Übersichtsarbeiten - OUP 11/2017
Worauf müssen wir beim Einsatz von Metamizol achten?
Betrachtet man das Risikoprofil der nichtopioiden Analgetika an den Beispielen von Novaminsulfon-ratiopharm, Diclofenac AbZ, Paracetamol-
ratiopharm und Ibuprofen AbZ aus Stufe 1 in den jeweiligen Fachinformationen, so ergibt die Situation wie in Tabelle 1 dargestellt (s. jeweilige Fachinformationen).
Anhand der Auflistung wird deutlich, dass auch andere Wirkstoffe der WHO-Stufe 1 mit teilweise nicht unerheblichen Nebenwirkungen vergesellschaftet sind. Diese beziehen auch Veränderungen des Blutbilds mit ein, wobei die Leukopenie unter Metamizol am häufigsten auftritt. Auf der anderen Seite ist Metamizol nicht mit Nebenwirkungen im Bereich des Verdauungstrakts behaftet. Hier weisen insbesondere Diclofenac und Ibuprofen teilweise schwerwiegende Komplikationen bis hin zu einem Magen-Darm-Durchbruch auf, wobei diese insgesamt häufiger auftreten als Blutbildveränderungen unter Metamizol.
In diesem Gesamtzusammenhang ist anzumerken, dass das Agranulozytoserisiko bei allen oben aufgeführten
Arzneimitteln (Novaminsulfon-ratiopharm, Paracetamol-ratiopharm, Diclofenac-AbZ, Ibuprofen-AbZ) als sehr selten angegeben wird. Insgesamt wird jedoch eine Agranulozytose sehr viel häufiger – wenn auch immer noch selten – durch Metamizol verursacht als durch die anderen Arzneimittel [1, 8, 9, 11, 12, 22]. Deshalb gibt es auch keine Bemühungen, die anderen (nicht Metamizol-haltigen) Arzneimittel aufgrund ihres „Agranulozytoserisikos“ regulatorisch einzuschränken.
Nebenwirkungen von NSAR: Allgemein ist in der „orthopädischen“ Schmerztherapie anerkannt, dass NSAR nicht zur Dauerbehandlung eingesetzt werden sollten, sondern nur befristet („nach Bedarf“) während der akuten Schmerzperioden. Die folgenden Patienten haben ein besonders hohes Risiko für gastrointestinale Nebenwirkungen nach NSAR-Gabe [4, 6, 7, 13, 19, 20, 21, 25]:
Alter über 60 Jahre
Anamnestisch bekannte Ulzera und gastrointestinale Blutungen
Kortikosteroidtherapie
Antikoagulation/Thrombozytenaggregationshemmer
SSRI
schwere systemische Grunderkrankung
Helicobacter pylori-Infektion
Kombination mehrerer NSAR einschl. ASS
hohe Dosierung
lange Therapiedauer
Stress
Alkoholismus
Karow [17] berechnete die wöchentliche Mortalität (Anzahl der Todesfälle) pro 100 Millionen Nutzer bei unterschiedlichen Schmerzmitteln wie folgt:
Aspirin 185:100 Mio.
Paracetamol 230:100 Mio.
Diclofenac 592:100 Mio. und
Metamizol 25:100 Mio.
In Anbetracht dieser Tatsachen kann somit nicht von einer besonderen allgemeinen Gefährlichkeit von Metamizol ausgegangen werden, sondern lediglich von einem besonderen Gefährdungspotenzial bezüglich der Blutbildveränderungen. Hieraus ergibt sich also die Konsequenz, dass Patienten mit den o.g. Kontraindikationen für NSAR Metamizol als Schmerzmedikament erhalten dürfen. Es gilt nur, die Kontraindikation entsprechend zu dokumentieren.
Agranulozytose
Unter akuter Agranulozytose wird ein Abfall der neutrophilen Granulozyten unter 500/µl verstanden, der nicht durch Zytostatika (Tumortherapie), Radiotherapie (Bestrahlung) oder sonstige seltene Ursachen (wie z.B. eine Tumorinfiltration des Knochenmarks oder eine Myelofibrose (Fibrosierung des Knochenmarks)) verursacht wird, bei gleichzeitig normalen Werten von roten Blutkörperchen, Hämoglobin und Blutplättchen [8]. Da die weißen Blutkörperchen für die Infektabwehr zuständig sind, ist die Folge einer Agranulozytose eine erhöhte Infektanfälligkeit, die zum Teil zu schweren Infektionen, Sepsis und damit einhergehenden Komplikationen bis zum Tod führen kann.
Die akute Agranulozytose ist insgesamt sehr selten. Ihr Auftreten wird mit 2–9/1 Million Einwohner und Jahr geschätzt [8]. Allerdings wird die akute Agranulozytose fast ausschließlich durch Medikamente verursacht. Sie gilt deshalb als die vielleicht „typischste“ durch Arzneimittel induzierte Erkrankung. Heimpel [10] gibt an, dass mehr als 90 % der Fälle von akuter Agranulozytose durch Arzneimittel verursacht werden. Andersohn et al. [2] zeigten, dass 97 % der Patienten mit akuter Agranulozytose die Erkrankung arzneimittelbedingt waren.
Medikamente können prinzipiell 2 Typen von Agranulozytose auslösen:
- Typ 1 allergisch bedingt, zeit- und dosisunabhängig, selektive Schädigung der Granulozyten
- Typ 2 zeit- und dosisabhängig, keine selektive Schädigung der Granulozyten mit variablen Blutbildveränderungen.
Eine durch Metamizol ausgelöste Agranulozytose gehört zum Typ 1 [23]. Daraus folgt, dass jede Metamizolgabe unabhängig von der Dosis oder dem Zeitpunkt die Agranulozytose ausgelöst haben kann und eine Zuordnung zu einer bestimmten Gabe nicht möglich ist.
Die Ursachen der Leukopenie/Agranulozytose sind vielfältig:
verminderte Produktion im Knochenmark (aplastische Anämie, akute Leukämien, myelodysplastische Syndrome, u.a. Knochenmarkerkrankungen,
erhöhtes Pooling in der Milz,
vermehrte Zerstörung der zirkulierenden Granulozyten (Medikamente, Infektionen u.a.).
Auch bei den medikamenteninduzierten Leukopenien existiert neben den Chemotherapeutika, bei denen man eine Leukopenie erwartet, eine Vielzahl von Medikamenten, welche die Leukopenie im Nebenwirkungsspektrum aufweisen [27]. Hierzu zählen:
Antibiotika (z.B. Macrolide, ß-Lactame)
Medikamente zur Schilddrüsenregulation (z.B. Carbimazol, Thiamazol)
Analgetika (z.B. Metamizol, ASS)
Herzmedikamente (Antiarrhythmica, ß-Blocker, Digitalis)
Thrombozytenaggregationshemmer (z.B. Dipyridamol)
Kortikosteroide (z.B. Kortison)
Nichtsteroidale Antiphlogistika (z.B. Indomethacin)
Antikonvulsiva (z.B. Carbamazepin) u.v.a.m.
Ursachen einer Agranulozytose können neben den bereits genannten Medikamentennebenwirkungen auch akute oder chronische Infektionskrankheiten wie z.B. Mononukleose oder Hepatitis A sowie hämatologische Erkrankungen (z.B. Leukämie = Blutkrebs) sein.
Therapie der Agranulozytose
Eine kausale Therapie im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Bei ursächlicher Medikamenteneinnahme muss das in Frage kommende Präparat sofort abgesetzt werden. Neben einer breiten Abdeckung durch Antibiotika (je nach Ausprägung einschließlich Virostatika sowie Antimykotika) erfolgt die übrige Therapie symptomorientiert (Pflege der Schleimhäute, Fiebersenkung, Kreislaufstabilisierung, evtl. Beatmung, Kontrolle aller Organfunktionen mit entsprechender Unterstützung bei Bedarf – z.B. Dialyse, Kontrolle des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts ...).
Letalität bei Agranulozytose
Der Verlauf der Erkrankung ist im individuellen Fall nicht konkret vorhersehbar; von eher leichtem Verlauf bis hin zum Tod. Durch Metamizol wird nicht das Knochenmark als Erzeugungsort der Granulozyten geschädigt, sondern es erfolgt eine Vernichtung bereits zirkulierender Blutzellen, d.h. das limitierende Element stellt hier die Immun-Abwehrschwäche des Patienten dar, wobei in der Regel schwere Infekte oder eine Sepsis (wie auch im vorliegenden Fall) todesursächlich sind.