Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Nach ersten Tierversuchen [32] erfolgten die ersten Humanversuche 1977 durch Scott [2]. Die erste Teilzulassung des ersten Präparates in den USA erfolgte 1984 für das Präparat Onabotulinumtoxin, die Vollzulassung für Strabismus, Blepharospasmus und Spasmus hemifacialis erfolgte 1989 [2, 16, 19, 33], danach war das erste Präparat auch rasch in Europa erhältlich. Nachfolgend wurden weitere Substanzen zugelassen (Abobotulinumtoxin, Incobotulinumtoxin). Hierbei handelt es sich fast ausschließlich um verschiedene Formen des Botulinumtoxin Typ A in sehr hoher Verdünnung. In der EU sind im Wesentlichen 3 verschiedene Typen erhältlich, kürzlich kam noch ein 4. Typ aus Südkorea hinzu, ein 5. Typ aus den USA besitzt die Zulassung, Stand Juni 2023 jedoch (noch) nicht erhältlich, diese beiden Typen sind jedoch in ihren Heimatländern schon lange auf dem Markt etabliert [34–36]. Zwei der drei schon länger in Europa erhältlichen Präparate werden – sonst identisch – jeweils unter 2 verschiedenen Handelsnamen zur Behandlung von verschiedenen Diagnosen bzw. zur Anwendung in der ästhetischen Medizin von der jeweils gleichen Firma vertrieben. Beim 3. Präparat verhält es sich analog, wobei die beiden Produktlinien von verschiedenen Firmen vertrieben werden. Das neue südkoreanisches Präparat ist zunächst in Europa nur für die ästhetische Medizin zugelassen, in anderen Ländern jedoch auch für andere Indikationen wie z.B. der infantilen Zerebralparese [37]. Das 5. Präparat ist ausschließlich für Anwendungen der ästhetischen Medizin zugelassen. Weltweit ohne aktuelle Zulassung in der EU existieren noch eine Reihe anderer Botulinumtoxine [36, 38]. Weiter zugelassen war auch noch ein weiterer Typ Botulinumtoxin Typ B als Medikament, welches jedoch keine große Rolle spielte, auch bedingt durch nur eine einzige In-Label-Indikation. Die Botulinumtoxine des Typs A sind im Kern identisch, die einzelnen Präparate unterscheiden sich unter anderem in den Hüllproteinen. Die Wirksamkeit der verschiedenen Präparate ist bei Dosisäquivalenz in der Regel ähnlich, ebenso in der Regel auch die Wirkdauer, wobei jedoch erste Hinweise existieren, dass bei einzelnen Indikationen sich doch Unterschiede zwischen einzelnen Präparaten ergeben können. Bei den meisten Präparate muss eine Kühlkette eingehalten werden. In seltenen Fällen mit einer Häufigkeit von ca. 1 % muss mit neutralisierenden Antikörpern gerechnet werden, wobei dies bei einem Typ bisher nicht bekannt ist und nicht zwangsläufig auch klinisch wirkt [4, 26, 39]. Die Präparate werden in Glasflaschen als Trockenpulver ausgeliefert (Abb. 1) und müssen vor der Anwendung mit physiologischer Kochsalzlösung aufgelöst werden. Seit kürzerer Zeit existiert auch ein Präparat zur Anwendung in der ästhetischen Medizin als Fertigpräparat.

Botulinumtoxin –
zugelassene Indikationen

Indikationsstellung

Bei den Indikationen muss man immer überprüfen, ob die jeweilige Indikation auch im jeweiligen Land zugelassen ist, diese sind für die 3 Hauptvertreter in der Regel zwar ähnlich, aber nicht immer identisch. Die Anwendung in Deutschland ist gemäß den aktuellen Fachinformationen nicht alleine an eine bestimmte Facharztqualifikation gebunden, sondern lediglich an die humanmedizinische Approbation, eine nicht näher definierte Fachkenntnis wird jedoch gefordert. Die Anwendung von Botulinumtoxinen durch nicht-ärztliches Personal oder durch Zahnärzte ohne humanmedizinisches Studium ist in Deutschland nicht zulässig. Eine Anwendung von Botulinumtoxin zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist neben der offiziellen Zulassung des jeweiligen Präparates für die jeweilige Indikation zudem an eine Reihe von weiteren Bedingungen geknüpft, so sind Präparate zur Behandlung in der ästhetischen Medizin zwar offiziell zugelassen, aber keine Leistung der GKV [40].

Eine Aufstellung der in Deutschland zugelassenen Indikationen, Stand Juni 2023, ist in Tab. 2 dargestellt. Hierbei ist nochmalig zu betonen, dass nicht alle Präparate für alle Indikationen zugelassen sind, für manche Präparate gelten zusätzlich bei sonst gleicher Indikation weitere Einschränkungen, die jeweils gültige Fachinformation ist vor der Anwendung zu konsultieren. Eine Nichtbeachtung der weiteren Einschränkungen kann zum Off-Label-Use führen, mit möglicher Regressgefahr bei Anwendung zulasten der GKV (Tab. 2) [36].

Dosierungen,
Anwendungsfrequenz und
Anwendungsdauer

Bei manchen Indikationen wie z.B. Spastiken oder chronischer Migräne bedarf es in der Regel einer regelmäßigen Behandlung, in anderen Fällen kann eine einmalige oder eine niederfrequente Behandlung ausreichen. Führt die erste Behandlung nicht zum gewünschten Therapieerfolg, bedarf es der Überprüfung der Indikation und der Durchführung, die 2. oder spätestens die 3. erfolglose Therapie sollte zu einem Abbruch führen. Je nach Indikation existieren Nonresponder, so sprechen bspw. ein Drittel der Betroffenen mit chronischer Migräne nicht auf eine Therapie mit Onabotulinumtoxin an [41]. Es stellt sich auch die Frage, ob die richtigen Stellen in der richtigen Dosierung infiltriert wurden. Eine zu geringe Dosis erbringt in der Regel einen verringerten Therapieerfolg, eine zu hohe Dosis z.B. eine unerwünschte oder zu starke muskuläre Abschwächung. In seltenen Fällen bestehen auch Antikörper, die Frage nach einer Existenz einer natürlichen Immunität auf Botulinumtoxine ist noch nicht abschließend geklärt. Gerade im schmerztherapeutischen Bereich ist die lokale Behandlung einer somatoformen Schmerzstörung oder einer Fibromyalgie oft frustran, wobei die Möglichkeit einer Koexistenz mit einem lokalen Problem zu beachten und im Einzelfall auch aufzuklären ist. Bei der lokalen Injektion ist ferner die jeweilige Dosierung vor Ort in Abhängigkeit vom Injektionsvolumen und der Verdünnung zu beachten. Die Menge der Kochsalzlösung beeinflusst das spätere Injektionsgeschehen: Eine größere Menge bedeutet bei gleichen Injektionsvolumina eine geringere Konzentration vor Ort und umgekehrt; eine unterschiedliche Ausbreitung der Präparate (Diffusionsverhalten) ist Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.

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