Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2013
Wir und unser FachFestrede des Präsidenten zum VSOU-Kongress 2013 Baden-Baden
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Festgäste, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ein weltberühmtes, späthellenistisches Meisterwerk in den Vatikanischen Museen zeigt Laokoon und seine Söhne von bösen Schlangen überfallen im Todeskampf. Der Apollon-Priester hatte, nachdem die Griechen vor Troja abgezogen waren, laut davor gewarnt, das Pferd in die Stadt zu ziehen, das die zähen Belagerer am Strand zurückgelassen hatten. Zornig hatte er seinen Speer gegen das Pferd geschleudert, wo er scheppernd von dessen hartem, hölzernem Körper abgeprallt sei, berichtet Vergil. Athene schickte daraufhin die Schlangen aus dem Meer, um Laokoon und seine Söhne zu töten. Der Mythos endet mit der Zerstörung Trojas.
Man könnte einen assoziativen Vergleich herstellen mit Vorgängen der jüngeren Vergangenheit: die Invasion der Unfallchirurgen in die Orthopädie – getarnt im Bauch des Pferdes als tödliches Schicksal? Natürlich kann dies nur eine metaphorische Überzeichnung sein; betrachtet man aber die tatsächlichen Veränderungen, die sich seither vollzogen haben, ist das Bild vielleicht gar nicht so abwegig.
Hat man z.B. nur die Entwicklung in der Versorgung der berufsgenossenschaftlichen Unfälle speziell im ambulanten Bereich im Auge, oder sieht man dahin, wo orthopädische Abteilungen ganz in unfallchirurgischen Kliniken aufgegangen sind, und bedenkt man die natürlicherweise dadurch entstandene Verschiebung in eine allein operative Schwerpunktbildung, wäre man geneigt, einem heutigen Laokoon recht zu geben.
Sein kleiner Sohn ist schon tot. Das ist vielleicht die Säuglingssonografie. Der Große wehrt sich noch verzweifelt, das ist vielleicht die elektive Primärendoprothetik, die vom Hausarzt direkt in die Allgemeinchirurgie übergeht und keinen Orthopäden und Unfallchirurgen mehr sieht. Das klingt heute noch sehr abwegig, aber wer hätte vor 30 Jahren geglaubt, dass die Bandscheiben-OP praktisch komplett in die Hand der Neurochirurgie wandern würde? Dass die Allgemeinchirurgie jetzt wieder verstärkt die Hand nach der Traumatologie ausstreckt, hat vielleicht auch mit der zunehmenden Spezialisierung bei uns zu tun. Jedenfalls ist es auch für unsere überwiegend operativ tätigen Kolleginnen und Kollegen keinesfalls angemessen, sich zurückzulehnen, und sich in Zeiten durchgreifender Veränderung sicher zu fühlen.
Das Ende von Troja war definitiv. Geblieben ist nur der Mythos.
Es steht heute vollkommen außer Zweifel, dass die Fusion von Orthopädie und Unfallchirurgie unausweichlich war und auch in Deutschland hat stattfinden müssen. Dies ist allein schon der europäischen Entwicklung geschuldet, innerhalb derer auch Deutschland gleichziehen musste, um dialogfähig zu bleiben.
Mein Beitrag soll auch keine einzige „ortalgische“ Träne enthalten. Es zählt allein der Blick nach vorn. Nach vorn geschaut hat auch Aeneas, Sohn der Aphrodite, die den ganzen Krieg herbeigeführt hatte. Er hat das rauchende Troja verlassen und mit seinem Vater Anchises auf den Schultern die Gestade Latiums erreicht. Dort legte er die Keimzelle für das bedeutendste Imperium der Menschheitsgeschichte, das noch heute wesentliche Details der westlichen Zivilisationsgeschichte mitgestaltet und mitbestimmt: Rom
Als Symbol für die zivilisatorischen Leistungen Roms steht Kaiser Augustus, der – bereits um das Jahr 0 – zwar keine allgemeine Krankenversicherung eingeführt, aber für die Gesundheit und Sicherheit seiner Bürger die Wasserleitungen erheblich ausgebaut, eine städtische Feuerwehr und regelmäßige Kornspenden eingerichtet hat. Die Spiele kamen erst viel später. Ein hochtrabender Vergleich mit Orthopädie und Unfallchirurgie? Er soll den Blick für die Chancen eröffnen, die aus dieser Zusammenführung und ihrer synergistischen Weiterentwicklung erwachsen.
Der schnelle Wandel ist Motto unserer Tagung
Es gibt kein Organ im menschlichen Körper, das einen so ganzheitlichen Ansatz erfordert wie das Bewegungsorgan, ist es doch das größte und – innerhalb der biologischen Systeme – am weitesten verzweigte. Es ist zusammen mit allen Nervensystemen das einflussreichste Organ bei der 3-dimensionalen Organisation des Menschen im Raum und bei der Homöostase. Das ist vielleicht der Grund, warum sich gerade im Umkreis des Bewegungsorgans, wie in keinem anderen Fach Laienheiler, Dorn-Therapeuten, Osteopathen, Chiropraktiker und Schamanen scharenweise auf die schmerzgeplagten Menschen stürzen. Sicher auch, weil die Schmerzen am Bewegungsorgan zu den häufigsten Störungen des Befindens und zu den häufigsten Funktionsstörungen in der Medizin überhaupt gehören. Zumindest bilden sie den konkurrenzlosen Spitzenreiter in der Statistik der AU-Tage! Oft sind sie aber auch Anzeichen ernster Erkrankungen, weshalb sie unter allen Umständen primär in die Hand des Facharztes gehören.
Gehen wir aus von dem Bild unserer lieb gewonnen, traditionellen Orthopädie und Unfallchirurgie vergangener Tage. Es ist bunt, facettenreich, spannend und herausfordernd. Orthopäde und Unfallchirurg zu sein, erzeugt jeden Tag eine besondere professionelle Motivation und ist eine Ursache substanzieller Lebensqualität.
Das deutsche Modell der Kombination aus Orthopädie und Unfallchirurgie hat historisch angestammte, nichtoperative Komponenten, die dem Fach in anderen europäischen Ländern längst verloren gegangen sind. Ist es sinnvoll und möglich, alle Inhalte der sogenannten konservativen Medizin am Bewegungsorgan im Fach behalten zu wollen? Ich meine ausdrücklich ja, auch wenn kaum zu erwarten ist, dass andere europäische Länder dahin zurückkehren. Aber was hindert uns daran, an den guten Dingen festzuhalten, ohne den operativen Fortschritt zu behindern?
Voraussetzung dafür ist, eine lebendige Facharztlandschaft, in der die verschiedenen Subspezialitäten unter dem großen Dach Orthopädie und Unfallchirurgie zusammen agieren, und dafür auch die verschiedenen Strukturen vorgehalten werden können und gelebt werden. Bedauerlicherweise sieht die Tagesrealität heute etwas anders aus.