Arzt und Recht - OUP 10/2014
30 Jahre Arbeitsgemeinschaft für ArztRecht – Entwicklungen im Vertragsarztrecht*
Manfred Andreas, Karlsruhe1
Der Berichtszeitraum für 30 Jahre Vertragsarztrecht beginnt mit dem Jahr 1984. Damals galt noch die Reichsversicherungsordnung. Der Verfasser zeigt auf, wie sich das Kassenarztrecht zum heutigen Vertragsarztrecht gewandelt hat. Die Zeitschrift ArztRecht hat die Entwicklung zeitnah begleitet. Die Auswahl der mitgeteilten Änderungen ist naturgemäß subjektiv und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit2. Mitunter ist es schwierig, den Zeitpunkt für den Beginn einer neuen Entwicklung festzulegen. Denn manches war zwar im Gesetz bereits angelegt, wurde aber von der Selbstverwaltung nicht umgesetzt. In solchen Fällen folgte häufig eine konkrete gesetzliche Zwangsregelung, die erst dann zur Umsetzung der betreffenden Maßnahme führte3. In der folgenden Darstellung wird in der Regel auf den Zeitpunkt abgestellt, in dem es zum praktischen Vollzug der jeweiligen Änderung kam.
1. Die Reichsversicherungsordnung (RVO)
Am Beginn des Berichtszeitraums, im Jahr 1984, war das Kassenarztrecht in der Reichsversicherungsordnung geregelt. Die Grundlagen für die Neuordnung nach dem 2. Weltkrieg hatte das Gesetz über Kassenarztrecht vom 17.8.1955 {BGBl. I S. 513} gelegt, indem es die bis dahin in den §§ 368 bis 369 enthaltenen Regelungen durch die neuen Bestimmungen der §§ 368 bis 368q RVO ersetzte. Das Sachleistungs-/Naturalleistungsprinzip, das schon vor der Reichsversicherungsordnung vom 19.7.1911 gegolten hatte, wurde beibehalten.
Es erfolgte eine strenge Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Eine Verzahnung zwischen beiden Bereichen gab es durch das Belegarztsystem und die bedarfsabhängige Beteiligung leitender Krankenhausärzte.
Der Kassenarzt hatte rechtliche Beziehungen nur zum Patienten und zu seiner Kassenärztlichen Vereinigung, nicht jedoch zur jeweiligen Krankenkasse des Patienten (Vierecksprinzip). Dieses heute noch geltende Prinzip ist in der folgenden Skizze dargestellt:
Im Übrigen gab es eine Doppelstruktur für die Behandlung von RVO-Patienten einerseits und Ersatzkassenpatienten andererseits.
2. Gesundheitsreformgesetz und SGB V ab dem 1.1.1989
Die Aufhebung der kassenarztrechtlichen Vorschriften der RVO und die Kodifikation des gesamten Krankenversicherungsrechts im Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB V) erfolgte durch das Gesundheitsreformgesetz vom 20.12.19884 mit Wirkung vom 1.1.1989. Der Übergang von der RVO zum SGB V stellt zwar äußerlich die größte Zäsur in der Rechtsentwicklung des Kassenarztrechts dar, hat aber inhaltlich zunächst nur wenige Änderungen gebracht5. So blieb es beim Sachleistungs-/Naturalleistungsprinzip und den Rechtsbeziehungen im Rahmen des oben erwähnten Vierecksprinzips.
Allerdings wurden die Ersatzkassen in das Vertragssystem einbezogen Wenner, a.a.O., was zu einer Neufassung des Arzt-/Ersatzkassen-Vertrags mit Wirkung vom 1.10.1990 führte6.
Für die leitenden Krankenhausärzte war von Bedeutung, dass die bisher nach § 368a RVO in der Regel unbefristet ausgesprochenen Beteiligungen an der ambulanten kassenärztlichen Versorgung durch eine gemäß § 116 SGB V nur noch befristet erteilte Ermächtigung ersetzt wurde. Dies bewirkte, dass Rechtsbehelfe gegen die nach Fristablauf ausgelaufene Ermächtigung – anders als früher gegen die Änderung einer unbefristet ausgesprochenden Beteiligung – keine aufschiebende Wirkung mehr hatten.
Nach § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V in Verbindung mit § 25 Ärzte-ZV wurde die Zulassung eines Arztes, der das 55. Lebensjahr vollendet hatte – von Ausnahmefällen abgesehen – ausgeschlossen. Diese Regelung, die durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz7 mit Wirkung vom 1.1.2007 wieder aufgehoben wurde, hatte zur Folge, dass angestellte Ärzte, die ihre Tätigkeit im Krankenhaus nach dem 55. Lebensjahr aufgeben mussten, sich nicht mehr niederlassen konnten.
Außerdem regelte § 120 Abs. 1 SGB V, dass der Krankenhausträger die den ermächtigten Krankenhausärzten zustehende Vergütung mit der Kassenärztlichen Vereinigung abrechnete und die Vergütung dann nach Abzug der Kosten an den Krankenhausarzt weiterleitete. Dies galt auch für den Ersatzkassenbereich8.
3. Geltung des SBG V in den neuen Bundesländern
ab dem 1.1.1991
Mit Wirkung vom 1.1.1991 wurden die Regelungen des SGB V auch in den neuen Bundesländern angewendet. Für bestimmte Bereiche gab es Bestandsschutz- und Übergangsregelungen9.
4. Gesundheitsstrukturgesetz ab dem 1.1.1993
Das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21.12.199210 brachte mit Wirkung vom 1.1.1993 wesentliche Änderungen des bisher geltenden Kassenarztrechts.
a) Einführung der Begriffe „Vertragsarzt“ und „vertragsärztliche Versorgung“
Der Gesetzgeber übernahm die Bezeichnung „Vertragsarzt“ von den Ersatzkassen und verwendete ihn nun für alle Ärzte, die nach dem SGB V bei sozialversicherten Patienten in Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung tätig wurden. In Wirklichkeit änderten sich die Rechtsbeziehungen der an der vertragsärztlichen Versorgung tätigen Ärzte jedoch nicht. Es blieb bei dem Vierecksverhältnis, wie es schon seit dem Gesetz über Kassenarztrecht von 1955 gegolten hatte. Die Ärzte schlossen keineswegs Verträge mit den Kassen oder ihrer Kassenärztlichen Vereinigung, sondern wurden wie bisher vom Zulassungsausschuss per Verwaltungsakt zugelassen oder ermächtigt. Die neue Terminologie wurde im Übrigen nicht konsequent eingeführt. So lautet die Überschrift des § 73 SGB V, der die vertragsärztliche Versorgung beschreibt, bis heute „Kassenärztliche Versorgung“. In §§ 77 ff. SGB V ist weiterhin von Kassenärztlichen Vereinigungen die Rede.
b) Vor- und nachstationäre Behandlung sowie ambulantes Operieren im Krankenhaus
§ 115a SGB V regelte neu, dass ein Krankenhaus bei der Ausstellung eines Einweisungsscheins durch den niedergelassenen Arzt drei Behandlungstage innerhalb von fünf Tagen vor Beginn der stationären Behandlung (vorstationär) und sieben Behandlungstage innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung der Krankenhausbehandlung (nachstationär) tätig werden durfte. Die Vergütung sollte zwischen Krankenhausgesellschaften und Kassenverbänden vereinbart werden.
Außerdem wurden die Krankenhäuser gemäß § 115b SGB V kraft Gesetzes zum ambulanten Operieren zugelassen. Die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Krankenhausverbände und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen sollten einen Katalog ambulant durchführbarer Operationen sowie die Vergütungen vereinbaren.