Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017
Lumbale und zervikale BandscheibenprothetikAktuelle Entwicklung und SportfähigkeitTrends and ability to practice sports
Andreas Reinke1, Michael Kraus2, Alexander T. Wild1, Sebastian Weckbach2
Zusammenfassung: Bislang ist die Fusion noch als „Goldstandard“ bei der Behandlung degenerativer Wirbelsäulenerkrankung zu sehen. Um die Beweglichkeit im Segment zu erhalten, ist die Bandscheibenendoprothese bei Versagen der konservativen Therapie eine Option. Aktuelle Studienergebnisse zeigen, dass die Bandscheibenendoprothik der Hals- und Lendenwirbelsäule in einem selektiven
Patientengut ein effektives Verfahren mit wenigstens gleichwertigen Ergebnissen im Vergleich zu fusionierenden Verfahren ist und gerade in einem jungen Patientenkollektiv
eine hohe Sportfähigkeit wiederherstellen kann. Entscheidend für eine erfolgreiche operative Behandlung ist die
korrekte Indikationsstellung.
Schlüsselwörter: Bandscheibenprothese, Halswirbelsäule,
Lendenwirbelsäule, Fusion, Sportfähigkeit
Zitierweise
Reinke A, Kraus M, Wild A, Weckbach S: Lumbale und zervikale Bandscheibenprothetik. Aktuelle Entwicklung und Sportfähigkeit OUP 2017; 3: 136–140 DOI 10.3238/oup.2017.0136–0140
Summary: Spinal fusion is still seen as the gold standard in treatment of degenerative disc disease. For motion preservation the total disc replacement became a comparable surgical option, when conservative treatment fails. We already know that TDR is an effective technique and in selected
patients it is at least equal to fusion in the cervical and lumbar spine and allows a full recovery to resume sport activities. But sufficient treatment recommendations based on a high evidence-level are missing so far. Therefore, spine
surgeons should be cautious about the indication for TDR.
Keywords: total disc replacement (TDR), fusion, lumbar spine, cervical spine, sport activities
Citation
Reinke A, Kraus M, Wild A, Weckbach S: Total disc replacement in lumbar and cervical spine. Trends and ability to practice sports
OUP 2017; 3: 136–140 DOI 10.3238/oup.2017.0136–0140
Einleitung
Sowohl an der Hals- als auch an der Lendenwirbelsäule (HWS, LWS) ist die Fusion unverändert der Goldstandard der operativen Therapie bei der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung. Dennoch laufen seit Jahrzenten intensive Bemühungen, die versteifenden Verfahren durch bewegungserhaltende Methoden zu ergänzen. Bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Versuch unternommen, degenerierte Segmente unter Erhalt der Beweglichkeit zu therapieren [7]. Seither wurde das Design immer wieder verändert und weiterentwickelt. Eine weitere Verbreitung als in der Anfangszeit erfuhr die Bandscheibenarthroplastik vor knapp 20 Jahren. Mittlerweile konnte in größeren Kollektiven gezeigt werden, dass die Arthroplastik der Bandscheibe (total disc replacement, TDR) nicht mit schlechteren Behandlungsergebnissen behaftet ist. Geradere neue Studien konnten zeigen, dass bei einem bestimmten Patientenklientel die TDR der Fusion hinsichtlich Funktion und Zufriedenheit sogar überlegen sein kann [15–17, 22]. Diese ersten positiven Ergebnisse konnten mittlerweile in Meta-Analysen über diverse Studien bestätigt werden, welche die Arthroplastik der Fusion gegenüberstellen [5, 13, 14, 18, 20, 27, 28].
Auch wenn es biomechanisch große Unterschiede zwischen der TDR im Bereich der HWS und LWS gibt, haben diese in beiden Wirbelsäulenkompartimenten den Erhalt des Bewegungssegments gemeinsam.
Ziel dieses Artikels ist die übersichtliche Darstellung der aktuellen Techniken, Möglichkeiten und Limitationen der Bandscheiben-Arthroplastik.
Biomechanisches
Grundprinzip
Als Grundprinzip gilt, dass die Arthroplastik der Wirbelsäule im Gegensatz zu den Fusionstechniken die Beweglichkeit im Index-Segment erhält und somit auch die Anschlussdegeneration reduzieren soll [2, 6]. Hierbei konnte durch In-vitro-Tests bereits 2005 nachgewiesen werden, dass im angrenzenden Segment zur TDR normale intradiskale Drücke erzielt werden können. Dies ist im Fall einer Fusion nicht so.
An eine Bandscheibenprothese sind dabei folgende Forderungen zu stellen:
die Beweglichkeit muss besser sein als nach einer Fusion
die Prothese muss sicher implantiert und stabil verankert werden können
die Stabilität des ersetzten Bewegungssegments muss erhalten bzw. verbessert werden und
die Prothese muss dabei die Beweglichkeit in allen 3 oder sogar 4 Ebenen (inklusive Translation) erlauben.
HWS
Die Implantation einer „künstlichen Bandscheibe“ in der Halswirbelsäule kann bislang nicht als Standardbehandlung gesehen werden. Als operativer Standard in der Behandlung von Bandscheibenvorfällen der Halswirbelsäule gilt die Entfernung der Bandscheibe und des Vorfalls, gefolgt von einer Versteifung (anteriore Zervikale Diskektomie und Fusion, ACDF) im erkrankten Segment. Bei diesem Verfahren kommt es im weiteren Verlauf zu einer Degeneration der an die operierte Etage angrenzenden Bandscheibe: in 2,9 % der Fälle pro Jahr und bis zu 25 % nach 10 Jahren [12].
Es konnte 2016 in einer Metaanalyse gezeigt werden, dass nach einer TDR in 3,1 % der Fälle und nach einer ACDF in 6 % der Fälle eine operative Versorgung im Nachbarsegment notwendig wurde [4]. Auch bei einer Versorgung von 2 angrenzenden Bewegungssegmenten zeigen sich ähnliche Ergebnisse. Hier ist von Radcliff et al. 2016 beschrieben worden, dass nach 5 Jahren eine Re-Operation im Falle eines TDR in 4 % sowie nach einer ACDF in 16 % der Fälle notwendig war [19]. Somit konnte signifikant gezeigt werden, dass die Degeneration der angrenzenden Bandscheibe durch ein bewegliches Implantat im Vergleich zur Fusion deutlich reduziert wird (Abb. 1–2).
LWS
Im Bereich der Lendenwirbelsäule gilt bei bestimmten Formen der schmerzhaften Degeneration von Bandscheiben ebenfalls die Versteifung als Goldstandard. Auch hier kann es zu einer Anschlussdegeneration (adjacent level disease, ALD) kommen. Aktuell kann man davon ausgehen, dass dies in bis zu 16,5 % der Fälle nach 5 Jahren auftritt [1, 9]. Vergleichbar zu den ersten klinischen Ergebnissen an der HWS konnte auch an der LWS von Harrop et al. 2008 gezeigt werden, dass diese Rate bei Patienten, die eine Bandscheibenprothese statt einer Fusion erhielten, mit bis zu 9 % erheblich weniger ist [11].