Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016
Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von SchmerzOrthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain
Mit dem 2009 in die ICD-10-GM eingeführten Code F45.41 können chronische Schmerzen als biopsychosoziale Störungen angemessen diagnostiziert werden. Mit dieser Diagnose ist eine Voraussetzung für die Indikationsstellung zur interdisziplinären Therapie geschaffen worden. Die diagnostische Abgrenzung von ähnlichen Störungen und die Codierung von Komorbiditäten sind unentbehrlich und werden im Weiteren erläutert [5].
Die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren bezieht sich auf Schmerzen, die durch einen somatischen Krankheitsfaktor ausgelöst und i.d.R. aufrechterhalten werden oder bei denen ein somatischer Auslösefaktor und eine ebensolche Aufrechterhaltung sehr wahrscheinlich sind. Zusätzlich liegen jedoch auch psychologische Faktoren vor, die für das Krankheitsverständnis und/oder die Behandlung von Relevanz sind. Diese Diagnose kann für alle chronischen Schmerzformen zutreffen; die beteiligten psychischen Faktoren sind durch syndromspezifische Besonderheiten geprägt. Beispiele für somatische Auslösefaktoren sind: Erkrankungen oder Funktionsstörungen des muskuloskelettalen Systems (Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke) sowie pathologische Veränderungen des Nervensystems (periphere Prozesse, zum Beispiel Polyneuropathie; zentrale Veränderungen, zum Beispiel nach Apoplexie). Mischformen und somatische Veränderungen unklarer Genese (zum Beispiel CRPS – früher M. Sudeck) zählen ebenfalls zu den typischen Auslösern. Pathologische somatische Befunde, die mit den Schmerzen zusammenhängen, sind durch geeignete diagnostische Verfahren, zum Beispiel Labortests, QST oder bildgebende Verfahren) zu erheben. Somatische Faktoren können auch durch körperliche Untersuchung und/oder Anamnese bestätigt werden, wenn keine objektiven Befunde vorliegen. Hinsichtlich Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung haben psychische Faktoren eine wesentliche Bedeutung, die positiv identifiziert werden müsse.
Der ursprünglich auslösende somatische Faktor wurde diagnostiziert (zum Beispiel Herpes zoster, Bandscheibenvorfall mit passender Schmerzlokalisation), wurde aufgrund von Anamnese und Untersuchungen identifiziert (zum Beispiel Muskelhartspann bei Lumbago) oder entspricht einem bekannten Krankheitsbild, bei dem positive Befunde nicht bekannt sind (z.B. Migräne, Kopfschmerz vom Spannungstyp).
Aufrechterhaltende psychische Faktoren sind ebenfalls genau zu identifizieren, mindestens 2 der nachfolgenden psychischen Faktoren müssen vorliegen:
„Stress“ und Belastungssituationen, ggf. in Verbindung mit ungünstigen psychischen Verarbeitungsprozessen, führen zu einer Beeinflussung des Schmerzerlebens.
Auf Verhaltensebene haben sich auf der Grundlage schmerzbezogener Angst (in der Regel ohne den Kriterien einer Angststörung zu entsprechen) zunehmende Passivität, Schon- und Fehlhaltungen und daraus resultierende körperliche Dekonditionierung entwickelt. Auch Durchhaltestrategien als dysfunktionale Verhaltensmuster können zur Aufrechterhaltung beitragen.
Es bestehen maladaptive Kognitionen in Form von gedanklicher Einengung auf das Schmerzerleben, Katastrophisieren von Körperempfindungen und Krankheitsfolgen, Grübeln über schmerzassoziierte Inhalte und rigide Attribution der Ursachen auf organische Faktoren.
Ausgeprägte emotionale Belastungen sind nachweisbar, z.B. Verzweiflung oder Demoralisierung. Wenn die Kriterien einer Depression oder Angststörung erfüllt sind, so ist dies zusätzlich zur Diagnose F45.41 zu kodieren. Ausschließlich im Rahmen von Depression oder Angststörungen auftretende Schmerzen dürfen nicht als F45.41 kodiert werden.
Familiäre, soziale und existenzielle Konsequenzen: Die Überzeugung, körperlich nicht mehr belastbar zu sein, hat zu veränderten Rollen in der Familie geführt, ist mit reduzierten Kontakten im Freundeskreis (sozialer Rückzug) und zunehmenden Problemen im Beruf (Krankschreibung, Kündigung, vorzeitige Berentung) verbunden.
Zur Abgrenzung von dem mit den Kriterien zu definierenden Krankheitsbild sind differenzialdiagnostische Überlegungen zu treffen. So sind Schmerzsyndrome ohne Krankheitswert abzugrenzen, ebenso akute Schmerzsyndrome, wobei im Falle des hier beschriebenen Krankheitsbilds die Chronifizierung über eine Erkrankungsdauer von mehr als 6 Monaten quantifiziert wird. Chronische, rein körperlich bedingte Schmerzsyndrome sind hier ebenso nicht zu untergliedern, wie eine somatoforme Schmerzstörung, auf die im Weiteren noch eingegangen wird. Gleiches gilt auch für eine Somatisierungsstörung oder eine undifferenzierte Somatisierungsstörung, Depression, Angststörung, andauernde Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerzsyndrom (F62.80) sowie psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (F54). Die zuletzt genannten Krankheitsbilder sind bei Vorliegen entsprechender Kriterien gesondert zu diagnostizieren.
Der Anspruch an den medizinischen Sachverständigen ist hier, mit entsprechender Trennschärfe und unter Berücksichtigung der beschriebenen Kriterien, Klarheit über das zu beschreibende und konkret vorliegende Krankheitsbild zu schaffen. Im gutachterlichen Kontext ist die Diagnose nur dann zu ermitteln, wenn sie als Vollbeweis vorliegt.
b) Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Die im ICD-10 mit F45.4 kodierte Schmerzstörung ist die anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Hierunter versteht man ein Krankheitsbild, bei dem die vorherrschende Beschwerde ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz ist, der durch einen psychologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, die schwerwiegend genug sein sollten, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können. Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder medizinische Hilfe und Unterstützung. Schmerzzustände mit vermutlich psychogenem Ursprung, die im Verlauf depressiver Störungen oder einer Schizophrenie auftreten, sollten hier nicht berücksichtigt werden.
Aufgrund der fehlenden Objektivierbarkeit der Beschwerden steht für Proband und Untersucher während der Begutachtungssituation die Frage der Glaubhaftigkeit immer mit im Raum. Abzugrenzen ist von einer Simulation oder Aggravation, die auch willentlich gesteuert ist, von einer Somatisierung, die unbewusst und somatoformen Symptomen einhergehen. Von besonderer Bedeutung ist es für Krankheitsbilder der seelischen Gesundheit, Kriterien zur Beurteilung der psychosozialen Situation des Probanden zu erfassen. Mit wem lebt der Proband zusammen (Partner, Eltern, Kinder, Tiere), wo lebt er (eigenes Haus, Eigentumswohnung, Mietwohnung), in welchen Lebensbereichen partizipiert er (Vereine, Selbsthilfegruppen, ehrenamtliche Tätigkeiten, Freunde und Bekannte), was sind Hobbys und Interessen (Heimwerken, Gartenarbeit, Wohnwagen, Sport, Kirchenchor, Fernsehen), welche Arbeiten im oder am Haus übernimmt er (Reinigung der Wohnung, Einkaufen, Kochen, Abwasch, Gartenarbeit), welche Art von Urlaub hat der Proband in den letzen Jahren gemacht?