Übersichtsarbeiten - OUP 03/2020
Der patellofemorale SchmerzUrsachen und Diagnostik
Auch ein Einfluss des Tractus iliotibialis auf das Patellatracking ist in der Literatur beschrieben [55]. Bei Patienten mit PFP kann ein kontrakter Tractus iliotibialis beobachtet werden. Der Tractus iliotibialis steht über seine Querverbindungen zum lateralen Retinakulum in direktem Kontakt mit der Patella und kann damit ein Patellamaltracking bedingen. Ob ein kontrakter Tractus iliotibialis Ursache oder Konsequenz eines erhöhten Patella-Tilts ist, bleibt aber unklar [27, 41].
Weiterhin wird das Patella-Alignment maßgeblich von der Trochleakonfiguration und der Patellahöhe beeinflusst [41]. Der klinische Test des J-Signs demonstriert hierbei oftmals das veränderte Patellatracking. Van Haver et al. konnten zeigen, dass es durch eine schwere Trochleadysplasie (Typ B/D nach Dejour) zu einer verminderten retropatellaren Kontaktfläche und zu einem vermehrten retropatellaren Anpressdruck kommt [53]. Die Auswirkung der Patella alta auf das Patellatracking konnten von Ward et al. in einer kernspintomographischen Untersuchung gezeigt werden. Sie demonstrierten, dass Patienten mit einer Patella alta eine geringere patellotrochleare Kontaktfläche in verschiedenen Kniegelenksbeugegraden aufwiesen [54].
Aber nicht nur eine Kontaktflächenverringerung im Patellofemoralgelenk mit konsekutivem Patella-Malalignment kann zu einer Erhöhung des retropatellaren Anpressdrucks führen, sondern auch verschiedene funktionelle Pathologien können einen direkten Einfluss auf den retropatellaren Anpressdruck haben. In verschiedenen Studien konnten bei Patienten mit PFP veränderte Hüft-, Knie- und Sprunggelenkskinematiken und -statiken beobachtet werden.
Patienten mit einem patellofemoralen Schmerz zeigen im Gangbild geringere Flexionsgrade im Kniegelenk [40, 49]. Möglicherweise handelt es sich hierbei aber um einen Kompensationsmechanismus zur Reduktion des Anpressdrucks [49]. Die biomechanische Untersuchung von Huberti et al. deutete darauf hin, dass das höhergradige Genu valgum zu einer Mehrbelastung im PFJ führt, ohne die patellotrochleäre Kontaktfläche zu verringern [26]. Auch eine dynamische Valgusanomalie bei fehlender muskulärer Stabilisationsfähigkeit wirkt sich auf den patellären Anpressdruck aus und kann vor allem im Gangbild von weiblichen Patienten beobachtet werden [19, 39, 43]. Das dynamische Valgusversagen führt zu einer Lateralisation der Patella [35] und kann in der klinischen Untersuchung zum Beispiel durch einbeinige Kniebeugen visualisiert werden [10]. Gleichzeitig ist hierbei auf die Stellung des Beckens bzw. auf eine Insuffizienz der Glutealmuskulatur (Kippung des Beckens zur Spielbeinseite) zu achten. Auch eine funktionell bedingt erhöhte femorotibiale Rotation mit verstärkter femoraler Innenrotation beim Treppensteigen ist bei Patienten mit PFP zu beobachten [47].
Ein erhöhter Tonus der Quadriceps- und Harmstringmuskulatur beeinflusst den patellaren Anpressdruck. Piva et al. zeigten passend dazu, dass Patienten mit PFP eine signifikant verminderte Dehnbarkeit unter anderem dieser beiden Muskelgruppen im Vergleich zu einem gesunden Kontrollkollektiv aufwiesen [38].
Aber nicht nur knieumgreifende Pathologien sind mit PFP assoziiert, sondern auch Insuffizienzen im Bereich der Glutealmuskulatur zeigen sich häufig in diesem Patientenkollektiv. Zwei systematische Übersichtsarbeiten konnten zeigen, dass weibliche Patienten mit PFP eine verringerte Hüftabduktions-, Hüftextensions- und Hüftaußenrotationskraft haben [42, 52]. Für männliche Patienten mit PFP existiert in der aktuell vorhandenen Literatur hierzu keine Evidenz. Interessanterweise konnten Herbst et al. in einer prospektiven Studie bei 255 weiblichen Basketballerinnen beobachten, dass Sportlerinnen mit erhöhter Abduktionskraft im Hüftgelenk vermehrt einen patellofemoralen Schmerz im Lauf der Basketballsaison entwickelten. Die Autoren schlussfolgern, dass es sich bei der, in vielen anderen Studien häufig beschriebenen, verminderten Hüftgelenksabduktionskraft möglicherweise nicht um die Ursache, sondern die Folge des PFP handelt [24].
Kleine Fallserien konnten darüber hinaus auch auf einen Zusammenhang von knöchernen Anomalien des Hüftgelenks und dem PFP hinweisen. Hierzu zählen das vermehrte Auftreten von Coxa valga bei PFP-Patienten und eine Assoziation des femoro-azetabulären Impingements mit dem patellofemoralen Schmerz [45, 50].
In der Literatur gibt es weiterhin viele Untersuchungen, die eine positive Assoziation von Fußpathologien mit der Entwicklung eines patellofemoralen Schmerzes zeigen. Barton et al. demonstrierten, dass bei Patienten mit PFP häufiger ein verstärkter Rückfußvalgus beobachtet werden kann [2]. Auch ein Tiefertreten des Os naviculare (navicular drop) kann über eine vermehrte Innenrotation der Tibia mit dem patellofemoralen Schmerz assoziiert sein [1]. Diese Erkenntnisse sind aber nicht einheitlich in der Literatur vertreten und werden durchaus kontrovers bewertet [15].
Diagnostisches Vorgehen
Neben der Anamnese stellt die körperliche Untersuchung einen wichtigen Grundpfeiler im diagnostischen Vorgehen bei Patienten mit einem patellofemoralen Schmerz dar. Im Rahmen der Anamnese ist eine gezielte Befragung zunächst zur Differenzierung einer Instabilitäts- von einer Schmerzproblematik notwendig [18]. Auch der patientenindividuelle sportliche und berufliche Anspruch sollten anamnestisch abgeklärt werden. Hierbei können klinische Scores wie der Kujala-Score und das BANFF Patella Instability Instrument 2.0 (BPII 2.0) helfen [3, 11].
Im Zuge der körperlichen Untersuchung ist zunächst eine genaue Beurteilung des Gangbildes zu empfehlen. Hierbei ist vor allem auf die Stellung der Patella und der Füße zu achten. Danach kann die Beinachse sowohl statisch beim stehenden Patienten, als auch dynamisch bei beid- und einbeinigen Kniebeugen beurteilt werden. Auch Aussagen über eine möglicherweise vorliegende Abduktionsschwäche im Hüftgelenk können damit getätigt werden. Loudon et al. haben in ihrer Studie zeigen können, dass das Durchführen eines Ausfallschrittes, die einseitige Kniebeuge, das Herabsteigen von einer Stufe sowie die einbeinige Kniebeuge signifikant mit dem Schmerz bei Patienten mit PFP korrelieren [34]. Beim stehenden und gehenden Patienten kann weiterhin die Beurteilung der oben beschriebenen Fußanomalien erfolgen. Sind die Füße parallel und nach vorne zeigend ausgerichtet, kann nach dem Phänomen der squinting (schielenden) Patella geschaut werden. Auch eine Beurteilung des Q-Winkels ist möglich, wobei dessen Bedeutung für den patellofemoralen Schmerz unklar bleibt [23, 31]. Im Anschluss daran bietet es sich an, die Untersuchung am sitzenden Patienten mit 90°-flektiertem Kniegelenk und hängendem Unterschenkeln fortzusetzen. Hierbei kann eine Aussage über die Unterschenkelaußentorsion sowie das Patellatracking im Kniegelenk durch die Testung des J-Signs erfolgen.