischen Berufen und in der Gastronomie. Bei vorliegender Instabilität, z.B. bei rheumatischen Erkrankungen, Tumorleiden oder posttraumatisch, kann auch ein aufgehobenes Leistungsvermögen vorliegen.

Schäden an Brust- und Lendenwirbelsäule führen häufig zu einer Einschränkung der Arbeitsschwere, verzichtet werden muss auf Wirbelsäulenzwangshaltungen, ein sitzender Arbeitsplatz sollte ergonomisch gestaltet werden.

Detailliert werden die Kriterien in der Leitlinie der DRV zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen beschrieben [7].

Leichte degenerative Veränderungen erlauben durchaus noch mittelschwere Tätigkeiten, bei Vorliegen eines Nukleusprolapses sollte kein überdurchschnittlich häufiges Bücken, Heben und Tragen oder Überkopfarbeiten (HWS) mehr erforderlich sein. Bei anhaltender Radikulopathie oder Instabilität sind zusätzlich Tätigkeiten nicht leidensgerecht auf Leitern, Gerüsten, in unebenem Gelände und ggfs. mit Anspruch an Kraft und Feinmotorik der Hand, sollte diese betroffen sein. Hier kann dann auch je nach Ausprägung eine Aufhebung des Leistungsvermögens vorliegen. Spinalkanalstenosen ohne Myelopathie führen in aller Regel nicht zu einer quantitativen Limitierung, wohingegen mit neurologischen Begleiterscheinungen eine Tätigkeit eventuell nur noch unter 3 Stunden möglich ist.

Die postoperative Belastbarkeit hängt von der Art der Operation ab. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen ist in aller Regel anzunehmen bei Rezidiveingriffen, nach Spondylodese der HWS und der LWS sowie einer versorgten zervikalen Myelopathie, wohingegen eine lumbale Claudicatio nach 3–6 Monaten postoperativ wieder zu einer Leistungsfähigkeit von 6 und mehr Stunden führt [8].

Bandscheibenbeding

te
Berufskrankheiten der
Wirbelsäule

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