Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016
Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von SchmerzOrthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain
Sind schmerzbedingte Funktionsstörungen nachgewiesen, hat der Sachverständige diese im Allgemeinen auch zu quantifizieren. Entsprechend den o.g. Kriterien chronischer Schmerzsyndrome ergeben sich dabei folgende Unterschiede:
Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder -erkrankung: Stehen körperlicher Befund (Organpathologie) und Befinden (Schmerz) in kongruentem Verhältnis, bestimmt die mit dem fachbezogenen Befund verknüpfte Funktionsbeeinträchtigung die Leistungsbeurteilung.
Schmerz bei Gewebeschädigung/-erkrankung mit psychischer Komorbidität: Besteht keine Kongruenz zwischen Befund und Befinden, sind relevante Funktionsbeeinträchtigungen im Allgemeinen nur dann zu diskutieren, wenn gleichzeitig ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation trotz entsprechender und angemessener Therapie nachweisbar sind.
Schmerz als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung: Handelt es sich um eine Schmerzsymptomatik ohne erkennbare Gewebeschädigung oder -erkrankung, orientiert sich die Einschätzung am Schweregrad der zugrundeliegenden psychischen Erkrankung. [2]
Je nach Rechtsgebiet sind über die Beurteilung schmerzbedingter Funktionsstörungen hinaus Fragen zum Zusammenhang zwischen einem stattgehabten Unfall- oder sonstigen Schädigungsereignis und geklagten Schmerzen zu klären, so z.B. im Rahmen sogenannter Zusammenhangsgutachten. Die Beweisführung basiert dann auf folgenden Kriterien:
Nachweis eines geeigneten körperlichen und/oder psychischen Primärschadens: Dieser muss in den meisten Rechtsgebieten ohne vernünftigen Zweifel („Vollbeweis“) vorliegen. Ansonsten erübrigt sich jede weitere Diskussion von Zusammenhangsfragen.
Nachweis des zeitlichen Zusammenhangs: Im Allgemeinen zwingende Voraussetzung für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs ist der Beginn einer geklagten Schmerzsymptomatik unmittelbar nach dem Schädigungsereignis, allerdings sind Ausnahmen zu beachten (z.B. anfängliche Analgesie, sekundäre Komplikationen). Der alleinige zeitliche Zusammenhang genügt jedoch nicht (kein „post hoc ergo propter hoc“).
Nachweis des typischen Schmerzverlaufs: In Abhängigkeit vom Körperschaden zeigen Schmerzen i.d.R. einen typischen Verlauf, der zu den geklagten Beeinträchtigungen korrelieren sollte.
Nachweis von Vorerkrankungen (Vorschaden): Sind solche „vollbeweislich“ nachweisbar, ist eine vorübergehende oder – im Einzelfall auch dauerhafte – Verschlimmerung des Vorschadens aufgrund des Schädigungsereignisses zu diskutieren.
Ausschluss konkurrierender Erkrankungen: Stellt sich der Verlauf von Schmerzsyndromen anders dar, als nach einem nachweisbaren körperlichen Schädigungsereignis zu erwarten, ist zu klären, inwieweit schädigungsunabhängige „überholende“ Faktoren nachweisbar sind, die (inzwischen) – je nach Rechtsgebiet – die rechtlich maßgebliche Schmerzursache darstellen [2].
Bei der Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz ist zudem in Bezug auf die Symptom- und Beschwerdevalidierung zu berücksichtigen, dass ca. 30–40 % der Patienten mit chronischem Schmerz ihre Beschwerden in der sozialmedizinischen Begutachtung nicht realistisch darstellen. Studien zeigen, dass Patienten ihre Beeinträchtigungen im Streit um Entschädigungs- oder Rentenzahlungen tendenziell stärker hervorheben als Patienten im Therapiesetting. Gerade auch in Zusammenhang mit den zahlreichen Begutachtungen zum sogenannten Schleudertrauma wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das soziale und private Sicherungssystem das Anspruchsverhalten begünstigt, dies im Sinne einer Verschiebung der Wesensgrundlage als Wandel von Heilungserwartung zum Entschädigungsbegehren.
Auch stellt sich die Frage, ob Schmerz objektivierbar ist. Zwar ergeben sie im Rahmen moderner bildgebender Verfahren, z.B. Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT), Positronen-Emissions-Tomografie (PET), Magnet Resonance Imaging (fMRI) und der Voxel-basierten Morphometrie (VBM), Hinweise, dass Schmerz und auch chronischer Schmerz abbildbar ist, neuere Forschungen zur Thematik der sogenannten Spiegelneurone lassen jedoch die Zweifel aufkommen, ob hirnmorphologisch darstellbare Veränderungen tatsächlich geeignet sind, bei der Validierung von Schmerzsyndromen zum aktuellen Zeitpunkt eine bedeutsame Rolle zu spielen. Auch stellt sich immer wieder die Frage, ob es einen „mediterranen Schmerz“ oder eine Schmerzgeschichte einer speziellen Kultur gibt, wie ist das für die Bewertung in unserem Sozialsystem zu werten. Hier ergeben sich Hinweise, dass allgemein jeder Mensch versucht, den Schmerz gemäß seinem Weltbild und seiner Kultur entsprechend in Zusammenhang zu stellen; erschwerend können sich hier unterschiedliche Wertesysteme von Arzt und Patient, aber auch Sprachbarrieren darstellen. Studien zur Schmerzschwellenbestimmung mit experimentellen Schmerzreizen weisen hingegen nur geringe transkulturelle Unterschiede auf, wohl aber größere Unterschiede hinsichtlich der Schmerztoleranz, wie dies am Beispiel der Geburtsschmerzen deutlich wird.
Das Schmerzempfinden besteht nicht nur aus einer sensorischen Komponente, sondern beinhaltet auch kognitiv-bewertende affektive Aspekte. Die affektive und kognitive Bewertung ist nicht nur abhängig vom Schmerzreiz, sondern unterliegt komplexen Einflüssen aus der gesamten psychophysischen Entwicklung einschließlich bestehender Lernprozesse und der frühkindlichen Entwicklung. Von einer linearen Beziehung zwischen Reizstärke und Wahrnehmung einer Schmerzempfindung kann daher nicht ausgegangen werden [4].
Darüber hinaus sind symptomverstärkende Darstellungsformen zu beachten. Finden sich beispielsweise Hinweise für eine Simulation, bewusstes und ausschließliches Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken oder einer Aggravation, bewusste verschlimmernde bzw. überhöhte Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken? Simulation und Aggravation werden in der Begutachtung als eher selten auftretend beschrieben, häufig jedoch finden sich sogenannte Verdeutlichungstendenzen. Diese sind in der Begutachtungssituation durchaus als noch angemessen anzusehen, nicht mit Simulation oder Aggravation gleichzusetzen. Es ist der Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen zu überzeugen, besonders deutlich erfolgt dies bei eher desinteressiert erscheinendem Untersucher.
Hingegen versteht man unter einer Dissimulation die verringernde, herunterspielende Darstellung von Beschwerden, wie sie häufig im Rahmen der Begutachtung im Rechtsgebiet der Berufsunfähigkeit festzustellen ist. Die Unterscheidung der Begriffe ist jedoch operational ungesichert.
Im Weiteren soll auf 2 Diagnosen hingewiesen werden, mit denen der orthopädisch-unfallchirurgische Gutachter häufig konfrontiert ist: die Ermittlung als Vollbeweis, aber auch die differenzialdiagnostische Abgrenzung, was durchaus nicht trivial ist.