Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Stephan Grüner, Marcela Lippert-Grüner

Zusammenfassung:
Botulinumtoxin wurde vor über 30 Jahren als Medikament eingeführt, das Indikationsspektrum hat sich seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Mittlerweile existiert eine Reihe von Indikationen im Bereich Augenheilkunde, HNO, Neurologie, Urologie und fachübergreifenden Gebieten. Das Toxin ist das stärkste bekannte Gift, das klinische Erscheinungsbild einer Vergiftung wird Botulismus genannt mit verschiedenen Entstehungsformen, klinischen Symptomatiken und Prognosen. Hierbei handelt es sich um ein Exotoxin, vorwiegend von Clostridium botulinum produziert. Der Wirkmechanismus besteht in der strukturell irreversiblen und durch Neuausbildung zeitlich befristeten Blockade der Freisetzung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt an der motorischen Endplatte und am Drüsengewebe. Neueren Datums sind Erkenntnisse, dass für die Reizweiterleitung relevante Stoffe wie v.a. CGRP gehemmt werden, mit der Folge einer verringerten sensiblen Weiterleitung und damit auch der Reduktion der peripheren und nachfolgend der zentralen Schmerzsensibilisierung. In der EU erhältlich sind vorrangig 3 verschiedene Toxintypen mit unterschiedlichen zugelassenen Indikationen, ein 4. Typ wurde jetzt in den Vertrieb genommen, ein 5. Typ besitzt die Zulassung. Gerade für einen In-Label-Use ist zu beachten, dass nicht alle Präparate für alle Indikation zugelassen sind, manchmal existieren noch weitere Begrenzungen, die Zulassung kann sich auch bei identischen Präparaten länderspezifisch unterscheiden. Daneben werden diese Präparate auch außerhalb der Zulassung angewendet (Off-Label-Use). Die Anwendung kann dann infrage kommen, wenn die herkömmlichen Therapien nicht erfolgreich, mit größeren Nebenwirkungen behaftet oder kontraindiziert sind. Hierbei handelt es sich einerseits um Therapien mit den offiziellen Zulassungen ähnlicher Indikationen, aber auch um Anwendungen in anderen Bereichen. Die Indikationsstellung wird umso leichter, je besser sich die wissenschaftliche Basis darstellt. Hierbei kann man im orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutischen Bereich 3 Gruppen unterscheiden. Sinnvolle Indikation sind myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schulterregion inkl. Cervikocephalgien, Epikondylitis humeroradialis, Plantarfasciitis und Trigeminusneuralgie. Mögliche Indikationen mit eingeschränkter wissenschaftlicher Basis sind myofasziale Triggerpunkte im Bereich LWS, Bruxismus, Postzosterneuralgie, extraartikuläre Muskelentspannung bei Coxarthrose und vorderem Knieschmerz, Gonarthrose, Schulteraffektionen und Spannungskopfschmerzen. Einzelfallindikationen sind u.a. Achillessehnenruptur, Morton-Neurom, diabetische Neuropathie, Reizzustände nach Knieendoprothese, Stumpfschmerzen und Anpassungsprobleme bei Exoprothesen. Basis für die Anwendung von Botulinumtoxin ist eine ausreichende Ausbildung, hier existiert eine spezielle Kursserie der IGOST.

Schlüsselwörter:
Botulinumtoxin, Orthopädie, Schmerztherapie, Off-Label-Use

Zitierweise:
Grüner S, Lippert-Grüner M: Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin
OUP 2023; 12: 213–222
DOI 10.53180/oup.2023.0213-0222

Summary: Botulinum toxin was introduced as a drug over 30 years ago, and the range of indications has developed continuously since then. There are now a number of indications in ophthalmology, ENT, neurology, urology and interdisciplinary. The toxin is the strongest known poison, the clinical appearance of a poisoning is called botulism, with different forms of development, clinical symptoms and prognoses. This is an exotoxin, predominantly produced by Clostridium botulinum. The mechanism of action is the structurally irreversible and temporary blockade of the release of acetylcholine into the synaptic cleft at the motor endplate and glandular tissue. More recent findings indicate that substances relevant for stimulus transmission, such as CGRP in particular, are inhibited, with the consequence of reduced sensitive transmission and thus also a reduction in peripheral and subsequently central pain sensitization. Three different toxin types with different approved indications are primarily available in the EU, a 4th type has now been put on the market and a 5th type has been approved. Especially for an in-label use it has to be considered that not all preparations are approved for all indications, sometimes there are further limitations, the approval can differ country specific even for identical preparations. In addition, these preparations are also used outside of the approval (off-label use). Off-label use may be considered when conventional therapies are unsuccessful, have major side effects, or are contraindicated. On the one hand, these are therapies with indications similar to the official approvals, but also applications in other areas. The better the scientific basis, the easier it is to determine the indication. In this context, three groups can be distinguished in the orthopedic-accident surgery-pain therapy area. Possible indications are myofascial trigger points in the cervical spine and shoulder region, including cervicocephalgia, epicondylitis humeroradialis, plantar fasciitis and trigeminal neuralgia. Possible indications with limited scientific basis are myofascial trigger points in the lumbar spine, bruxism, post zoster neuralgia, extraarticular muscle relaxation in coxarthrosis and anterior knee pain, gonarthrosis, shoulder afflictions and tension-type headache. Individual case indications include Achilles tendon rupture, Morton‘s neuroma, diabetic neuropathy, post knee arthroplasty irritation, residual limb pain and fitting problems with exoprostheses. The basis for the application of botulinum toxin is a sufficient training, here exists a special course series of the IGOST.

Keywords: Botulinum toxine, orthopedic, pain therapy, off-label use

Citation: Grüner S, Lippert-Grüner M: Useful and possible orthopedic-traumatological-pain therapeutic
indications of botulinum toxin
OUP 2023; 12: 213–222. DOI 10.53180/oup.2023.0213-0222

S. Grüner: Praxis Dr. Grüner, Köln

M. Lippert-Grüner: Klinik für Rehabilitationsmedizin Universitätskrankenhaus Královské Vinohrady, CZ & Medizinische Fakultät Karls-Universität Prag, CZ

Einleitung

Nach der Einführung von Botulinumtoxin als Medikament vor über 30 Jahren hat sich das Indikationsspektrum kontinuierlich immer weiterentwickelt. Bisher war die Substanz vor allem in der Behandlung von neurologischen Erkrankungen und auch bei Anwendungen in der ästhetischen Medizin bekannt, obwohl die ersten therapeutischen Behandlungen im Bereich der Augenheilkunde beim Strabismus erfolgten [1, 2]. Botulinumtoxine sind Gifte, der Subtyp A ist das stärkste bekannte Toxin. Die Wirkstoffe sind Exotoxine, meist des stäbchenförmigen anaeroben Bakteriums Clostridium botulinum, welche in verschiedenen Subformen existieren. Gängig ist die Einteilung in die Typen A–G, in manchen Literaturquellen wird – wissenschaftlich umstritten – auch ein Typ H postuliert [3], weitere Unterteilungen benennen ca. 40 Subtypen [4–6]. Die meisten Typen sind human- und/oder tierpathogen (z.B. Fische, Hühner, Pferde, Rinder und Wasservögel), bei manchen Typen ist die Pathogenität nicht bekannt, in manchen Fällen produzieren die Bakterien gleichzeitig auch verschiedene Typen von Botulinumtoxinen [7], mittlerweile ist auch die Bildung von Botulinumtoxin von anderen Clostridienarten bekannt [4, 8]. Bei zu hoher Exposition eines Organismus mit Botulinumtoxinen kommt es zu einem Botulismus genannten klinischen Bild mit variabler Ausprägung und potenziell letalem Ausgang. Botulinumtoxin ist auch als Waffe denkbar und wird als biologisches Kampfmittel eingestuft, in den USA sogar in die höchste Gefährdungsstufe für die nationale Sicherheit [9–12].

Historisches

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