Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2013
Wir und unser FachFestrede des Präsidenten zum VSOU-Kongress 2013 Baden-Baden
Ich räume freilich ein, dass es für uns Orthopäden und Unfallchirurgen nicht ganz einfach ist, dort zuzuhören, weil wir auch und in erster Linie deshalb Orthopäden geworden sind, weil wir mit Schrauben, Nägeln, Gips, Platten und Endoprothesen umgehen wollen, und weniger mit den Dingen, zu denen wir schon als Studenten ein eher distanziertes Verhältnis hatten. Aber es ist ein Gebot der Stunde, sich den neuen Inhalten in der Schmerztherapie nicht mehr zu verschließen, wenn wir nicht auch den Schmerz, und allen voran den Kreuz- und den Wirbelsäulenschmerz aus der Hand verlieren wollen. Hier wandelt sich unser Berufsbild.
Es wird eine große Bereitschaft verlangt zur psychologisierenden Einfühlung, zur detaillierten Substanzkenntnis im Bereich der Schmerzpharmakologie und dazu eine ausgesprochene Fertigkeit im Umgang mit invasiven Maßnahmen, wie gezielten Injektionen, Denervierungen, Kathetertechniken etc.; und nicht zuletzt eine umfangreiche Ausbildung in Manueller Medizin, in funktionellen Methoden und letztlich auch im psychotherapeutischen Gespräch. Die Entwürfe zur WBO-Novellierung sehen dagegen vor, dass die invasiven Verfahren ganz aus der Orthopädie verschwinden sollen!
Bei allem Respekt vor den Leistungen der Psychologie müssen wir uns fragen, ob wir Heere von psychisch Kranken erzeugen müssen, um des Phänomens Kreuzschmerz Herr zu werden.
Hüten wir uns davor, in Ermangelung von wirklich validen physischen Assessments Patienten zu stigmatisieren. Es wird in den Kreisen derer, die sich heute alle mit Kreuzschmerz beschäftigen, oft zu leichtfertig auf die Expertise des Organfacharztes verzichtet, was in der extremsten Ausprägung bis zur vehementen Verneinung der Existenz eines aktiven Nozigenerators führt. Allen voran durch die Disziplinen, die in der Politik nichtorthopädischer Schmerzgesellschaften tonangebend sind. Dies ist besonders dramatisch für uns, weil wir auch als Operateure notwendigerweise dem Nozigenerator auf der Spur sein müssen.
Den Schmerz als nosologische Einheit rein psychologisch zu behandeln, ist genauso wenig zielführend, wie ihn ausschließlich mechanisch-anatomisch erklären zu wollen. Dass Lebensumstände, psychosoziale Belastung und Kindheitsgeschichte ein schmerzhaftes Krankheitsgeschehen beeinflussen, weiß inzwischen auch der Patient und u.U. möchte er vor allem mit dem Arzt darüber sprechen. Das darf uns trotzdem nicht dazu verleiten, ihn darauf zu fixieren oder gar zu reduzieren, weil unsere Vorstellung zur Erklärung seiner Schmerzen gerade versagt. Nur wenn wir lernen, sensibel mit allen Faktoren umzugehen, können wir unseren Patienten gerecht werden.
Heute hängt der Korb im Sinne des Zugangs zur schmerztherapeutischen Versorgung mit einem vollen Jahr Weiterbildung an einer entsprechenden Einrichtung für uns alle sehr hoch. Besonders tragisch ist, dass nur wenige orthopädische Hauptabteilungen in Deutschland die Zulassung zur Weiterbildung für ein ganzes Jahr, d.h. die volle Weiterbildung, anbieten können und dass sich hier auch keine schnelle Besserung abzeichnet. Gerade in den letzten Tagen höre ich, dass die stationäre Schmerztherapie nur noch dort realisierbar ist, wo schwere Grunderkrankungen eine postinterventionelle Überwachung in einer klinischen Struktur notwendig machen, d.h. die Assistenzärztin und der Assistenzarzt, die sich in der klinischen Ausbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie befinden, haben während dieser Zeit nur an wenigen Stellen und oft nur teilweise die Möglichkeit, die Qualifikation „Spezielle Schmerztherapie“ zu erwerben.
Schmerztherapie wird aber Bestandteil der Approbationsordnung und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die ausbildenden orthopädischen Strukturen an den Universitäten in dieser Ringvorlesung bisher nur sehr schwach vertreten sein werden. Dies ist ein alarmierender Zustand auch deshalb, weil die Mehrzahl der neuropathischen Schmerzfälle direkt mit Unfällen zu tun hat!
Junge Kolleginnen und Kollegen legen naturgemäß am Anfang ihrer Ausbildung ihren Interessenschwerpunkt gerne auf die operative Seite. Ich erhebe aber noch einmal die warnende Hand: Wenn Orthopädie und Unfallchirurgie hier nicht schnell aufwachen, und die Inhalte von Neurophysiologie und Gehirnforschung, von Neuropharmakologie, und Psychotherapie systematisch in die Ausbildung und Weiterbildung holen, sind sie für uns für immer verloren.
Wir müssen (berufs-)
politisch aktiver werden!
Parteiübergreifend zeichnen sich Entwicklungen ab, welche die ärztliche, freiberufliche Patientenversorgung ernsthaft gefährden. Die ruinösen RLVs für die Praxen sind ein deutliches Signal. Zahlreiche bisher exklusiv ärztliche Aufgaben sollen in die Hände nachgeordneter Heilberufe gehen. Wohnortnahe, kleinere Krankenhäuser werden reihenweise geschlossen, sogenannte Doppelstrukturen, einschließlich der „doppelten Facharztschiene“ – welch ein Unwort – sollen abgebaut werden.
Aber warum soll eine der reichsten Zivilisationen der Welt ausgerechnet dort, wo die sensibelsten Prozesse ablaufen, nämlich beim Erhalt und der Wiederherstellung von Gesundheit, auf ärztliche und ausdrücklich betont auf fachärztliche Primärkontakte und wohnortnahe Versorgung verzichten müssen?
Gespart wird von der Politik publikumswirksam am liebsten dort, wo die langfristigen Folgen am leichtesten zu verschleiern sind, nämlich bei der Bildung, bei der Forschung und bei der Gesundheit. Spätestens an dieser Stelle hören wir die Arie mit den Produktionskosten im internationalen Vergleich und mit der Wettbewerbsfähigkeit unserer Produkte auf dem Weltmarkt. Niemand glaubt, dass wir mit einer Jeansfabrik in Bangladesch jemals wieder konkurrenzfähig werden. Nachhaltig global wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben hat viele Komponenten. Eine davon ist eine hervorragende medizinische Versorgung.
Die Einführung des Wettbewerbs in die medizinische Versorgung hat abstruse Blüten getrieben. Sog. Zielvereinbarungen, fragwürdige Indikationen, Personalüberlastung und Qualitätsdefizite sind nur die augenfälligsten. Das heißt natürlich nicht, dass die Ressourcen nicht vernünftig und sparsam bewirtschaftet werden müssen, aber Krankheiten und Unfälle liegen auch nicht im Wettbewerb untereinander, wie sie die Menschen erreichen.