Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Die Vergiftung existiert vermutlich seit Jahrhunderten, die ersten dokumentierten Fälle werden auf das Jahr 1735 datiert [13], die erste systematische Beschreibung erfolgte 1817 durch Justinus Kerner [14–20]. 1820 erschien von ihm eine erste Monografie mit 76 Fällen und 1822 eine weitere Monografie mit 155 Fällen, in welcher er auch erste Überlegungen zu therapeutischen Anwendungen anstellte [14, 16, 19]. Er erkannte bereits, dass es sich um eine Vergiftung handelt, welche unter anaeroben Bedingungen entstand, Lähmungen hervorrief und potenziell tödlich ausging. Der Auslöser der Vergiftung war ihm noch nicht bekannt, er vermutete toxisch wirksame Fettsäuren. Die Namensgebung Botulismus stammt aus Arbeiten von Rupprecht und Müller um 1878 und leitet sich von dem lateinischen Wort „Botulus“ (Wurst) ab, basierend auf der Tatsache, dass viele Vergiftungen nach dem Verzehr von Würsten auftrat [19]. Der Nachweis der Quelle des Toxins, das Clostridium botulinum, erfolgte 1897 durch van Ermengen [6, 14, 19, 21]. Burke konnte 1919 im Tierversuch erste letale Minimaldosen bestimmen und die Toxine erstmalig in verschiedene Subtypen A und B differenzieren [13]. Im Verlauf weiterer Jahrzehnte konnten weitere Toxintypen identifiziert werden [16], bis zuletzt 2013 der (umstrittene neue) Typ H [3, 7]. Die Typen E–G werden von anderen Clostridienarten gebildet [22].

Wirkmechanismus [1]

Der bekannteste Wirkmechanismus von Botulinumtoxin wurde erstmalig 1949 von Burgen beschrieben, hierbei kommt es zu einer irreversiblen Hemmung der präsynaptischen Ausschüttung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt mit der Folge einer motorischen Lähmung bzw. einer Hemmung von sekretorischen Drüsen. Nach einer gewissen Zeit bilden sich die entsprechenden gehemmten Strukturen wieder neu aus, die ursprüngliche Funktion setzt wieder ein. Hieraus erklärt sich der klinische Aspekt der motorischen und sekretorischen Abschwächung. In den letzten ca. 20 Jahren wurden zunehmend auch weitere Mechanismen bekannt, ausgehend von der Erkenntnis, dass sich nachweisbare Effekte mit diesem Wirkmechanismus nicht erklären lassen. Es ergeben sich Hinweise darauf, dass Botulinumtoxin auch auf den sensorischen Schenkel der Reizverarbeitung wirkt, hier mit Hemmung von verschiedenen relevanten Stoffen, am wichtigsten hier das Calcitonin Gene Related Peptide CGRP. Somit kommt es zur Hemmung der sensiblen Weiterleitung und, schmerztherapeutisch relevant, zur Reduktion der peripheren und nachfolgend auch der zentralen Sensibilisierung. Ein interessanter Befund hierbei ist der Nachweis eines retrograden axonalen Transportes des Toxins. Somit lassen sich auch ansatzweise analgetische Effekte erklären, viele Aspekte dieses weiteren Wirkmechanismus sind jedoch noch ungeklärt.

Botulismus

Das Bakterium Clostridium botulinum ist ein strikter Anaerobier, welcher unter Lufteinfluss rasch zugrunde geht [23]. Von diesem Bakterium existieren jedoch auch sehr stabile und ubiquitär vorkommende Sporenformen. Es ist als solches für den Menschen zunächst harmlos, gefährlich sind die gebildeten und sekretierten Exotoxine, Übertragungen vom Menschen zum Menschen sind nicht bekannt [23–25]. Die Erkrankung des Botulismus beim Menschen tritt vorwiegend bei den Typen A und B auf, Erkrankungen mit anderen Typen sind selten bzw. Raritäten [8, 26]. Bei manchen Typen ist nur eine Tierpathogenität, nicht aber eine Humanpathogenität bekannt, bei einzelnen anderen Typen ist die Pathogenität generell nicht geklärt (Tab. 1) [6].

Die am häufigsten vorkommenden Formen des Botulismus sind der Nahrungsmittelbotulismus sowie der Säuglingsbotulismus, dies jedoch weltweit unterschiedlicher Ausprägung. Während in Europa tendenziell häufiger die Nahrungsmittelform auftritt, ist tendenziell in Nordamerika die Säuglingsform häufiger. Botulismus gilt als Krankheit mit hoher Letalität, aber geringer Inzidenz [27]. Beim Nahrungsmittelbotulismus bilden die Bakterien vor der Aufnahme mit der Nahrung Toxine, welche die Vergiftung hervorrufen. Bekannt ist dies vor allem in Fleischwaren wie Würsten oder Schinken oder auch in Nahrungsmittel in Konserven [27]. Beim Wundbotulismus erfolgt die Toxinproduktion in kontaminierten Wunden, speziell ebenfalls unter Luftabschluss. Beim infantilen und beim Säuglingbotulismus handelt es sich um meist milde verlaufende Sonderformen des Nahrungsmittelbotulismus, bei welchem Bakterien oder deren Sporen mit der Nahrung aufgenommen werden und dann im Darm Toxine bilden [13]. Aus diesem Grund sollte man Säuglinge bis zum Ende des ersten Lebensjahres keine honighaltige Nahrung geben, da hier natürlicherweise Sporen enthalten sind. Eine ähnliche Sonderform stellt der intestinale Botulismus dar, hier die Kolonisation und Toxinbildung im Darm bei Betroffenen mit schweren gastrointestinalen Störungen oder auch längerer antibiotischer Behandlung.

Als nicht natürliche Formen des Botulismus sind aerogene und iatrogene Entstehungen zu benennen. Die aerogene Entstehung wurde zumindest tierexperimentell nachgewiesen, ebenfalls bekannt sind erfolglos verlaufende Versuche mit terroristischem Hintergrund. Iatrogene Formen sind in der Regel sehr selten, da die Dosierung in den als Medikament erhältlichen Präparaten in der Regel hierfür zu gering ist. Europaweit trat diese Vergiftung relativ konstant mit einer Frequenz von ca. 100 Fällen pro Jahr in der EU und assoziierten Staaten auf [28], das Jahr 2023 wird hier vermutlich eine Ausnahme bilden, da eine Vielzahl von iatrogenen Fällen vor allem aus der Türkei bei der Applikation von Botulinumtoxin in die Magenwand zum Zweck der Motilitätsminderung mit dem Ziel der Gewichtsabnahme bekannt wurden [29, 30]. Die Mortalität ist beim Typ A am größten, und wird in der Literatur mit Werten von 8–15 % angegeben [31].

Das klinische Bild ist gekennzeichnet durch die als pathognomonisch geltenden 5 „D“ Doppelbilder, Dysarthrie, Dysphonie, Dysphagie und Dyspnoe [21, 22]. Binnen Stunden oder weniger Tage, beim Wundbotulismus auch nach 1–2 Wochen, kommt es zu einer motorischen Lähmung inkl. der Atemmuskulatur, jedoch ohne Bewusstseinseintrübung und ohne Fieber [25], im Extremfall ersticken die Betroffenen bei vollem Bewusstsein. Die Nahrungsmittelformen und Vergiftungen mit dem Typ A sind in der Regel aggressiver im Verlauf als die anderen Formen. Die besondere Problematik besteht in der Erkennung der Vergiftung, da diese einerseits sehr selten ist und andererseits in den Erstsymptomen einer Vielzahl von häufig auftretenden Differenzialdiagnosen ähnelt. Laborchemisch stehen mittlerweile eine Reihe von Diagnoseverfahren zur Verfügung, welche in Speziallaboren durchgeführt werden können. Therapeutisch zielen die Bestrebungen – soweit möglich – zunächst auf die Elimination oder zumindest die Reduktion der toxinproduzierenden Bakterien ab. Beim Wundbotulismus besteht die Therapie in einer antibiotischen Behandlung und der chirurgischen Wundöffnung. Es existieren eine Reihe von Antitoxinen, deren Verfügbarkeit mitunter schwierig sein kann, für milde verlaufende Formen wird der Einsatz bei einem nicht zu unterschätzenden Allergierisiko teilweise kritisch gesehen. In fulminanten Fällen ist eine intensivmedizinische Betreuung und ggf. sogar die Beatmung notwendig, die Rekonvaleszenz kann sich über viele Monate bis Jahre erstrecken, Dauerschäden sind in der Regel nicht zu erwarten.

Botulinumtoxin als
Medikament

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