Arzt und Recht - OUP 11/2013

Altersversorgung – Stolperfallen umgehen

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Fachanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe

Einleitung

Durch die gesetzliche Pflicht zur Rentenversicherung gemäß § 1 SGB VI soll die Altersversorgung für Beschäftigte sichergestellt werden. Ärztinnen und Ärzte sind wie andere in der Regel freiberufliche Berufsgruppen jedoch in der besonderen Situation, sich gemäß § 6 SGB VI von dieser Versicherungspflicht befreien lassen zu können, wenn sie wegen einer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit aufgrund einer gesetzlichen Pflicht Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung und einer berufsständischen Kammer sind. Gemäß § 6 Abs. 2 SGB VI erfolgt diese Befreiung auf Antrag beim Träger der Rentenversicherung (Deutsche Rentenversicherung Bund). Gemäß § 6 Abs. 4 SGB VI wirkt die Befreiung von Anfang an, wenn sie innerhalb der ersten 3 Monate, in denen die Befreiungsvoraussetzungen vorliegen, beantragt wird. Wird der Antrag später gestellt, wirkt die Befreiung vom Eingang des Antrages an. Gemäß § 6 Abs. 5 SGB VI ist die Befreiung auf die jeweilige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit beschränkt.

Aus der Befreiung angestellter Ärztinnen und Ärzte ergibt sich gemäß § 172 a SGB VI, dass der Arbeitgeber die Hälfte des Beitrags zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu tragen hat. Diese Pflicht besteht jedoch maximal bis zur Höhe des Betrags, den er ohne die Befreiung an den Träger der Rentenversicherung zu zahlen hätte.

Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 a) EStG sind Beiträge zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen für angestellte Ärztinnen und Ärzte Sonderausgaben, die gemäß § 2 Abs. 4 EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen sind, sodass sich das zu versteuernde Einkommen reduziert. Diese Sonderausgaben sind im Rahmen der Steuererklärungspflicht gemäß §§ 149, 150 AO gegenüber dem Finanzamt wahrheitsgemäß zu deklarieren. Für den Arbeitgeber wirken sich die von ihm zu tragenden Beitragsanteile ebenfalls gewinn- und damit steuermindernd aus.

Um nicht doppelt Beiträge zahlen zu müssen (gesetzlicher Rentenversicherungsträger und berufsständische Versorgungseinrichtung), ist auf den (Fort-)Bestand der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht besonderes Augenmerk zu haben. Des Weiteren ist bei der nicht unerheblichen Höhe der Beiträge auch auf eine korrekte steuerliche Behandlung zu achten, da andernfalls unter anderem nicht unerhebliche Steuernachzahlungen drohen. Der Veranschaulichung dienen die folgenden 2 Gerichtsentscheidungen, die jüngst zur Altersversorgung von Ärzten ergangen sind.

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2013, Az. L 1 KR 204/10: Rentenversicherungspflicht wider Willen

Zum Sachverhalt

Die Ärztin war zunächst Pflichtmitglied in der Kammer Rheinland-Pfalz und deren Versorgungsanstalt. Sie wurde mit Bescheid von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung befreit. Als Beginn der Befreiung wurde der Beginn ihres Beschäftigungsverhältnisses bzw. „der Versicherungspflicht“ und der Beginn der Mitgliedschaft in der genannten Versorgungseinrichtung festgesetzt. In dem Bescheid heißt es weiter, dass die Befreiung für die Dauer der Pflichtmitgliedschaft und einer daran anschließenden freiwilligen Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung gelte, soweit Versorgungsabgaben in gleicher Höhe geleistet werden, wie ohne die Befreiung Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten zu entrichten wären. Würden mehrere Beschäftigungen ausgeübt, so gelte die Befreiung nur für die Beschäftigung, auf der die Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung beruht und nach deren Arbeitsentgelt die Versorgungsabgaben zu berechnen sind. Bei Wegfall der Voraussetzungen sei die Befreiung nach § 48 Abs. 1 SGB X zu widerrufen.

Die Ärztin praktizierte später zunächst in Nordrhein-Westfalen und war Pflichtmitglied der Kammer Westfalen-Lippe und damit gleichzeitig Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Kammer Westfalen-Lippe. Danach betätigte sie sich als angestellte Unternehmensberaterin. Eine ärztliche Tätigkeit übte sie nicht mehr aus.

Bei der Klägerin, für die die Ärztin als Unternehmensberaterin tätig war, wurde im Rahmen eines Prüfverfahrens nach § 28p Abs. 1 SGB IV am 12.09.2003 eine Betriebsprüfung für den Prüfzeitraum vom 01.01.1999–31.12.2002 durchgeführt. Für diese Jahre 1999–2002 wurden für sie Pflichtbeiträge beim Versorgungswerk entrichtet. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden hingegen nicht abgeführt. Mit Bescheid vom 27.07.2004 wurde die Klägerin zur Zahlung von 54.306,17 € aufgefordert. Die Ärztin sei nicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit gewesen, da die Befreiung als solche nicht personen- sondern tätigkeitsbezogen sei. Berufsfremde Beschäftigungen seien nicht erfasst. Die Klägerin erhob erfolglos Widerspruch und Klage. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 29.04.2010 die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin.

Aus den Gründen

Die Berufung hatte keinen Erfolg:

Ermächtigungsgrundlage ist § 28 p Abs. 1 Satz 1 und 5 SGB IV. Danach prüfen die Träger der Rentenversicherung mindestens alle 4 Jahre bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach diesem Gesetzbuch, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Sie setzen insoweit auch Beiträge durch Verwaltungsakt fest. Bemessungsgrundlage für die Höhe der Beiträge abhängig Beschäftigter ist in der Renten- sowie Arbeitslosenversicherung jeweils das Arbeitsentgelt des Beschäftigten, § 162 Nr. 1 SGB VI, § 342 SGB III.

Die Ärztin sei jedenfalls in ihrer Tätigkeit als Unternehmensberaterin bei der Klägerin nicht aufgrund des Befreiungsbescheides von der Versicherungspflicht der Rentenversicherung befreit gewesen.

Rechtsgrundlage dieser Befreiung war § 7 Abs. 2 AVG. Auf Antrag wurden Personen von der Versicherungspflicht befreit, die aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglieder einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe waren (BSG, Urteil vom 07.12.2000, Az. B 12 KR 11/00R). Dasselbe ergebe sich für die Zeit nach der Aufhebung des § 7 Abs. 2 AVG durch Art. 83 Nr. 1 und Art 85 Nr. 1 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18.12.1989 (BGBl I 2261) zum 01.01.1992 und dem gleichzeitigen Inkrafttreten des SGB VI aus § 6 Abs. 5 Satz 1 SGB VI und § 231 Satz 1 SGB VI (seit dem 01.01.1996: § 231 Abs. 1 Satz 1 SGB VI; vgl. Art. 1 Nr. 37 lit. a des Gesetzes zur Änderung des SGB VI und anderer Gesetze vom 15.12.1995 (BGBl I 1824); im Folgenden: § 231 Abs. 1 Satz 1 SGB VI).

Die Befreiung konnte sich jedoch jedenfalls nur auf die Beschäftigung als Ärztin erstrecken. Die Tätigkeit als Unternehmensberaterin war von ihr nicht erfasst. Für Befreiungen, die nach den genannten Vorschriften ausgesprochen worden sind, schreibt § 6 Abs. 5 Satz 1 SGB VI ausdrücklich vor, dass die Befreiung auf die jeweilige Beschäftigung oder Tätigkeit beschränkt ist. Die Beschränkung der Befreiung auf die jeweilige Beschäftigung oder Tätigkeit bedeutet, dass die befreiten Personen in Beschäftigungen, auf die sich die Befreiung nicht erstreckt, nach Maßgabe der Vorschriften des SGB VI, hier des § 1 Satz 1 Nr. 1, versicherungspflichtig sind. Die Versicherungspflicht in diesen Beschäftigungen tritt dabei kraft Gesetzes ein. Der Befreiungsbescheid braucht insoweit nicht aufgehoben zu werden (so weitgehend wörtlich BSG, Urteil vom 07.12.2000 unter Bezugnahme auf BSG, 5. Senat, Urteil vom 22.10.1998, Az. B 5/4 RA 80/97 R).

Gegen eine Geltungsfortwirkung spreche hier zudem, dass der Befreiungsbescheid nach seinem Inhalt nur für die Mitgliedschaft im „genannten“ Versorgungswerk gelten sollte. Die Mitgliedschaft bei der Versorgungsanstalt bei der genannten Kammer Rheinland-Pfalz sei aber bereits seit dem Umzug der Ärztin nach Nordrhein-Westfalen beendet gewesen. Der für Beitragsstreitigkeiten zuständige 12. Senat des BSG habe seine angeführte Rechtsprechung mit Urteil vom 31.10.2012 (B 12 R 5/10 R) bekräftigt. Das Gesetz gewähre keinen umfassenden, sondern nur einen auf die konkrete Erwerbstätigkeit bezogenen Bestandsschutz. Bereits ein Arbeitgeberwechsel schließe Bestandsschutz aus. Das BSG habe zudem auf den Hinweis auf die Pflicht, Änderungen mitzuteilen, verwiesen.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.09.2013, Az. X B 33/13:

Unklare Bescheinigung eines Versorgungswerks – Steuerfalle

Zum Sachverhalt

Der Antragsteller erzielte als angestellter Arzt Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit, ferner in geringem Umfang Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit.

Er war Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerks. Zu den Pflichtbeiträgen, die der Höhe nach denen zur gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen, zahlt der Arbeitgeber aufgrund gesetzlicher Regelungen (in den Streitjahren § 172 Abs. 2 des SGB VI; seit 01.01.2012 § 172a SGB VI) einen hälftigen Zuschuss.

In den vom Arbeitgeber des Arztes erstellten Lohnsteuerbescheinigungen für die Streitjahre waren die Beiträge zur Altersvorsorge – gesondert nach Arbeitnehmeranteil und Arbeitgeberzuschuss – angegeben. Dass es sich um Beiträge an ein Versorgungswerk handelte, war nach dem unbestrittenen Vorbringen des Finanzamtes aus den Lohnsteuerbescheinigungen nicht erkennbar.

Zusätzlich stellte das Versorgungswerk jeweils einen „Jahreskontoausweis“ aus. Dieser lautete für das Streitjahr 2007: „wir dürfen Ihnen mit Kontostand vom 31.12.2007 die auf Ihrem Konto im Jahr 2007 bei ... <Versorgungswerk> eingegangene Beitragssumme mitteilen: 10.865,52 €“. Hinweise darauf, dass in diesem Pflichtbeitrag auch der hälftige Arbeitgeberzuschuss enthalten war, waren in der Bescheinigung nicht enthalten. Nach dem Vorbringen des Arztes hat das Versorgungswerk für das Jahr 2006 einen vergleichbaren Jahreskontoausweis ausgestellt. Da der Arzt über den Pflichtbeitrag hinaus keine freiwilligen Mehrzahlungen an das Versorgungswerk geleistet hatte, waren die im Jahreskontoausweis bescheinigten Beiträge mit der Summe der in den Lohnsteuerbescheinigungen aufgeführten Beiträge identisch.

Der Arzt und seine Ehefrau reichten ihre Einkommensteuererklärungen für 2006 und 2007, die durch eine Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vorbereitet worden waren, jeweils im Folgejahr beim Finanzamt ein. Sie gaben die aus den Lohnsteuerbescheinigungen ersichtlichen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zum Versorgungswerk an. Zusätzlich trugen sie die in den Jahreskontoausweisen des Versorgungswerks genannten Beträge ein. Ihrer Einkommensteuererklärung 2007 fügten sie den entsprechenden Jahreskontoausweis bei; ob dies auch für das Jahr 2006 geschehen ist, ist zwischen den Beteiligten streitig.

Die Vordrucke zur Einkommensteuererklärung enthalten die folgenden Angaben:

 

Die Einkommensteuererklärung der Antragsteller für 2006 war im Finanzamt nur zur überschlägigen Prüfung vorgesehen. Der zuständige Bearbeiter vermerkte in der Prüfungsdokumentation durch Ankreuzen der entsprechenden Formularfelder, die Erklärung sei vollständig, schlüssig und glaubhaft. Demgegenüber war die Steuererklärung für 2007 zur Intensivprüfung vorgesehen. Im elektronisch unterstützten Veranlagungsverfahren wurden dem Bearbeiter zahlreiche maschinelle Prüfhinweise vorgegeben. Einer dieser Hinweise lautete: „Schwerpunktprüfung: Es liegen Eintragungen zu Zeile 63 des Mantelbogens vor, die zur Anwendung des neuen Rechts führen. Bitte prüfen.“ Der Sachbearbeiter richtete mit Schreiben vom 01.08.2008 und 11.08.2008 an die Antragsteller zahlreiche Rückfragen zur Steuererklärung, die allerdings nicht die hier streitigen Beiträge zur Altersversorgung betrafen. Im weiteren Verlauf der Bearbeitung versah er die von den Antragstellern in Zeile 63 eingetragene Zahl mit einem Haken und bescheinigte in der Prüfungsdokumentation, er habe die Intensivprüfung vorgenommen, insbesondere bei den Einkünften aus Kapitalvermögen, den freiberuflichen Einkünften und den Steuerberatungskosten.

Im Ergebnis veranlagte das Finanzamt die Antragsteller hinsichtlich der Altersvorsorgeaufwendungen in den nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen ursprünglichen Bescheiden für 2006 und 2007 erklärungsgemäß. Dies führte dazu, dass der Gesamtbeitrag des Antragstellers zum Versorgungswerk doppelt berücksichtigt wurde.

In der Folgezeit entwickelte die für die Risikoprüfung zuständige Mittelbehörde ein Prüfungsraster, mit dem Fälle, in denen es möglicherweise zu einem doppelten Ansatz von Altersvorsorgeaufwendungen gekommen war, maschinell erkannt werden konnten.

Nach entsprechender Ankündigung erließ das Finanzamt am 23.02.2012 die im Hauptsacheverfahren angefochtenen geänderten Einkommensteuerbescheide für 2006 und 2007, die es verfahrensrechtlich auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gestützt hat. Darin wurden – materiell-rechtlich zutreffend – nur noch entsprechend geringe Altersvorsorgeaufwendungen angesetzt.

Der Einspruch des Arztes und seiner Ehefrau gegen die geänderten Bescheide blieb ebenso wie der beim Finanzamt gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ohne Erfolg.

Mit dem im vorliegenden Beschwerdeverfahren angefochtenen Beschluss lehnte das Finanzgericht ebenfalls den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Es sei nicht ernstlich zweifelhaft, dass das Finanzamt die Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO habe ändern dürfen. Maßgebende Tatsache sei, dass den Antragstellern Altersvorsorgeaufwendungen nur in Höhe von etwa der Hälfte der insgesamt erklärten Beträge entstanden seien. Diese Tatsache sei dem Finanzamt erst nach Durchführung der ursprünglichen Veranlagungen bekannt geworden, da aus dem Jahreskontoausweis des Versorgungswerks nur hervorgehe, in welcher Höhe dort Beiträge eingegangen seien, nicht aber, dass darin die in der Lohnsteuerbescheinigung angegebenen Beträge enthalten seien.

Aus den Gründen

Der Bundesfinanzhof hat keine ernstlichen Zweifel daran gesehen, dass der Ansatz geringerer Altersvorsorgeaufwendungen trotz Unklarheit der Jahreskontoausweise des Versorgungswerks rechtmäßig war:

Vor dem steuergesetzlichen Hintergrund, dass nur tatsächlich gezahlte Altersvorsorgeaufwendungen den Tatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes erfüllen, sei als „Tatsache“ der Umstand anzusehen, dass der Arzt in den Streitjahren lediglich Altersvorsorgeaufwendungen (einschließlich der Zuschüsse des Arbeitgebers) in Höhe von 10.296 € (2006) bzw. 10.865 € (2007) geleistet hatte, nicht aber die wesentlich höheren in den Steuererklärungen insgesamt als Altersvorsorgeaufwendungen angegebenen Beträge. Diese Tatsache sei dem Finanzamt nachträglich bekannt geworden.

Der Umstand, dass dem Bearbeiter bei einer sorgfältigen Analyse der Steuererklärungen Zweifel an der Richtigkeit der dort gemachten Angaben hätten kommen können bzw. müssen, ändere nichts daran, dass ihm die maßgebende Tatsache – objektiv – nachträglich bekannt geworden sei:

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Änderung eines Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trotz Vorliegens aller Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm in Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem Finanzamt die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, treffe in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass die Berufung des Finanzamtes auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht als treuwidrig anzusehen ist (BFH-Entscheidungen vom 28.06.2006 Az. XI R 58/05, und vom 06.02.2013 Az. X B 164/12). Demgegenüber scheidet in Fällen beiderseitiger Pflichtverletzungen eine Änderungsmöglichkeit aus, wenn der Verstoß des Finanzamtes deutlich überwiegt (BFH-Urteil vom 20.12.1988, Az. VIII R 121/83).

Vorliegend habe das Finanzamt bei Bearbeitung der Steuererklärungen seine Ermittlungspflichten verletzt. Sowohl der Umstand, dass Ärzte sich in vielen – wenngleich nicht in allen – Fällen von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreien lassen, als auch die – allerdings nur durch Vornahme einer Rechenoperation erkennbare – betragsmäßige Übereinstimmung der Summe der in den Zeilen 61 und 65 eingetragenen Beträge mit dem in Zeile 63 eingetragenen Betrag hätten Anlass zu einer entsprechenden Nachfrage geben müssen. Die zahlreichen anderweitigen Rückfragen des Sachbearbeiters zu der – durchaus umfangreichen – Steuererklärung 2007 zeigten, dass der Bearbeiter die ihm vorgegebene Intensivprüfung vorgenommen habe und ihm im Rahmen dieser Intensivprüfung zahlreiche andere Unstimmigkeiten aufgefallen seien.

Jedoch hätten auch der Arzt und seine Ehefrau ihre Mitwirkungspflichten verletzt:

Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO seien Angaben in Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Daran fehlte es, da der Arzt seine tatsächlich nur einmal geleisteten Beiträge zum Versorgungswerk doppelt in den Steuererklärungen angegeben hatte. Die in der doppelten Eintragung derselben Aufwendungen liegende Pflichtverletzung entfalle ersichtlich auch nicht deshalb, weil den Steuererklärungen die Jahreskontoausweise des Versorgungswerks beigefügt waren.

Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Verletzung der Ermittlungspflichten auf Seiten des Finanzamtes jedenfalls nicht schwerer wiegt als die Verletzung der Steuererklärungspflichten des Arztes und seiner Ehefrau, sodass die Grundsätze von Treu und Glauben der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegenstehen:

Maßgebend hierfür sei zum einen, dass allein der Arzt und seine Ehefrau – jedenfalls auf einer abstrakten Ebene – über die volle Kenntnis des Sachverhalts verfügten. Sie wussten sowohl, dass der Antragsteller ausschließlich Pflichtbeiträge zum Versorgungswerk, nicht aber Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung leistete, und dass die Eintragungen in den Lohnsteuerbescheinigungen sich auf die Beiträge zum Versorgungswerk bezogen. Ferner wussten sie, dass die in den Jahreskontoausweisen des Versorgungswerks bescheinigten Beträge mit den aus den Lohnsteuerbescheinigungen ersichtlichen Beträgen identisch sein mussten, weil der Antragsteller keine über die Pflichtbeiträge hinausgehenden Einzahlungen geleistet hatte.

Der beim Finanzamt zuständige Bearbeiter der Steuererklärung hatte von diesen Umständen des Sachverhalts hingegen keine positive Kenntnis. Ihm sei nur anzulasten, dass er sich Kenntnis hätte verschaffen können, wenn er den aufgezeigten Ermittlungsansätzen nachgegangen wäre. Hinzu komme, dass die betragsmäßige Übereinstimmung der Eintragungen in den Zeilen 61 und 65 einerseits und in der Zeile 63 andererseits vom Sachbearbeiter nur durch Addition zweier vierstelliger Zahlen erkannt werden können, was nicht jedem auf den ersten Blick möglich sei.

Zwar habe der Sachbearbeiter für das Jahr 2007 einen Prüfhinweis zu Zeile 63 der Steuererklärung zu bearbeiten gehabt. Der Text des Prüfhinweises sei aber nicht auf die Vermeidung einer doppelten Berücksichtigung von Beiträgen an das Versorgungswerk gerichtet gewesen, sondern habe in Zusammenhang mit Beiträgen zu Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes gestanden und sei daher für die Steuererklärung der Antragsteller nicht einschlägig gewesen. Zudem seien gerade die Eintragungen der Antragsteller für das Jahr 2007 durchaus plausibel, weil in Zeile 63 des Erklärungsvordrucks ausdrücklich auch „Beiträge zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen“ zu erfassen waren und sowohl für die Eintragungen in den Zeilen 61 und 65 (Lohnsteuerbescheinigung) als auch für die Eintragung in Zeile 63 (Jahreskontoausweis) entsprechende Belege vorlagen.

Die Antragsteller haben im Verlaufe des Verfahrens mehrfach vorgetragen, sie hätten auf die unklaren Jahreskontoausweise des Versorgungswerks ebenso vertrauen dürfen wie das Finanzamt. Wenn danach aber beide Seiten gleichermaßen in die Irre geleitet worden sind und jedenfalls keine überwiegende Pflichtverletzung des Finanzamtes erkennbar sei, liege kein Ausnahmefall vor, in dem trotz Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO die Anwendung dieser Vorschrift nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen ist.

Fazit

Diese Urteile zeigen, dass es mit dem einmaligen Antrag einer Ärztin/eines Arztes auf Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht nicht getan ist. Vielmehr muss bei jedem Tätigkeitswechsel (Arbeitgeberwechsel, Ortswechsel) geprüft werden, ob ein neuer Antrag erforderlich ist. Im Zweifel sollte der Antrag rechtzeitig innerhalb der ersten 3 Monate der neuen Tätigkeit gestellt werden, damit er auf den Beginn der neuen Tätigkeit zurückwirken kann.

Um an die Versorgungsbeiträge anknüpfende unnötige Auseinandersetzungen mit dem Finanzamt und gegebenenfalls nicht unerhebliche Steuernachzahlungen zu vermeiden, sollte darauf geachtet werden, dass bei der Steuererklärung gegenüber dem Finanzamt korrekt zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur Altersvorsorge bzw. zu den Beiträgen für die berufsständische Versorgungseinrichtung differenziert wird, sodass weder beim Arbeitgeber, noch beim Arbeitnehmer der volle Beitrag angegeben wird.

Da sich die Entscheidungen konsequent aus den gesetzlichen Vorgaben begründen (lassen), stellen sie sachdienliche Hinweise dar, die befolgt werden sollten. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass bei Verstößen Geldbußen beispielsweise wegen Verstößen gegen Meldepflichten (unter anderem gemäß § 320 SGB VI) oder leichtfertiger Steuerkürzung (§ 378 Abs. 1 Satz 1 AO) drohen – von den Belastungen durch Doppel- oder Nachzahlungen ganz zu schweigen.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

Fiduciastraße 2

76227 Karlsruhe

kanzlei@arztrecht.org

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