Übersichtsarbeiten - OUP 04/2016
Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung unter besonderer Berücksichtigung von SchmerzOrthopaedic and trauma surgery assessment with special consideration of pain
Zur Ermittlung von Glaubhaftigkeitsmerkmalen bietet sich unter Umständen auch ein Perspektivwechsel als Teil der präzisierenden Exploration an. Abzugrenzen sind hier Simulationshinweise von Realkennzeichen: Sind die Aussagen des zu Begutachtenden allgemein, plakativ, undifferenziert, stereotyp oder aber detailreich, mehrdimensional, differenziert und logisch konsistent? Auch die Exploration des Tages- und Wochenablaufs, eine präzisierende Nachfrage durch Detailanalyse, wird erforderlich sein. Dabei finden sich bei somatoformen Störungen typische biografische Konstellationen, die ermittelt werden können. Hierzu gehören Sozialisationserfahrungen und Entbehrungen in der Biographie, problematische Partnerschaften, zum Beispiel Alkoholproblem des Partners, Kriege und Umweltkatastrophen in der Biografie, traumatische Erfahrungen in der Kindheit oder in späteren Lebensabschnitten ebenso wie eine familiäre Häufung. Darüber hinaus finden sich typische Merkmale verschiedener Dimensionen, so beispielsweise in Bezug auf das Verhalten, das Checking von Körperteilen und Körperreaktionen, Vermeidung einer körperlichen Belastung, Suche nach Rückversicherung über die Gutartigkeit der Beschwerden, das Drängen auf medizinische Untersuchungen, ein häufiger Arztwechsel im Sinne von „doctor shopping“, eine Beeinträchtigung am Arbeitsplatz und in der Freizeit. In Bezug auf kognitive Merkmale findet sich typischerweise ein organisches Krankheitsmodell und traumatisierende Bewertungen von Körperempfindungen, ein enger Gesundheitsbegriff, ein negatives Selbstkonzept und eine geringe subjektive Stresstoleranz. Typische emotionale Merkmale sind das Gefühl der Angst und des Bedrohtseins, zu den körperlichen Merkmalen gehört eine körperliche Dekonditionierung, muskuläre Anspannung, Schwitzen und Blutdruckschwankungen.
Aus Sicht des Sachverständigen bietet sich hier als Instrument der Differenzierung die Checkliste Glaubhaftigkeitskriterien bei somatoformen Störungen nach Rauh, Svitak und Grundmann an. Unterschieden wird hier zwischen Realkennzeichen und Simulationshinweisen [6].
Zu den Realkennzeichen werden gezählt:
Logisch konsistente Symptombeschreibung, detailreich, mehrdimensional und differenziert.
Psychodynamisch nachvollziehbare Krankheitsentwicklung unabhängig von beruflichen Konflikten und vom Rentenverfahren.
Funktionelle Einschränkungen in der Untersuchungssituation feststellbar, konsistent zur Diagnoseschwere und plausibel.
Beschwerdeschilderung mit Leidensdruck und Hilfserwartung.
Vorbefunde dokumentieren hohes Inanspruchnahmeverhalten.
Dem gegenüber gestellt werden Simulationshinweise:
Undifferenzierte Symptombeschreibung: allgemein, plakativ mit stereotyper Symptomdarstellung.
Abrupter Beginn somatoformer Beschwerden mit rascher Entwicklung eines Renten- oder BU-Antrags.
Präsentation erheblicher Behinderungen („ich kann nur 5 Minuten arbeiten, dann breche ich zusammen“), nicht im Einklang mit Verhaltensbeobachtung und klinischem Befund. Oder: Für das Krankheitsbild klinisch untypisch und daher nicht plausibel.
Symptomfokussierung verbunden mit Einengung auf Krankheitsgewinn.
Geringe Behandlungsaktivitäten.
Zusammenfassung
Die Begutachtung orthopädisch-unfallchirurgischer Krankheitsbilder unter besonderer Berücksichtigung von Schmerz kann nicht schematisch erfolgen. Sie muss stets auf den Einzelfall ausgerichtet sein und die gesamte biografische Anamnese mit einbeziehen, z.B. auch die tatsächlich durchgeführten Therapiemaßnahmen und deren Ergebnis, Auswirkungen auf Alltagsaktivitäten sind so genau wie möglich zu ermitteln. Weiterhin ist dann eine Beurteilung des Schweregrads zur Störung ebenso durchzuführen wie eine Abgrenzung gegenüber Aggravation und Simulation. Ebenso wird sich die Frage verbleibender Partizipationsmöglichkeiten und Prognose stellen. Nachvollziehbar und unter Berücksichtigung geeigneter Instrumente ist die Überprüfung der Konsistenz vorzunehmen, die Diagnosen unter Berücksichtigung geltender ICD-Kriterien und Kodierungshilfen als Vollbeweis zu ermitteln. Leitlinien geben Hinweise zur strukturierten Durchführung, zu nennen ist hier insbesondere die Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (AWMF-Registernummer 030/102). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane sehr häufig mit psychischen Komorbiditäten einhergehen, diese gilt es zu erfassen. Darüber hinaus sind Erkrankungen der seelischen Gesundheit, die mit Schmerzen einhergehen, ebenfalls von höchster Relevanz für das Fachgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie und deren Begutachtung, hier sind es vor allen Dingen die somatoformen Störungen, die differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind. Sämtliche Klassifikationen leiden immer noch an einer terminologischen Unschärfe, der vorgelegte Beitrag möchte hier Hilfestellung leisten, die häufig vorkommenden Krankheitsbilder mit hinreichender Trennschärfe zu erfassen oder auszuschließen.
Interessenkonflikte: Keine angegeben
Korrespondenzadresse
Dr. med. Stefan Middeldorf
Schön Klinik Bad Staffelstein
Am Kurpark 11
96231 Bad Staffelstein
SMiddeldorf@schoen-kliniken.de
Literatur
1. 094/001 S2k-Leitlinie: Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung, aktueller Stand 07/2013.
2. AWMF-Leitlinien-Register-Nr. 030/102 Entwicklungsstufe 2k: Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen.
3. WidderB: Schmerzsyndrome. In: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. 7. aktualisierte Auflage. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag 2003, 2011, 612–613
4. Gralow I, Crede S, Schneider E: Psychologische Diagnostik. Praktische Schmerzmedizin. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag 2013, 59–65
5. Nilges P: Schmerz 2010. 24: 209–212
6. Rauh E, Svitak M, Grundmann H: Handbuch Psychosomatische Begutachtung. Berlin: Urban & Fischer Verlag 2008
Fussnoten
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