Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2013

Wir und unser Fach
Festrede des Präsidenten zum VSOU-Kongress 2013 Baden-Baden

Noch können wir uns nicht vorstellen, wie die Informationsübergabe stattfinden wird und wie der gerade in der Medizin notwendige lineare Fluss von Information in einer Krankengeschichte durch häufig wechselnde Behandler gewährleistet werden soll. Teleradiologie, Ferndiagnostik, Telemedizin, sind Dinge, die selbstverständlich mit den Errungenschaften der modernen Elektronik Zeit und Raum überwinden. Warum soll es nicht möglich sein, auch die personale Fixierung hoch verantwortlicher Vorgänge durch hoch entwickelte Informationssysteme zu überwinden?

Zur Lösung der Zukunftsfrage gehört auch, dass ein junger Arzt, der sicher weiß, dass er konservativ arbeiten will, nicht die ganze große, operative Ausbildung durchlaufen muss, sondern schon früh die anderen Dinge lernen darf, ohne hinterher einen schlechteren Überblick über das Fach zu haben. Hier geht noch einmal mein lauter Appell an die Architekten der WBO!

Ausblick

Es kann gelingen, dass die Attraktivität des ärztlichen Berufs wieder ansteigt und die persönlich höchst motivierenden Seiten der ärztlichen Professionalität wieder erlebbar sein werden, ohne ständig am Rande des Burnouts dahin zu schrammen. Der ärztliche Beruf ist zu umfassend, zu erfüllend und zu wertvoll dafür, dass wir ihn nur als schwere, erschöpfende Belastung erleben und dass die Menschen, die sich an uns wenden, gestresste, abgearbeitete Ärzte ohne Zeit vor sich sehen.

Der Prozess des großen Umdenkens wird in allererster Linie damit zu tun haben, dass das radikale Abprüfen jeder wirtschaftlichen, medizinischen, politischen oder industriellen Aktivität im Hinblick auf die Gewinnmaximierung einem philosophischeren Denkansatz wird weichen müssen, der auch den Wert und die Würde des einzelnen Individuums wieder mehr in den Vordergrund stellt. Bedenken Sie, dass in der frühen Zeit der Industrialisierung 12– bis 14-stündige Arbeitstage die Regel waren und sich kein Mensch vorstellen konnte, dass durch die Verbesserung der Technologien und der Nutzbarmachung von Ressourcen eine 38,5-Stunden-Woche in sozialer Absicherung möglich sein würde; und wer hätte sich vor 100 Jahren einen allgemeinen Wohlstand überhaupt vorstellen können, wie er heute in Westeuropa Realität ist?

Die Geschichte lehrt uns, dass es keiner Kultur je gelungen ist, an tradierten Strukturen festzuhalten, auch wenn sie noch so erfolgreich waren und es gerade noch den Anschein hatte, dies müsse sich nie ändern.

Lassen wir also Laokoon hinter uns! Die Vereinigung von Orthopädie und Unfallchirurgie kann wunderbar sein, wie die von Amor und Psyche. Ich habe nicht selten, wenn von der großen Wirbelsäulenchirurgie, der Primärtraumatologie, der Tumorchirurgie oder auch von großer Endoprothesenchirurgie die Rede war, von Helden gesprochen. Diese Ärzte sind Helden des modernen Lebens mit zum Teil unvorstellbaren Spitzenbelastungen. Nicht weniger heldenhaft sind Ärzte und Ärztinnen, die sich am anderen Ende der Skala aufhalten und mit den schicksalsgebeutelten, den Elenden und den Verstoßenen der Gesellschaft, die natürlicherweise auch mehr Schmerzen haben, als Menschen auf der Sonnenseite des Lebens, und ihnen helfen, ihr Leben erträglich zu gestalten.

Wir dürfen uns bewusst sein, dass unser Fach wahrscheinlich den weitesten Bogen spannt, nämlich zwischen dem Frontkampf in der Rettungsmedizin und der Primärtraumatologie an dem einen Ende und der verbalen Krisenintervention im therapeutischen Gespräch und der Therapie chronisch Schmerzkranker am anderen Ende, und das Neugeborene wie Greise einschließt.

Um auf unseren Kongress zurückzukommen: Die richtige ärztliche Entscheidung zwischen den beiden Polen können wir nur fällen, wenn wir die ganze Breite des Feldes kennen und wenn jeder von uns sich immer wieder auf der ganzen Breite auch aufhält. Dies möchte ein Appell sein, dass wir alle die thematische Breite dieses Kongresses auch wahrnehmen und dass jeder von uns sich die Frage stellen darf, ob er sich nicht auch mal auf der Gegenseite seiner angestammten Position aufhalten sollte.

In diesem Sinne eröffne ich diesen Kongress der VSOU 2013 und wünsche Ihnen allen viel Erfolg, neue Erkenntnis und nicht zuletzt auch viel Spaß bei der Arbeit der nächsten 3 Tage. Bringen sie Herz und Geist mit ein, dann kann nichts schief gehen.

Dr. Hermann Locher

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